22. Kapitel. (375-427.)

[347] Viertes Amorageschlecht. Exilarchen Mar-Kahana und Mar-Sutra. Schulhaupt R. Aschi. Erster Ansatz zum Abschluß des Talmuds. Der judenfreundliche König Jesdiǵerd II. Der falsche Messias auf Kreta. Verhältnisse der Juden unter den Kaisern Theodosius I., Arkadius, Honorius und Theodosius II. Untergang des Patriarchats. Fanatismus der Geistlichkeit gegen die Juden. Vollständiges Erlöschen der talmudischen Tätigkeit in Judäa. Der Kirchenvater Hieronymus und seine jüdischen Lehrer.


Die Zeit, in welcher das römische Reich einer vollständigen Auflösung entgegenging, bezeichnet in der Weltgeschichte Untergang und Wiedergeburt, Zerfall und Verjüngung, Zerstörung und Neubau. Der Sturm, der von Norden her, von den Mauern Chinas, losbrach, trieb schwarzes Ungewitter vor sich her, das den saftlosen, entblätterten, nur durch seine Schwerkraft noch fortdauernden Riesenbaum des römischen Reiches zerschmetterte und nur noch Trümmersplitter, ein Spiel launenhafter Winde, von demselben übrig ließ. Die ungeschlachten Hunnen, die Geißel Gottes, trieben vor sich her Horde auf Horde, Volk auf Volk, dem Gedächtnis schwer zu behalten, der Zunge, sie nachzusprechen. Die Zeiten der Völkerwanderung bewahrheiteten fast buchstäblich die Worte des Propheten: »Die Erde wankt, wie ein Betrunkener, es lastet schwer auf ihr die Sünde; sie fällt und kann nicht aufstehen, und der Herr Zebaoth ahndet an den Scharen der Höhe in der Höhe und an den Königen der Erde auf der Erde.« Kein Wunder, daß die jüdische Anschauung in den Gothen, dieser ersten Völkerwelle, welche das römische Reich überschwemmte und verwüstete, den von einem Propheten verkündeten Gog aus dem Lande Magog erblickte, »der da wie ein Sturm einherzog, wie eine Wolke heranschwebte, die Erde zu bedecken mit seinem ganzen Anhang, mit den zahlreichen Völkern bei ihm.«1 In diesem merkwürdigen Wechsel von Vergehen und Entstehen [347] der Völker drängte sich den jüdischen Denkern die volle Überzeugung von der Ewigkeit der jüdischen Nation auf: »Ein Volk steht auf, das andere verschwindet, aber Israel bleibt ewig.«2 Auf den Trümmerstätten des römischen Reiches ließen sich die barbarischen Völker, die Rächer der so lange geknechteten Nationen nieder, wilde Pflanzen, die erst von der Meisterhand der Geschichte veredelt, ungeschlachte Halbmenschen, die durch ernste Lehren gesittet werden sollten. In dieser eisernen Zeit, die den nächsten Morgen unsicher machte, fühlten die Führer des Judentums den inneren Drang, den Schatz, der ihren Händen anvertraut war, in Sicherheit zu bringen, um ihn nicht in den Wechselfällen des Tages gefährdet zu sehen. Es trat die Zeit des Sammelns ein, es galt das, was die Vorfahren gesäet, gepflegt und geerntet, unter Dach und Fach zu bringen. Der Traditionsstoff, der durch die Reihe der Geschlechter, durch die Mannigfaltigkeit der Schulen so sehr angewachsen, bereichert und erklärt war, sollte von jetzt an geordnet werden. Diese Richtung des Sammelns und Ordnens repräsentiert R. Aschi.

Rabbana Aschi (geb. 352, gest. 427), Sohn R. Simaïs, aus einem alten Geschlechte stammend, zeigte früh eine so vollendete Geistesreife, daß er im Jünglingsalter die lange verödete suranische Metibta wieder zu Ehren brachte. Er war, wenn auch nicht vierzehn Jahre, doch sicher nicht älter als zwanzig, als er ihr Schulhaupt wurde. R. Aschi war von Haus aus reich und besaß viele Waldungen, von denen er Holz zum Unterhalte des heiligen Feuers des Magierkultus zu verkaufen kein Bedenken hatte.3 Seine Jugend-und Bildungsgeschichte ist merkwürdigerweise ganz unbekannt; auch der Grund ist nicht angegeben, der ihn bewogen hat, das fast eingegangene suranische Lehrhaus wieder zu erneuern; wahrscheinlich war Sura seine Vaterstadt. Er ließ das mehrere Jahrhunderte vorher von Rab erbaute Lehrhaus, das schon Risse und Baufälligkeit zeigte, ganz abtragen und neu bauen; damit der Bau nicht vernachlässigt werde, stellte er sein Bett auf den Bauplatz und brachte da Tag und Nacht so lange zu, bis die Wasserrinnen eingelegt waren.4 Das Lehrhaus ließ er hoch anlegen, damit es die ganze Stadt überragen sollte. Mit Recht konnte er sich rühmen, dazu beigetragen zu haben, daß Sura nicht mehr in Verfall geraten werde;5 denn durch ihn behauptete sich diese Stadt und ihr Lehrhaus mehrere Jahrhunderte. Seine ausgezeichneten Eigenschaften [348] müssen seinen Zeitgenossen so sehr imponiert haben, daß er eine maßgebende Autorität erlangte, wie sie seit Rabas Tod keine Persönlichkeit erringen konnte. R. Aschi vereinigte in sich die suranische Gründlichkeit in Kenntnis des ganzen Lehrstoffes mit der pumbaditanischen Dialektik und genügte dadurch allen Ansprüchen. Die Mitwelt gab ihm den auszeichnenden Ehrentitel Rabbana (unser Lehrer). Während seiner zweiundfünfzigjährigen Wirksamkeit folgten in Pumbadita sieben Schulhäupter aufeinander.6 Auch Nahardea, das seit der Zerstörung durch ben Nazar (Odenath) keine Rolle mehr spielte, erlangte wieder einigen Ruhm durch das von Amemar dort eröffnete Lehrhaus (390-420). Aber keiner dieser Lehrer machte R. Aschi den Vorrang streitig, und Sura nahm wieder die ruhmvolle Stelle ein, die ihm Rab verliehen hatte. Die ältesten Amoräer, Huna ben Nathan, Amemar und Mar-Sutra ordneten sich freiwillig R. Aschis Autorität unter und überließen es ihm, die Einheit wieder herzustellen. In R. Aschi vereinigte sich wiederum Ansehen und Gelehrsamkeit, wie zur Zeit Moses und R. Judas, des Mischnasammlers.7 Selbst die zwei aufeinander folgenden Exilsfürsten seiner Zeit (Mar-Kahana und Mar-Sutra I.) fügten sich seinen Anordnungen. In Sura empfingen die Exilsfürsten die Huldigung von den Abgeordneten aller babylonischen Gemeinden, während es früher in Nahardea, später in der Blüte der pumbaditanischen Metibta daselbst geschehen war. Diese Huldigung fand alljährlich im Anfang des Monats Marcheschwan (im Herbste) an einem Sabbat statt, und dieser Huldigungssabbat hieß Rigle der Exilarchen. Auch außerordentliche Volksversammlungen, die auf Befehl des Exilfürsten zusammen kamen, wurden fortan in Sura abgehalten;8 darum mußten sich die Patriarchen, wenn sie ihre Residenz auch in einer anderen Stadt aufgeschlagen hatten, dahin begeben. R. Aschi hatte also Sura zum Mittelpunkt des babylonisch-jüdischen Lebens gemacht und daran alles gefesselt, was in diesem Kreise Öffentliches und Allgemeines vorging. Der Glanz, den die zahlreichen Versammlungen verbreiteten, war so groß, daß sich R. Aschi wunderte, daß die heidnischen Perser, die das alles mit ansahen, sich nicht zur Annahme des Judentums bewogen fühlten. »Die Einwohner von Sura,« bemerkte er, »sind[349] von einer tückischen Herzenshärtigkeit; sie sehen zweimal des Jahres den Glanz der Lehre, und keiner von ihnen wird Proselyte.«9

