16. Kapitel. (226-273.)

[266] Tiefgreifende politische Veränderungen während des ersten Amorageschlechts. Sieg der Neuperser, Chebrin (Gueber), über die Parther. Fanatismus des Sassaniden Ardaschir. Stellung der Juden unter der neuen Dynastie. Anarchie in Rom. Die Kaiserin Zenobia und die Juden. Zerstörung Nahardeas durch Papa bar Nazar.


In Europa und Asien, im römischen und parthischen Reiche traten im dritten Jahrhundert zu gleicher Zeit folgenschwere politische Katastrophen ein, welche der Geschichte eine andere Physiognomie gegeben, die Zustände dieser zwei geschichtlichen Erdteile mit ihren Anhängseln verändert haben, und die jüdische Geschichte konnte von diesen Vorgängen nicht unberührt bleiben. Während der Regierung des edlen Alexander Severus wurde die vierhundertjährige Dynastie der Parther, der Abkömmlinge von Arsaces, gestürzt; ein neuer kräftiger Königsstamm entriß ihr das Zepter und erzeugte durch diesen Thronwechsel innere und äußere Umwälzungen. Ardaschir (oder Artachschster, wie er in der eigenen Sprache hieß), ein Sprößling aus altpersischem (arischem) Geschlechte, war der Urheber dieser Veränderung. Vereint mit den nationalge bliebenen Persern, welche die Mischlingsdynastie der Arsaciden wegen ihrer halbgriechischen Abkunft, ihrer Hinneigung zu griechischer Religionsanschauung, ihrer Verachtung der nationalen Zendreligion und endlich ihrer Ohnmacht gegen die immer weiter gehende Eroberung des Römerreichs haßten, verschwor sich Ardaschir gegen den letzten Arsaciden Artaban, den Verehrer Rabs, schlug ihn in einem entscheidenden Treffen und gründete das neupersische Königsgeschlecht der Sassaniden. Der herrschend gewordene Volksstamm führte in der Geschichte den Namen Neuperser, in den jüdischen Quellen Chebrin (Chebre), von welchen ein verkümmerter Rest noch jetzt Gueber heißt. Die Folgen dieser Staatsumwälzung machten sich nach der religiösen Seite nicht minder fühlbar, als nach der politischen. An der Stelle der Gleichgiltigkeit gegen den uralten Feuerkultus[266] zeigte der Sieger Ardaschir schwärmerischen Eifer für denselben. Stolz nannte er sich: »Hormuzdverehrer, göttlicher Ardaschir König der Könige von Iran, von himmlischem Geschlechte entsprossen«.1 Zoroasters Religionslehre von dem Doppelprinzipe des Lichtes und der Finsternis (Ormuzd und Ahriman) wurde überall eingeschärft; die Magier, die Priesterkaste dieses Kultus, erhielten wieder ihr Ansehen, ihren Einfluß, ihre Macht; gegen die Griechlinge wurde mit Feuer und Schwert gewütet. Der angefachte Fanatismus der Magier, richtete nicht minder seine Feindseligkeit gegen die Christen, die in dem obern Mesopotamien in den von den Römern eroberten Bezirken Nisibis und Edessa zahlreich wohnten und eigene Schulen hielten.