Infolge dieser Konzentration in seiner Person konnte R. Aschi ein Werk unternehmen, das für das Schicksal wie für die Entwicklung des jüdischen Volkes von unberechenbaren Folgen war. Er begann die riesige Arbeit, die Erläuterungen, Folgerungen, Erweiterungen zur Mischna, die unter dem Namen »Talmud« begriffen waren, zu sammeln und zu ordnen. Die nächste Veranlassung zu diesem Unternehmen war ohne Zweifel die Befürchtung, daß dieser riesenhaft angeschwollene Stoff, die Geistesarbeit dreier Geschlechter, durch die geringere Teilnahme dem Gedächtnis entschwinden könnte, wenn nicht Handhaben geboten würden, sich denselben mit Leichtigkeit einprägen zu können. R. Aschi selbst klagte schon über die Abnahme der Gedächtniskraft zu seiner Zeit im Verhältnis zur Vorzeit, ohne in Anschlag zu bringen, daß dem Gedächtnis durch die aufgeschichteten Materialien unendlich mehr zugemutet wurde, als früher. Die Bewältigung des überreichen Stoffes wurde ihm dadurch erleichtert, daß ihm vergönnt war, über ein halbes Jahrhundert daran zu arbeiten. In jedem Jahre, so oft sämtliche Mitglieder, Jüngergenossen und Schüler in den Kallamonaten zusammen kamen, wurden einige Abschnitte der Mischna mit den talmudischen Erläuterungen und Zusätzen gründlich durchgenommen, so daß die sechzig Abschnitte ungefähr in dreißig Jahren vollständig geordnet waren. Dann ging R. Aschi in der zweiten Hälfte seiner Wirksamkeit den ganzen, bereits geordneten Stoff zum zweiten Male durch. Das Gesichtete und Geprüfte aus der zweiten Rezension ist als Norm angenommen worden.10

Diese Ordnung des massenhaften Materials des Talmuds wurde nicht niedergeschrieben. Man hielt noch immer das schriftliche Festhalten der mündlichen Überlieferungen, gleichsam die Verkörperung des Geistigen, für ein religiöses Vergehen, und zu dieser Zeit um so mehr, als sich das Christentum der heiligen Schrift als seines geistigen Eigentums bemächtigt hatte und sich als das auserwählte Israel betrachtete; so blieb dem Judentum nach der damaligen Anschauung als Unterscheidendes nur die mündliche Lehre. Dieser Gedanke, in ein poetisch-agadisches Gewand gekleidet, wurde öfter geltend gemacht: »Mose verlangte, daß auch die Mischna, die mündliche Lehre, niedergeschrieben werde; aber Gott sah voraus, [350] daß die Völker einst die Thora in griechischer Übersetzung besitzen und behaupten werden: ›Wir sind Israel, wir sind die Kinder Gottes,‹ während das jüdische Volk das Gleiche von sich behauptet, und habe daher ein Kennzeichen dafür gegeben: ›Wer mein Geheimnis (Mysterion) besitzt, der ist mein Sohn.‹ Das Geheimnis aber ist die Mischna und die mündliche Gesetzesauslegung. Darum spricht der Prophet Hosea: ›Wenn ich die Fülle der Gesetze aufschriebe, so würde Israel als Fremder betrachtet werden.‹11 Erstaunlich ist es keineswegs, wie diese Masse Einzelheiten geordnet im Gedächtnis bleiben konnten, da sie es doch vor R. Aschi im ungeordneten Zustande vermochte. R. Aschi ward durch die Talmudsammlung der Vollender des Werkes, das R. Juda zweihundert Jahre vorher begonnen hatte. Aber die Arbeit war unendlich schwieriger. Denn die Mischna umfaßte nur einen kompendiarischen Auszug des Halachastoffes, das übrige den Boraïtas überlassend, der Talmud hingegen nahm alles auf und ließ gar nichts zurück. Die Mischna lieferte nur die trockene Halacha, künstlich abgerundete Gesetzesparagraphen, der Talmud aber gab auch das Lebendige der Gesetzesentwicklung und ihren geistigen Gehalt, dazu noch mit dialektischer Schärfe. Der erste Anstoß zur Talmudsammlung bildet eine der wichtigsten Epochen der jüdischen Geschichte; der babylonische Talmud (Talmud babli) wurde von jetzt an ein mittätiges, wirksames, einflußreiches Element. Ganz vollendet hat indessen R. Aschi das Riesenwerk nicht. Denn wiewohl er seinen Eifer aufs Sammeln verwendete, so war weder bei ihm, noch bei seinen Zeitgenossen die Schöpferkraft so sehr versiegt, daß sie ihre ganze Tätigkeit nur auf das Sammeln beschränken mochten. Im Gegenteile löste R. Aschi viele der, von den früheren Amoräern zweifelhaft gelassenen, oder ungenügend gelösten Fragen, und seine Entscheidungen sind ebenso treffend und scharfsinnig wie einfach, so daß man sich oft wundern muß, wie die früheren sie übersehen konnten. Auch seine Memras (talmudische Sentenzen) sind später dem Talmud einverleibt worden.

R. Aschis Wirksamkeit fiel in die Regierungsjahre des judenfreundlichen sassanidischen Königs Jesdiǵerd, Sohn Baïrams IV.12 (400-420). Die Magier gaben diesem edlen Fürsten den Beinamen »Al Hatim« (der Sünder), weil er sich nicht willenlos von ihnen beherrschen ließ. Den Juden war er aber sehr gewogen, wie er [351] auch den Christen hold war. An Huldigungstagen sah man an seinem Hofe die drei Vertreter der babylonischen Juden, R. Aschi für Sura, Mar-Sutra für Pumbadita und Amemar für Nahardea.13 Huna bar Nathan, der, wenn er auch nicht Exilarch war, doch bedeutenden Einfluß gehabt haben muß, verkehrte oft an Jesdiǵerds Hofe. Einst war der König so freundlich gegen ihn, daß er ihm den Gürtel zurechtrückte mit der Äußerung: »Ihr seid ein Priestervolk und sollt daher den Gürtel den Priestern gleich tragen.«14 Eine solche Aufmerksamkeit von seiten eines persischen Königs, der sich einen Sohn der Sonne, Verehrer des Ormuzd und König der Könige von Iran nannte, kann als Beweis hoher Huld gelten.

R. Aschi, aller Schwärmerei fremd, scheint die Messiashoffnungen niedergehalten zu haben, die zur Zeit der Völkerwanderung und allgemeinen Umwälzung, als auch das sündenbelastete Rom die Strafe Gottes empfunden hatte, lebhafter als je die jüdischen Gemüter in Spannung hielten. Man trug sich mit einem alten sibyllinischen Spruche herum, der dem Propheten Elias beigelegt wurde, der Messias werde im fünfundachtzigsten Jubiläum erscheinen (4200 der Welt15 = 440 der übl. Zeitr.). Solche messianische Erwartungen pflegen immer irgendwo Schwärmer anzuregen, den stillen Glauben in Tat zu übertragen, und solche, ohne gerade auf Betrügerei auszugehen, suchen die gleichgestimmte Menge mit sich fortzureißen und bis zur Aufopferung zu enthusiasmieren. In der Tat trat in R. Aschis Zeit auf Kreta ein solcher Schwärmer auf, der sämtliche Judengemeinden dieser bedeutenden Insel, die er in einem Jahre bereist hatte, als Anhänger für sich gewann. Er versprach ihnen, wie einst Mose, sie eines Tages trockenen Fußes durch das Meer ins gelobte Land zu führen, und er soll auch den Namen des großen Gesetzgebers angenommen haben. Dieser kretensische Mose muß übrigens seine Anhänger so sehr von seiner Messianität zu überzeugen gewußt haben, daß sie ihre Angelegenheiten vernachlässigten, ihr Hab und Gut preisgaben und nur auf den Tag des Durchganges durch das Meer warteten. Am bestimmten Tage schritt der Messias Mose voran und ihm folgten sämtliche Juden aus Kreta mit Weibern und Kindern. Von einem Vorgebirge, das ins Meer hineinragt, befahl er ihnen, sich getrost ins Wasser zu werfen, denn die Meeresflut werde sich vor ihnen teilen. Mehrere dieser Schwärmer [352] fanden im Meer den Tod; andere wurden durch Schiffer errettet. Der falsche Mose aber soll nicht wieder gefunden worden sein. Die christliche Quelle, welche diese Tatsache erzählt, bemerkt mit großer Befriedigung, daß die Juden von Kreta geglaubt hatten, von dem Blendwerke eines Dämons, der menschliche Gestalt angenommen habe, verführt worden zu sein; sie fügt noch hinzu, daß viele Juden dieser Insel, von dem Vorgange beschämt, sich dem Christentume zugewendet haben.16 – Vor solchen falschen Hoffnungen, deren Folgen unberechenbar waren, warnte R. Aschi und gab jener in Umlauf gesetzten Weissagung einen andern Sinn: »Der Messias kann vor dieser Zeit, vor dem fünfundachtzigsten Jubiläum, gewiß nicht erscheinen, erst nach Ablauf dieser Zeit kann man sich der Hoffnung, aber nicht der Gewißheit seiner Ankunft hingeben.«17 – Der von seinen Zeitgenossen und der jüdischen Nachwelt hochverehrte Amora R. Aschi starb im hohen Alter (427), zwei Jahre vor der Einnahme Karthagos durch Geiserich. Dieser Vandalenfürst, der Rom den aufgespeicherten Raub wieder entriß, führte auch die Tempelgefäße, welche Titus im Triumph zu der Beute so vieler Nationen gelegt hatte, nach Afrika hinüber. Die Tempelgefäße haben wie die Söhne Judäas viele Wanderungen machen müssen.18

Judäa, das durch das Patriarchat noch immer für die Gemeinden des römischen Reiches das Haupt war, bietet in diesem Zeitalter noch mehr als früher das düstere Bild des völligen Absterbens. Der Druck des feindseligen Christentums lastete allzusehr auf ihm und erstickte den Forschungstrieb. Das Talmudstudium, wenn auch nicht ganz erloschen, zeigte nur noch den letzten Schimmer der Abenddämmerung. R. Tanchuma bar Abba, der Hauptträger der jüngern Agada, ist die letzte agadische Autorität in Judäa. Auch dort, wie in Babylonien, haben die letzten Amoräer die Traditionen gesammelt und den jerusalemischen (richtiger den judäischen oder abendländischen) Talmud angelegt und geordnet (Talmud schel Erez-Israel, Gemara di Bene Ma'araba). Aber so dürftig sind die Nachrichten aus Judäa, daß nicht einmal die Namen der Sammler oder der Anreger bekannt geworden sind. Ohne Zweifel hat das Beispiel Babyloniens auch diese Sammlung veranlaßt. Einer Andeutung zufolge scheint man in Tiberias in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts mit dem Sammeln begonnen zu haben.19 Das [353] Patriarchat, das letzte Überbleibsel aus der Vorzeit, fand in dieser Zeit seinen völligen Untergang.