Die Juden blieben von diesem Fanatismus nicht ganz verschont und entgingen nur wegen ihrer Massenhaftigkeit, ihrer Zentralisation und ihrer Wehrhaftigkeit einer durchgreifenden Verfolgung. In ihrem ersten Siegesrausche nahmen die Neuperser den jüdischen Gerichtshöfen die peinliche Gerichtsbarkeit,2 welche sie bis dahin ausgeübt, ließen Juden zu keinerlei Ämtern, nicht einmal zur Aufsicht über Flüsse und Kanäle zu, worüber die letzteren sich jedoch nicht allzusehr zu beklagen schienen.3 Selbst eine Art Gewissenszwang mußten sie sich gefallen lassen. An gewissen Feiertagen, an denen die Magier das Licht, als sichtbares Abbild des Gottes Ormuzd, im Feuertempel verehrten, duldeten sie bei Juden kein Feuer auf dem Herde, kein Licht in den Zimmern. Sie drangen in die jüdischen Häuser ein, löschten alles Feuer aus und scharrten die glimmenden Kohlen in ihre heiligen Feuerbecken, um sie im Feuertempel als Opfergabe darzubringen.4 Daher waren die meisten Gesetzeslehrer von den Neupersern nicht sehr eingenommen. Als R. Jochanan hörte, daß sie auch in das jüdische Babylonien siegreich eingedrungen waren, war er über die Folgen dieses Ereignisses für seine babylonischen Stammgenossen sehr verzagt und beruhigte sich erst, als man ihm berichtete, sie seien sehr arm und würden sich daher mit Geldbestechung abfinden lassen. Wegen ihres halbwilden Charakters nannte er sie ein verworfenes Volk, dem die babylonischen Gemeinden preisgegeben seien.5 Der Patriarch R. Juda II. erkundigte sich angelegentlich bei Levi, welcher von Judäa nach Babylonien hin und herreiste, nach dem Charakter des siegenden Volksstammes. [267] Mit sichtbarer Parteinahme für die besiegten Parther entwarf Levi eine Schilderung von ihnen und den siegenden Neupersern: »Die ersten gleichen den Heeren des Königs David, die letzteren hingegen ähneln den Höllenteufeln«.6 Als Rabba bar Chana einst krank war und einen Besuch von einem Freunde hatte, drangen die Feuerpriester plötzlich in sein Zimmer und löschten die Nachtlampe aus. Da entfuhren ihm im Unmute die Worte: »Allmächtiger, wenn du uns nicht in deinen Schutz nimmst, so überlasse uns mindestens dem Schutze der Römer«.7 Aber nach und nach milderte sich der Fanatismus der Neuperser, und die Juden befreundeten sich so sehr mit ihnen, daß sie ihretwegen von der gesetzlichen Strenge nachließen und sogar hin und wieder an deren Gastmählern teilnahmen.8 Die Gesetzeslehrer gestatteten, den Magiern an dem Lichtfeste die verlangten Kohlen zu verabreichen und betrachteten es nicht, wie die Halacha es in ähnlichen Fällen beurteilt haben würde, als eine Förderung des Götzendienstes, dessentwegen man das Märtyrertum nicht scheuen dürfe.9 Die ältere Mischna verbietet, drei Tage vor den heidnischen Festen jeden Umgang, jeden geschäftlichen Verkehr mit Heiden, Samuel beschränkte dieses Verbot für Babylonien einzig und allein auf den Feiertag selbst. Selbst der strengere Rab erlaubte auf Verlangen der Magier, am Sabbat die Lampen vom Feste der Hasmonäer von der freien Gasse ins Haus zu bringen, um der herrschenden Priesterklasse keinen Anstoß zu geben.10 Diese gegenseitige Duldung trat ohne Zweifel erst unter der Regierung des milden Schabur I. (238-269)11 ein, welcher, wie bereits erzählt, mit Samuel befreundet war. Dieser hochherzige König, versicherte Samuel, habe während der vielen Kriege, welche er gegen die Römer in den Ländern von zahlreicher jüdischer Bevölkerung geführt, niemals jüdisches Blut vergossen, mit Ausnahme von den 12000 kappadozischen Juden, die er tötete, weil sie ihm einen feindseligen Widerstand geleistet hatten.12

[268] Von den durchgreifenden Veränderungen, welche in derselben Zeit im römischen Reiche vorgingen, empfand die jüdische Geschichte nicht minder Folgen und Rückwirkungen. Alexander Severs Tod (235) war ein Signal für die hydraköpfige Anarchie, sich mit all ihrem Schrecken auf Rom und die römischen Provinzen zu stürzen. In kaum einem halben Jahrhundert (235-284) herrschten beinahe zwanzig Kaiser und nebenher eben soviel Usurpatoren, die für den Kitzel, den Kaisermantel, wenn auch nur einen Tag, zu tragen und Hinrichtungen in Masse dekretieren zu können, ihr Leben einsetzten. Von fast allen Völkern, die Rom einst unterjocht hatte, warfen sich Kaiser auf, das italienische Babel zu knechten; die Zeit der Wiedervergeltung war gekommen. Es waren Raubvögel, welche sich den in Fäulnis übergehenden Staatskörper streitig machten. Noch zu Samuels Zeit (248) feierte der meuchelmörderische Kaiser Philipp, ein Araber von Geburt und ein Räuber von Haus aus, der die Christen begünstigte, den tausendjährigen Bestand Roms; aber Rom, dessen Senat die ihm von Legionenkaisern widerfahrene Demütigung mit lächelnder Miene und knechtischer Untertänigkeit entgegennehmen und durch Senatskonsulte sanktionieren mußte, war überall, an allen Stationsplätzen der Legionen, nur in der Stadt selbst nicht. Die Parther von einer Seite, Gothen und Alemannen von anderer Seite drangen in das römische Reich ein, als wollten sie die sibyllinischen Androhungen des Strafgerichtes vollstrecken.