Drei Patriarchen werden noch namhaft gemacht, R. Gamaliel V., Nachfolger Hillels II., dessen Sohn R. Juda IV. und R. Gamaliel der Letzte.20 Aber von ihrer Tätigkeit sind nur undeutliche Spuren vorhanden. Sie hatten zwar noch immer den mehr pomphaften als einflußreichen Titel »die Durchlauchten« mit den dazu gehörigen Privilegien und bezogen noch von den Gemeinden des römischen Reiches die freiwillige Beisteuer, die die Sendboten von den Gemeinden zu sammeln pflegten. Aber ihre Machtbefugnis war bedeutend verringert. Der einzige Einfluß der Patriarchen bestand darin, daß sie abtrünnige Mitglieder, die durch Überredung, List oder auch freiwillig zum Christentum übergegangen waren, aus der jüdischen Gemeinschaft ausschlossen. Aber nicht einmal dieses Recht mochte das stolze Christentum ihnen einräumen. Die Bischöfe ließen die Patriarchen und die Gemeindevorsteher, die den Namen Primaten führten, durch den weltlichen Arm zwingen, die etwaigen Rechte ausgeschlossener Mitglieder nicht zu verkümmern. Theodosius der Große aber (379 bis 395) schützte noch die Juden vor ihren fanatischen Übergriffen nachhaltig, wie sehr ihn auch die katholische Geistlichkeit, Ambrosius und andere, zur Verfolgung der Arianer und anderer Ketzer anstachelten. Er erließ ein Gesetz, daß den Patriarchen und Primaten das Recht unbenommen bleiben solle, über Gemeindeglieder das Bannurteil zu vollstrecken und daß sich die weltliche Autorität in die innere Angelegenheit der Juden nicht einzumischen habe.21 Seine Gerechtigkeit in betreff der Juden bewies er gegen den Patriarchen Gamaliel V., der sich bei ihm über den Konsular Hesychius wegen Erschleichung seiner wichtigen Papiere beklagt hatte; Theodosius verdammte den Konsular wegen dieses Vergehens zum Tode. Welche Bewandtnis es übrigens mit diesen Papieren hatte, ist nicht weiter bekannt.22

Theodosius hatte oft dem Übermaße des christlichen Religionseifers zu steuern, der Heldentaten darin suchte, die religiöse Andacht der Juden zu stören, Synagogen zu plündern, einzuäschern oder sich anzueignen und in Kirchen zu verwandeln. Die Hauptfanatiker dieser Zeit gegen die Juden, die mit Ungestüm gegen sie auftraten, waren Johannes Chrysostomus von Antiochien und Ambrosius von Mailand.

Der erstere, aus der klösterlichen Einsiedelei zum Predigtamt berufen, donnerte von der Kanzel herab mit seiner schwülstigen und [354] zynischen Beredsamkeit gegen die Juden; er nahm sie geradezu zum Thema von sechs aufeinander folgenden Predigten. Die Juden Antiochiens trieben es aber auch zu arg; sie zogen, wenn auch ohne ihr Hinzutun, durch ihre Sitten, ihren Gottesdienst und ihre Gerichtshöfe Christen an. An Sabbaten und Feiertagen fanden sich regelmäßig viele Christen, besonders vom weiblichen Geschlechte, vornehme Damen und auch Frauen von verachtetem Gewerbe in den Synagogen ein. Mit Andacht hörten sie dem Posaunenblasen am jüdischen Neujahr zu, wohnten dem feierlichen Gottesdienste am Versöhnungstage bei und beteiligten sich an den Freuden des Hüttenfestes. Es hatte um so mehr Reiz für sie, da sie genötigt waren, es hinter dem Rücken der christlichen Priester zu tun und sie die Nachbarn angehen mußten, nichts davon zu verraten. Christen zogen es vor, ihre Prozesse vor jüdische Richter zu bringen, weil die jüdische Eidesformel ihnen imposanter und eindringlicher schien. Gegen solche freiwillige Verehrung jüdischer Institutionen von seiten der Christen ließ Chrysostomus seine gewaltigen Kapuzinerpredigten erschallen, hängte ihnen jeden Unglimpf an und nannte die Synagogen schändliche Theater, Räuberhöhlen und noch weit Schlimmeres.23

Ambrosius von Mailand, ein theologisch-unwissender, zufahrender Staatsbeamter, den ein tumultuarischer Ruf in der Kirche zum Bischof gemacht hatte, war noch viel giftiger gegen die Juden. Als die Christen in Rom eine Synagoge verbrannt hatten und der Usurpator Maximus dem römischen Senat befohlen hatte, sie auf Kosten der Stadt wieder herstellen zu lassen, nannte ihn Ambrosius einen Juden. Der Bischof von Kallinikus in Nordmesopotamien ließ durch Mönche in der dortigen Gegend eine Synagoge einäschern, wofür ihn Theodosius bedeutete, sie auf eigene Kosten wieder aufbauen zu lassen; die Teilnehmer ließ er bestrafen (388). Hierdurch aufs heftigste entflammt, gebrauchte Ambrosius in seinem Sendschreiben an den Kaiser so scharfe, aufreizende Worte, daß er ihn zum Widerrufe des Befehles zwang. Er beschuldigte die Juden, daß sie die römischen Gesetze verachteten und rief ihnen höhnisch zu, daß sie aus ihrer Mitte keinen Kaiser, keinen Statthalter aufstellen, daß sie nicht in das Heer oder in den Senat treten, nicht einmal an der Tafel der Großen speisen dürften; sie wären nur [355] dazu da, um schwere Abgaben zu zahlen.24 Diesem frommen Unfuge wollte Theodosius durch Gesetze steuern. Von der Voraussetzung ausgehend, daß das Judentum im römischen Reiche durch kein Gesetz verboten sei, wollte er ihm auch den Schutz der Gesetze gegen gewalttätige Eingriffe gewähren. Er befahl daher dem Comes des Orients, die christlichen Religionsstörer und Synagogenschänder streng zu bestrafen (393).25 Allein was vermochten kaiserliche Edikte und Befehle gegen die Richtung der Zeit, die eine feindselige, verketzernde, verfolgende war? Die Juden durften sich nicht beklagen, es ging ihnen nicht schlimmer als den Anhängern der verschiedenen christlichen Sekten, wenn deren Gegner gerade die Oberhand hatten. Die Wildheit, welche der Einbruch der Barbaren über den geschichtlichen Teil der Erde gebracht hatte, wirkte ansteckend auf das religiöse Gebiet; der Vandalismus herrschte überall, in der Kirche wie im Staat. – Die Ausnahmestellung der Juden im römischen Reiche hat Theodosius I. indes entweder neu begründet oder bestätigt. Das Gesetz von Konstantius, daß ein jüdischer Besitzer von Sklaven, der sie ins Judentum aufnähme, streng bestraft werden sollte, frischte er wieder auf.26 Das Privilegium, das sich die Juden unter seinen Vorgängern zu verschaffen gewußt hatten und das darin bestand, daß sie wegen religiöser Skrupulosität von den lästigen städtischen Ämtern befreit sein sollten, hob Theodosius auf.27

Dieser Kaiser hat durch Vererbung des Reiches an seine zwei Söhne die römische Welt dauernd in zwei Teile zerlegt und in zwei Lager gespalten, welche die Spannung und die Gefühllosigkeit noch steigerten. Die Juden des römischen Reiches gehörten fortan verschiedenen Herren an, teils zum morgenländischen, teils zum abendländischen Reiche. Der morgenländische oder byzantinische Schattenkaiser Arkadius (395-408) oder vielmehr seine allmächtigen Kämmerlinge [356] Rufinus und Eutropius waren den Juden außerordentlich günstig. Rufinus liebte das Geld, und die Juden hatten bereits das Zaubermittel des Geldes kennen gelernt, vermöge dessen man verstockte Herzen milder stimmen kann. Eine Reihe von Gesetzen sind daher zu ihren Gunsten erlassen worden. Ein Gesetz bestimmte (396), daß den Juden die Selbständigkeit, ihre eigenen Marktaufseher (Agoranomen) aufzustellen, gewahrt bleiben sollte und daß derjenige, welcher es wage, sich Eingriffe in dieses ihr Recht zu erlauben, schwerer Kerkerstrafe unterliegen sollte.28 Ein anderes (vom selben Jahr) schützte die »erlauchten Patriarchen« vor Beschimpfung.29 Als in Illyrien Angriffe auf Synagogen gemacht wurden (wahrscheinlich von der Geistlichkeit, welche die jüdischen Gotteshäuser gern ebenso vertilgt wissen wollte wie die heidnischen Tempel), befahl Arkadius oder Eutropius, daß die Statthalter energisch dagegen einschreiten sollten (397).30 Er erneuerte und bestätigte auch (in demselben Jahre) das Gesetz Konstantins, daß die Patriarchen, wie sämtliche Religionsdiener der Synagoge frei von der Magistratslast bleiben sollten, ganz gleich den christlichen Geistlichen.31 Auch eine andere Seite ihrer noch gebliebenen Selbständigkeit wahrte Arkadius' Regierung (Febr. 398), daß es den Juden unbenommen bleiben sollte, ihre Rechtsstreitigkeiten, wenn beide Parteien darin einig sind, vor die Patriarchen und andere jüdische Schiedsrichter zu bringen, und daß die römischen Behörden gehalten sein sollten, deren Urteile zu vollstrecken, unbeschadet dessen, daß die Juden sonst, wenn es nicht ihre Religion betreffe, den römischen Gesetzen unterworfen seien32 Eine launenhafte Wandlung darf bei dem Willkürregiment des byzantinischen Hofes nicht befremden, und es kann daher nicht auffallen, wenn ein Gesetz erlassen wurde, daß sämtliche Juden, auch Religionsvorsteher, der Kuriallast unterworfen sein sollten (399)33, was vielleicht mit Eutropius' Sturz in diesem Jahre zusammenhing.

Über das Verhalten des abendländischen Kaisers, des Schwächlings Honorius, oder seines Beherrschers Stilicho gegen die Juden ist nicht viel bekannt geworden. Die Aufhebung der Kurialfreiheit für die Gemeinden von Apulien und Kalabrien34 beweist noch nicht eine systematische Judenfeindlichkeit. Ein anderes Gesetz [357] (von April 399) verbot im Namen des abendländischen Kaisers Honorius im ganzen Umfange der Präfektur bei strenger Strafe die Ausfuhr der Patriarchensteuer. Die Gelder, welche bereits gesammelt waren, sollten für den kaiserlichen Schatz eingezogen werden. Das Motiv zu diesem Verbote mag aber gewesen sein, daß der abendländische Kaiser die Ausfuhr so bedeutender Summen in die Präfektur seines Bruders mit mißgünstigen Blicken betrachtete. Als wollte die Launenhaftigkeit der damaligen Gesetzgebung sich selbst verspotten, wurde fünf Jahre nachher das Verbot wieder zurückgenommen und den Juden nach wie vor gestattet, die Patriarchensteuer zu sammeln und an Ort und Stelle abzusenden (404).35 Honorius untersagte einerseits Juden und Samaritanern Beteiligung am Militärdienste36, schützte die Juden aber anderseits gegen die Belästigungen von seiten der Behörden und bestimmte durch ein Edikt, die Juden am Sabbat und Feiertagen nicht vor Gericht zu laden (409).37