Rom erlebte noch die Schmach, zu sehen, wie sein Kaiser Valerianus, der ausgerückt war, Schabur seine Eroberungen zu entreißen, als Gefangener in die Hände des Feindes geriet und die ganze Demütigung der Knechtschaft von dem übermütigen Sieger erdulden mußte. Die Gefangenschaft des Kaisers Valerian und die Schwäche seines nachfolgenden Sohnes Gallienus lösten alle Bande der römischen Autorität und Disziplin, und die römische Geschichte glich zehn Jahre nacheinander den Gladiatorenkämpfen auf einer weiten Arena. An allen Ecken und Enden des römischen Reiches traten Anmaßer auf. Die morgenländischen Provinzen in der Nähe des mächtigen Perserreiches sahen die Verwirrung und Auflösung in noch höherem Grade. Ein reicher und kühner Palmyrener, namens Odenath, Nachkomme eines Nasor (Nazor), der eine Schar räuberischer und wilder Sarazenen um sich gesammelt hatte, machte mit seinen Banden zur Zeit, als der Name Rom und seine Präfekten-Satrapen ihren Schrecken verloren hatten, von seinem Wohnsitze Palmyra aus, raubend und verheerend häufige Streifzüge, einerseits nach Syrien und Palästina und anderseits in die Euphratgegend. Wegen seiner Dienste, die er dem Kaiser geleistet hatte, [269] wurde er ein Erbfürst mit dem Titel »Konsul und Heerführer des Orients«; er selbst nannte sich Kaiser von Palmyra.13 Warum sollte er es nicht wie sein Landsmann Philipp, zum römischen Kaiser bringen? In jüdischen Kreisen nannte man Odenath den Räuberhauptmann Papa bar Nazor14 und deutete auf ihn den Zug in den Danielschen Visionen: »Das kleine Horn, aus den größern hervorgegangen, mit Menschenaugen und einem hochmütig redenden Munde«. Die Raubzüge dieses abenteuernden Papa waren für die palästinensischen und babylonischen Juden von nachteiligen Folgen begleitet. Er zerstörte das uralte Nahardea (259), das seit den Zeiten des babylonischen Exils Mittelpunkt der jüdischen Gemeinden war; es dauerte längere Zeit, bis es sich von dieser Zerstörung erholen konnte. Die nahardeanischen Amoras, die Schüler Samuels, welche nach dem Tode ihres Meisters die Lehrtätigkeit fortgesetzt hatten, mußten entfliehen. Es war R. Nachman, ein Schwiegersohn des Exilsfürsten, R. Scheschet, Rabba ben Abbuha und R. Joseph ben Chama.15 Sie wanderten nach Machuza und anderen Städten der Tigrisgegend aus,16 nach Silhi (Phum el silh und Selhi) und Schakan-Zib (El-Sib). Beide Städte am Tigrisfluß17 (südlich von Bagdad) erhielten von dieser Zeit an amoräische Lehrhäuser, wie auch Pumbadita seine Erhebung zur akademischen Stadt von diesem Umstande datierte.