Mit dem gutmütigen, aber mönchisch beschränkten Kaiser Theodosius II. (408-450), dessen Schwäche dem fanatischen Eifer mancher Bischöfe Unsträflichkeit und Aufmunterung zu Grausamkeiten gewährte, fing für das Judentum das eigentliche Mittelalter an. Edikte dieses Kaisers verboten den Juden neue Synagogen zu bauen, das Richteramt zwischen jüdischen und christlichen Parteien auszuüben, ferner den Besitz christlicher Sklaven und noch andere Einzelheiten von untergeordnetem Interesse. Unter diesem Theodosius fand auch das Patriarchat den Untergang, obwohl der letzte Patriarch R. Gamaliel (Batraah) am kaiserlichen Hof eine hohe Auszeichnung genoß, wie keiner seiner Vorgänger. Neben dem seit langer Zeit den Patriarchen beigelegten Titel hatte man ihm die hohe Würde eines Präfekten (Praefectura) nebst einem Ehrendiplom (Codicillus honorarius) übertragen, – alles dieses zwar nur Scheinwürden, aber von hoher Bedeutung in einer Zeit, wo der Schein das Wesen ausmachte. Durch welches Verdienst R. Gamaliel sich diese Auszeichnung erworben hat, ist nicht bekannt, vielleicht durch seine medizinischen Kenntnisse. Denn man schrieb ihm die Erfindung eines sehr probaten Heilmittels gegen Milzkrankheiten zu.38 Auf dieser Höhe glaubte sich R. Gamaliel berechtigt, es mit den judenfeindlichen Ausnahmegesetzen des Kaisers nicht so genau zu nehmen. Er ließ neue Synagogen bauen, übte Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten zwischen [358] Juden und Christen und setzte sich über andere ähnliche kaiserliche Bestimmungen hinweg. Infolgedessen entkleidete ihn Theodosius aller seiner höhern Würden, nahm ihm das Ehrendiplom und ließ ihm nur diejenigen Ehrenrechte, welche er als Patriarch genoß (415). Das Patriarchat aber hob Theodosius beim Leben Gamaliels keineswegs auf, sondern erst nach dessen Tode, als, wie es scheint, dessen männliche Erben in zartem Alter gestorben waren (um 425).39 So waren nach R. Gamaliel Batraah die letzten Splitter von dem edlen Stamme des Hillelschen Hauses zerstoben. Drei und ein halb Jahrhunderte hatte dieses Haus an der Spitze der geistigen Angelegenheiten des Judentums gestanden, viele seiner Glieder waren Beförderer der Lehre, der Freiheit und Nationalität gewesen, ihre Lebensgeschichte war ein wichtiger Bestandteil der jüdischen Gesamtgeschichte geworden. Fünfzehn Patriarchen waren während dieser Zeit aufeinander gefolgt: zwei Hillel, drei Simon, vier Juda und sechs Gamaliel.

Unter der Regierung des Theodosius im Morgenlande und des Honorius im Abendlande durfte es ein Bischof von Alexandrien wagen, die Juden unter Mißhandlungen aus dieser Stadt zu vertreiben. Es war der Bischof Cyrill, dessen Streitlust, Ungestüm und Gewalttätigkeit berüchtigt, und der ein würdiges Ebenbild des Ambrosius von Mailand war. Die Veranlassung zu diesem harten Exil wird in einer zwar parteiischen, doch glaubwürdigen Quelle weitläufig erzählt. Alexandrien war von jeher der Schauplatz von Volkstumulten, welche durch die vielerlei Nationalitäten, die dort zahlreich vertreten waren und einander haßten, hervorgerufen wurden. Das Christentum brachte mit seinem Dogmengezänke ein neues Element zu Streitigkeiten hinzu. An einem Sabbat waren die meisten Einwohner im Theater versammelt, um einem Schauspiel beizuwohnen und zugleich die Befehle des Präfekten Orestes zu vernehmen, der sie dort der Menge bekannt zu machen pflegte. Unter den Zuschauern waren auch viele Juden, die wieder zahlreich in Alexandrien wohnten und, wie der Bericht hinzufügt, sich lieber in Schauspiel- als in Gotteshäusern einfanden. Als die Juden unter den Christen einen gewissen Hierax bemerkten, der, streitsüchtig wie sein Lehrer Cyrill, öfter Unruhen hervorgerufen hatte, sollen sie laut gerufen haben, derselbe sei nur erschienen, um das Volk zu einem neuen Tumulte zu hetzen. Diese Anklage muß wohl Grund gehabt haben, da der Präfekt darauf einging, Hierax festnehmen und ihn auf der Stelle foltern zu lassen. Die Juden sollen sich nun verabredet haben, in der Nacht die Christen zu überfallen [359] und ihnen den Garaus zu machen; als Erkennungszeichen sollen sie einen Ring aus Palmenrinde getragen haben. Infolge dieser Verabredung erregten die Juden in der Nacht einen blinden Feuerlärm, als wenn die sogenannte Alexandrinerkirche in Flammen stände. Als die Christen zur Hilfe herbeieilten, soll man sie überfallen und niedergemetzelt haben. Verdächtig wird diese Nachricht dadurch, daß Orestes diese Missetat keineswegs gerügt, im Gegenteil beharrlich auf Seiten der Juden gestanden haben soll. Aber Cyrill hatte dadurch Gelegenheit bekommen, seinem ungestümen Charakter freien Lauf zu lassen. Er behauptete, die Vorsteher der Juden tags vorher gewarnt zu haben, einen Aufstand gegen die Christen anzuzetteln. Darauf versammelte er die christliche Menge, stachelte sie mit seinem übersprudelnden Fanatismus gegen die Juden auf, drang in ihre Synagoge, nahm sie für die Christen in Beschlag und vertrieb die jüdischen Einwohner halb nackt aus der ihnen zur Heimat gewordenen Stadt; denn ihr Vermögen über ließ Cyrill, der kein Mittel verschmähte, der beutelustigen Menge zur Plünderung (415). Ob sich die Juden ohne Gegenwehr vertreiben ließen, wird nicht erzählt, und doch ist es wahrscheinlich, daß die Vertreibung nicht ohne Blutvergießen von beiden Seiten abgelaufen ist. So hatten die Christen den alexandrinischen Juden ein ähnliches Schicksal bereitet, wie es ihnen die Heiden 370 Jahre vorher zugefügt hatten. Der Präfekt, dem diese Grausamkeit gegen die Juden sehr zu Herzen ging, war ohnmächtig, sie zu schützen; er konnte nur gegen den Bischof Klage führen; aber am Hofe zu Konstantinopel behielt letzterer Recht. Wie groß der Fanatismus dieses Bischofs war, läßt sich aus dem ermessen, was bald nach Vertreibung der Juden in Alexandrien vorgefallen ist. Durch die Mönche vom Berge Nitra (unweit Alexandrien), die der Durst nach der Märtyrerkrone zu wilden Tieren gemacht hatte, ließ Cyrill den Orestes überfallen und ihn mit einem Steinwurfe dem Tode nahe bringen, weil er die Judenvertreibung nicht gut heißen wollte. Der Fanatismus der Schüler Cyrills trieb sie auch zur Wut gegen die zu ihrer Zeit berühmte Philosophin Hypatia, die durch tiefe Kenntnis, Beredsamkeit und Sittsamkeit alle Welt bezauberte und Philosophenjünger aus allen Gegenden herbeizog. Die fanatischen Unmenschen, welche Hypatia für die Ursache der Spannung zwischen Orestes und Cyrill hielten, lauerten ihr eines Tages auf, schleppten sie zur sogenannten Kaiserkirche, entkleideten sie schamlos und schlugen sie mit Scherben tot. Dann rissen sie dem Körper Glied für Glied aus und verbrannten sie. Die alexandrinischen Juden durften also noch dankbar sein, mit dem nackten Leben davongekommen zu sein. Wohin sich die exilierten Juden gewendet, und bei welcher Gelegenheit sie [360] wieder zurückgekehrt sind, verschweigt die Quelle. Nur ein einziges Mitglied der unglücklichen Judengemeinde, Adamantius mit Namen, ein Lehrer der Arzneikunde, ließ sich durch das Mißgeschick zur Taufe zwingen; er begab sich nach Konstantinopel und erhielt dort das Recht, sich in Alexandrien niederzulassen. Die übrigen hatten also Verbannung und Ungemach freudig um ihrer Überzeugung willen ertragen.40

Nicht so fest waren die Juden in der kleinen Stadt Magona (Mahon) auf der spanischen Insel des Mittelmeeres Minorca, die der dortige Bischof Severus durch Straßenkämpfe ermüdete und deren Synagoge er einäschern ließ, um sie zum Christentum zu zwingen. In Spanien und auf den dazu gehörigen Inseln hatten sich Juden frühzeitig, wahrscheinlich noch zur Zeit der römischen Republik niedergelassen und lebten dort in freundschaftlichem Verkehr mit den Urbewohnern. Selbst als die Iberer das Christentum angenommen hatten, ließen die Ackerbauer ihre Feldfrüchte von Juden einsegnen. Aber auch in Spanien regte zuerst die katholische Geistlichkeit den Fanatismus der christlichen Bevölkerung gegen die Juden auf. Jener Bischof Osius (Hosius) von Cordoba, der auch beim nizäischen Konzil anwesend war, veranstaltete eine Kirchenversammlung in Illiberis (Elvira bei Granada), auf der den Christen bei Strafe der Exkommunikation untersagt wurde, mit Juden zu verkehren, mit ihnen Eheverbindungen einzugehen und ihre Feldfrüchte von ihnen segnen zu lassen.41 Die Juden von Magona, die unter der Anführung ihres reichen gelehrten Vorstehers Theodor nicht ganz ohnmächtig waren, setzten ihren Feinden langen, hartnäckigen Widerstand entgegen, bis auch Theodor, zur Verzweiflung getrieben, sich taufen ließ und viele nach sich zog. Trotz des Beispiels ihrer Männer wollten die Frauen noch lange nicht von ihrer Anhänglichkeit an das Judentum lassen. Die Treugebliebenen flohen in die Wälder und Schluchten und zogen einen elenden Tod der Abtrünnigkeit vor. So viel läßt sich aus dem geflissentlich entstellten, wenn nicht gar erdichteten Sendschreiben entnehmen, welches der Bischof Severus an sämtliche Bischöfe und Geistliche gerichtet haben soll, um ihnen das Wunderwerk der Bekehrung der Juden auf Magona anzuzeigen und sie zu ermahnen, sich desselben Eifers für die Bekehrung der Juden zu befleißigen.42

Die Juden, zu schwach, um die ihnen in beiden christlichen Reichen zugefügte Unbill abzuwehren, machten sich über ihre [361] Feinde hinter deren Rücken lustig, wie ja der schwächere Teil sich überall und zu jeder Zeit auf solche Weise ein wenig Erleichterung zu verschaffen suchte, bedienten sich aber zuweilen dabei plumper Scherze, um ihre Gesinnung über das Christentum auszudrücken. Dergleichen Scherze kamen am meisten am Purimfeste vor, an dem die Heiterkeit des Festes zum Rausch, der Rausch zu unverantwortlichen Äußerungen und Demonstrationen führte. An diesem Tage pflegte die lustige Jugend das Bild des Erzjudenfeindes Haman an einen Galgen zu hängen, und dieser Galgen, den man zu verbrennen pflegte, hatte, man weiß nicht ob zufällig oder absichtlich, die Kreuzesgestalt. Die Christen beklagten sich natürlich über Religionsschändung, und der Kaiser Theodosius II. wies die Rektoren der Provinz an mit der Androhung schwerer Strafen43, solchem Unfug zu steuern, ohne jedoch die Unsitte unterdrücken zu können. Einmal soll ein solcher Faschingsscherz zu einer grausigen Tat geführt haben. Die Juden zu Imnestar, einem syrischen Städtchen zwischen Antiochien und Chalcis, sollen einen Hamansgalgen in Kreuzesgestalt errichtet, in der Trunkenheit einen christlichen Knaben daran gekreuzigt und mit Geißelhieben getötet haben. Dadurch entstand ein Kampf zwischen Juden und Christen, worauf der Kaiser befahl, die Schuldigen der gerechten Strafe zu unterwerfen (415).44