Bei der Zerstörung Nahardeas durch Papa ben Nazor waren Samuels Töchter ohne Zweifel unter vielen anderen in Gefangenschaft geraten. Sie wurden nach Sepphoris gebracht. Die Freibeuter spekulierten auf ein reiches Lösegeld, das für sie einträglicher schien, als die Gefangenen auf dem Sklavenmarkte zu verkaufen; denn es war bekannt, daß die Juden für den Loskauf ihrer gefangenen Stammgenossen keine Kosten scheuten. Samuels Töchter hatten von der halachischen Gelehrsamkeit ihres Vaters soviel Nutzen gezogen, daß sie dem strengen Gesetze zu entgehen wußten, welches gefangene Jungfrauen gleich Geschändeten behandelt und sie dadurch zu einer fleckenlosen Ehe unfähig macht. Ehe man noch wußte, wessen Töchter sie waren, erhielten sie ihre Freiheit wieder, und man glaubte ihnen, daß ihre Unschuld von den rohen Kriegern keinen Angriff erlitten habe. Als R. Chanina in Sepphoris erfuhr, daß es Samuels Töchter waren, legte er einem ihrer Verwandten, Simon ben Abba, [270] ans Herz, eine derselben zu heirathen. Simon, Schüler R. Chaninas und R. Jochanans, welcher als die Gewissenhaftigkeit selbst geschildert wird, scheute sich nicht, obwohl von ahronidischem Geschlechte, die älteste heimzuführen. Aber das Unglück, das sich diesem Frommen an die Ferse heftete, verfolgte ihn auch im Eheleben, der Tod entriß sie ihm und auch ihre Schwester, die er nach dem Ableben der ersten geheiratet. Die fromme Sage, welche nicht begreifen konnte, wie das göttliche Verhängnis so hart die Töchter des hochverehrten Samuel und den sündenlosen Simon ben Abba treffen konnte, schrieb dieses Unglück der Versündigung zu, welche Samuel gleich R. Chananja, Neffe R. Josuas18, über Babylonien angeregt hatte. Dieser hatte einst Neumonde und Feiertage auf unheiligem Boden einzurichten sich angemaßt, und Samuel schien ihn mit seiner Kalenderberechnung nachahmen zu wollen.19

Odenath, der Zerstörer Nahardeas, wurde allmählich in der Oase Palmyra oder Tadmor, die der König Salomo in eine Stadt verwandelt hatte, beinahe römischer Kaiser. So zerfallen und geschwächt war das römische Reich, daß dieser bis dahin unbeachtete Mann den persischen Eroberungen auf römischem Gebiete einen Damm entgegensetzen mußte; später verwandelte er die Verteidigung in Angriff und zwang den siegreichen Schabur, seine Hauptstadt Ktesiphon flüchtig zu verlassen. Sechs Jahre war Odenath eine Schutzwehr des römischen Reiches am Euphrat und befreite vom panischen Schrecken die verzagten Römer, welche schon die Perser an die Tore Roms klopfen zu hören glaubten. Nicht lange genoß Odenath diese hohe Würde, er wurde von Mäonius, einem neidischen Verwandten, ermordet (267), der sich zum Kaiser aufwarf. Dieser Mord soll auf Antrieb seiner Frau Zenobia erfolgt sein, welche über ihn erzürnt war, daß er seinen Sohn aus erster Ehe, Herodes, mit Übergehung ihrer Söhne zum Mitregenten ernannt hatte. Nach seinem Tode übernahm Zenobia die Regierung für ihre unmündigen zwei Söhne. Durch sie wurde die Wüstenstadt Palmyra in einen Mittelpunkt des kaiserlichen Glanzes, der Bildung und des feinen Geschmackes verwandelt. Eine christliche Nachricht gibt die Kaiserin Zenobia für eine Jüdin aus; die jüdischen Quellen wissen nichts davon. Die römischen Nachrichten können nicht genug Farben auftragen, die seltene Erscheinung Zenobias zu schildern. Sie wird als ein Muster von Liebenswürdigkeit, hoher Bildung, männlichen Mutes und angeborener Tapferkeit geschildert, wodurch sie die Nachbarländer in [271] einem Untertänigkeitsverhältnis an ihren Thron zu knüpfen und dem römischen Reiche lange Trotz zu bieten vermochte. Der Palast dieser zweiten Semiramis, dessen Trümmer noch jetzt von feinem Kunstgeschmack zeugen, war ein Sammelplatz origineller Geister, mit denen die Königin philosophische Unterhaltungen pflog. An ihrem Hofe lebte der feine, philosophische Kunstkenner Longinus, der in seinem ästhetischen Werke über das Erhabene den hochpoetischen Gehalt der biblischen Schöpfungsgeschichte »es werde Licht« nicht genug bewundern konnte.20 Der verketzerte Paulus von Samosata, Bischof von Antiochien, sand an ihrem Hofe Schutz, als er wegen seiner vernünftigern Ansicht von der Orthodoxie verfolgt wurde. Paulus neigte sich nämlich in der Auffassung des Christentums mehr der jüdischen Einheitslehre zu, erkannte Jesus nur als Messias und nicht als Voll gott an und soll sogar die Beschneidung als notwendig zur Seligkeit empfohlen haben. Seine Feinde nannten ihn deswegen einen judaisierenden Ketzer, welcher seine Bischofswürde schände. Zenobia, seine Beschützerin, scheint auch für die Grundwahrheit des Judentums eingenommen gewesen zu sein. Dennoch waren die Juden dem palmyrenischen Hofe nicht sehr geneigt. R. Jochanan, obwohl nicht blind für die Schönheit des Griechischen, äußerte sich höchst ungünstig über den palmyrenischen Staat: »Heil dem, der den Fall Tadmors erleben wird.« Die Spätern konnten sich diese Abneigung nicht mehr erklären. Einige suchten den Grund in den Mischehen zwischen Juden und Heiden, welche, vielleicht durch die gemischte Abstammung der Kaiserin Zenobia, bei den Tadmorenern beliebt waren; andere glaubten, der Haß gegen die Palmyrener gelte ihrer Teilnahme an der Zerstörung des Tempels. Doch war ohne Zweifel der erste Grund für die Antipathie der richtige, denn die Halacha schwankte eine lange Zeit, ob man palmyrenische Proselyten aufnehmen dürfe. Ein Schüler Samuels, R. Juda, der am meisten für fleckenlose Eheverbindungen eiferte, sprach sich auch am gehässigsten gegen Tadmor aus: »Israel müsse einen neuen Festtag einführen, wenn Tadmor zerstört wird.« Gegen die Flüchtlinge der Tadmorener, welche sich in den babylonischen Landstrichen Mesene und Harpa nia niedergelassen hatten, herrschte dieselbe Abneigung. Ein jüdisches Sprichwort, welches auf eine tief eingewurzelte Eingenommenheit schließen läßt, lautete: »Es wälzt sich das unlautere Gemisch zur Hölle, von da nach Tadmor, von da nach Mesene und Harpania.«21

[272] Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele Juden die Waffen gegen Zenobia geführt haben, deren Herrschaft sich auch über Judäa erstreckt haben muß. Von einem Seïra bar Chinena wird erzählt, er sei in einer Stadt Safsifa ergriffen und vor Zenobia zur Verurteilung geführt worden; sein Vergehen scheint politischer Natur gewesen zu sein. Zwei Jünger R. Jochanans, R. Ami und R. Samuel, begaben sich zur Kaiserin, um sich für dessen Befreiung zu verwenden, wurden aber von derselben sehr ungnädig empfangen. »Glaubt ihr denn,« sprach sie, »weil Gott für euer Volk so viel Wunder getan, daß ihr im Vertrauen auf ihn alles wagen dürfet?« Während dieser Unterredung trat ein Sarazene mit einem blutigen Schwert in der Hand vor Zenobia und brachte die Meldung: »Mit diesem Schwerte hat Bar-Nazor seinen Bruder getötet« (oder wurde getötet). Durch diesen Zwischenfall schenkte Zenobia dem angeklagten Seïra das Leben, der Zusammenhang ist jedoch nicht klar.22 Ein Jünger R. Jochanans, Assi, wurde ebenfalls in demselben Orte Safsifa gefangen und abgeführt. R. Jonathan gab ihn auf und sagte sprichwörtlich: »Laßt den Toten in sein Leichentuch hüllen!« Nicht so leicht beruhigte sich dabei der leibeskräftige und mutige ben Lakisch. »Ehe ich den Tod desselben zugebe, lasse ich mich selbst töten,« sprach er, »ich rette ihn mit Gewalt.« Es gelang ihm indes, die Feinde durch gütliche Überredung zu bewegen, den Gefangenen freizugeben. Noch ein drittes Ereignis, von derselben Quelle erzählt, scheint ebenfalls in Zenobias Regierungszeit zu fallen. Ein sonst unbekannter Ulla ben Koscheb, wegen eines politischen Vergehens verfolgt, hatte sich nach Südjudäa geflüchtet und bei R. Josua ben Levi in Lydda Schutz gefunden. So viel muß aber an diesem Ulla gelegen haben, daß eine Truppe Soldaten Lydda umzingelte und die Stadt zu zerstören drohte, wenn der Verfolgte ihr nicht ausgeliefert würde. R. Josua ben Levi, in der traurigen Alternative, das Leben eines Menschen oder das einer ganzen Gemeinde zu gefährden, bewog den Angeklagten, sich selbst auszuliefern. Er berief sich hierbei auf ein mischnaitisches Gesetz, welches gestattet, einen ausdrücklich bezeichneten Angeklagten, den die politische Macht fordert, preiszugeben, wenn das Leben vieler auf dem Spiele steht. Doch fand sich das jüdische Gewissen bei der gewissermaßen mitverschuldeten Beteiligung am Tode eines Menschen nicht beruhigt. Der Prophet Elias, das Ideal des lautern Eifers für das Judentum, erschien R. Josua ben Levi und machte ihm Gewissenspein, daß er sich zur Überantwortung hergegeben habe, er hätte sich nicht auf jene bloß [273] vorschriftsmäßige Mischna verlassen, sondern »der Mischna der Frommen« eingedenk sein sollen, welche den Blick über den Gesichtskreis pflichtmäßiger Vorschrift erweitert und erhebt.23 – Außer diesen spärlichen Nachrichten ist von der Berührung der Juden mit dem vergänglichen Reiche der Zenobia nichts bekannt. Der schwer errungene Sieg Aurelians über die tapfere Gegenwehr Zenobias machte ihrer mehrjährigen, glanzvollen Regierung (267-273) ein Ende und brachte die stolze Kaiserin in goldenen Fesseln zum Triumphe nach Rom. R. Jochanan sah noch seinen Wunsch gegen Tadmor erfüllt und starb einige Jahre später (279). Palmyra wurde so gründlich zerstört und dann vom Wüstensand bedeckt, daß seine Trümmer erst in neuerer Zeit wieder ausgegraben wurden.


Fußnoten

1 Persische Sassanidenmünzen mit Pehlwilegenden, entziffert von Mordtmann in Zeitschrift der deutsch-morgenländischen Gesellschaft 1854, S. 33 f.


2 Baba Kama 117 a. [Der Beweis ist nicht klar].


3 Taanit 20 a.


4 Synhedrin 74 b und dazu Scheeltot di R. Achaï, c. 42, Ende.


5 Jebamot 63 b.


6 Kidduschin 72 a. [Vergl. Hoffmann, Mar-Samuel, S. 10, A. 3].


7 Gittin 17 a. [Vergl. Bacher, Agada der babylon. Amoräer, S. 87].


8 Jebamot das.


9 Synhedrin das.


10 Sabbat 45 a. [Das beweist nur, daß die Juden unter hartem Drucke lebten].


11 Ich folge in der Chronologie der Sassanidenkönige den Angaben Mordtmanns in der Zeitschrift der deutsch-morgenländischen Gesellschaft 1854: Erklä rung der Münzen mit Pehlwilegenden.

[Nach Nöldeke: Tabari, p. 412 ff., reg. Sâpur 241-272, welchem Graetz in der Volksausgabe folgt].


12 Moed Katan 26 a.


13 [S. Mommsen, Röm. Gesch. V, 433, Anmerkung 2].


14 Note 28.


15 Scherira, Sendschreiben.


16 Ders.


17 Ritter, Erdkunde X, 233, 291.


18 Oben S. 185.


19 Ketubbot 23 a, s. Note 28.


20 Longinus περὶ ὕψους.


21 Jebamot 16 b, 17 a.


22 [Vergl. die Vermutung Funks, Die Juden in Babylonien, S. 76].


23 Jerus. Terumot VIII, Ende. Genesis Rabba, c. 74.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 275.
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