Die antiochensischen Christen, die den alexandrinischen an Fanatismus nicht nachstanden, und den Kaiser einmal gebeten hatten, ihnen die Gebeine und Reliquien ihres Märtyrers Ignatius nicht zu nehmen, weil er ihrer Stadt gleich festen Mauern Schutz gewähre, rächten auch ihrerseits die Tat der Juden von Imnestar, indem sie die Synagogen ihrer jüdischen Miteinwohner mit Gewalt nahmen. Es ist eine bemerkenswerte Erscheinung, daß die Präfekten und Rektoren der Provinzen sich meistens für die Juden gegen die Geistlichkeit aussprachen. Der syrische Präfekt hatte dem Kaiser den Synagogenraub angezeigt und muß diese Ungerechtigkeit so grell geschildert haben, daß er den in mönchische Andächtelei versunkenen Theodosius II. bewog, einen Befehl an die Antiochenser zu erlassen, die Synagogen ihren Eigentümern zurückzustellen. Aber gegen diesen Beschluß eiferte der Säulenheilige Simeon, der unweit Antiochien in einer Art von Stall (Mandra) ein Leben äußerster Entsagung führte. In dem falschen Begriffe jener Zeit von der Versündigung der Menschheit und der dadurch notwendig gewordenen Buße verfielen die Büßer auf Kasteiungen, die von ebenso viel Heroismus als hirnverbranntem Sinne zeugen. Was [362] die Phantasie nur an Pein und Marter ersinnen kann, legten sie sich auf; einsames Leben, Fasten, Ehelosigkeit genügten nicht mehr, sie überboten sich an Entsagungen. Sich der brennenden Hitze, der erstarrenden Kälte mit bloßem Leibe auszusetzen, auf einer schmalen, in die Luft hochragenden Säule unbeweglich zu verharren, galt als ein hochheiliges, gottseliges Leben. Am weitesten brachte es in diesem Kasteiungssystem eben dieser Simeon, der Stylite, und wurde daher auch als ein besonderer Heiliger verehrt. Aber wiewohl er auf seiner Säule der Welt und ihrem Treiben entsagt hatte, so war der Judenhaß doch Grund genug für ihn, sich in weltliche Angelegenheiten zu mischen. Kaum erfuhr er den Befehl des Kaisers Theodosius von der Zurückgabe der geraubten Synagogen, so richtete er ein beleidigendes Schreiben an den Kaiser, ließ ihn wissen, daß er nur Gott allein und sonst niemand als Kaiser und Herrn anerkenne, und drang darauf, das Edikt zurückzunehmen. Bei Theodosius bedurfte es gar nicht so vieler Einschüchterungsmittel, er widerrief den Befehl und setzte sogar den syrischen Präfekten ab, der den Juden das Wort geredet hatte (423).45

Die Bigotterie des morgenländischen Kaisers Theodosius II. wirkte auch auf den abendländischen Honorius, und beide haben durch alberne Gesetze die Juden in diejenige Ausnahmestellung gebracht, in der die neuerstandenen germanischen Staaten sie vorgefunden haben. Die Juden wurden zu keinem Staatsamte, zu keiner militärischen Funktion, welche sie früher bekleidet hatten, zugelassen; nur die zweideutige Ehre städtischer Ämter wurde ihnen noch gelassen.46 Aber nicht zufrieden damit, ihnen die Gleichberechtigung entzogen zu haben, verkümmerte ihnen Theodosius die freie Verwendung ihres Eigentums zu religiösen Zwecken, als wenn das Vermögen der Juden kaiserliches Eigentum wäre. Nach dem Erlöschen des Patriarchenhauses hatten die jüdischen Gemeinden nicht aufgehört, die Patriarchensteuer nach Gewohnheit zu leisten; die Primaten nahmen sie in Empfang, und verwendeten sie höchstwahrscheinlich zum Unterhalt der Lehrhäuser. Mit einem Male erschien ein kaiserliches Dekret, welches die Primaten bedeutete, die bereits gesammelte Summe der Patriarchensteuer für den kaiserlichen Schatz auszuliefern, in Zukunft aber sie von kaiserlichen Beamten nach genauer Ermittlung ihres Betrages erheben zu lassen; selbst [363] die vom abendländischen Reiche einlaufenden Gelder sollten dem kaiserlichen Schatze überliefert werden (30. Mai 429).47 Neu-Rom hatte die ganze Tücke und Geldgier von Alt-Rom mit herüber genommen. Wie der heidnische Kaiser Vespasian die Tempelsteuer, so eignete sich der christliche Kaiser die Patriarchensteuer an, so daß die Beraubten noch die Gewissenspein empfanden, das, was die Frömmigkeit freiwillig gespendet, als Zwangsabgabe für fremde Interessen abliefern zu müssen.

Trotz der Verkümmerung der Judenheit im oströmischen Reiche und noch mehr in Judäa, die das Talmudstudium zum Stillstand gebracht hat, war die Forschung in Judäa nicht ganz erloschen. Allein das Elend der Gegenwart ließ keinen Spielraum für die tiefere Halacha, förderte aber die auf das Gemüt wirkende Agada, die sich in die freudigen und düstern Zeitlagen der Vorzeit versenkte, in die wunden verzweifelten Gemüter den Balsam des Trostes goß und sie mit dem Zauber der Hoffnung aufrichtete. Die tiefer Blickenden hatten das klarste Bewußtsein von diesem Verfall der ernsten Studien und schilderten ihn in verschiedenen Wendungen. »In früherer Zeit, als die Thora alles galt, bemühte man sich, Mischna und Talmud zu hören, jetzt aber lauscht man nur auf das Wort der Agada.« – »In früherer Zeit, als das Geld häufig war, wendete man sich der Halacha zu, jetzt aber, da das Geld selten geworden und man durch Leiden geschwächt ist, hört man nur auf die Segens-und Trostsprüche der Agada.« – »Der Talmudkenner gleicht einem Manne mit Goldbarren, der zuweilen hungern muß, weil er nichts davon ausgeben kann, der Agadakundige hingegen gleicht einem Besitzer kleiner Münzen, der jeden Augenblick imstande ist, Lebensmittel dafür einzutauschen.«48 – Der Charakter der Agada, welche wie die Halacha ihre eigenen Autoritäten (Rabbanan d'Agadta genannt)49 hatte, war indessen bedeutend verändert.

Die jüngere Agada oder Predigtweise unterscheidet sich wesentlich von der ältern durch eine mehr künstliche Form, sie bestrebt sich, aus unzusammenhängenden Versen ein Ganzes zu bilden, rednerischen Schmuck und rednerische Kunstgriffe zu gebrauchen. Sie hat schon eine Einleitung, einen Text, der sich zum Teil durch den ganzen Vortrag hindurchzieht, und einen effektvollen Schluß. Sie zeigt ferner mehr Sprachbewußtsein als die ältere, und sucht selten vorkommende hebräische Wörter auf verschiedene Weise zu erklären.50 [364] Als Träger dieser ausgebildeten predigtartigen Form der Agada wird R. Tanchuma bar Abba genannt, dem ganze Partien der agadischen Literatur angehören.51

Die bessere Kunde der hebräischen Sprache ist unstreitig durch die Polemik mit Christen gefördert worden, und sie war in diesem Zeitalter noch so sehr vorhanden, daß das Christentum noch immer von Juden das Verständnis des biblischen Urtextes erlernte. Auch für diese Wissenschaft war Tiberias Bildungsstätte und Muster; neben ihm wird nur noch Lydda genannt. Hieronymus (331 bis 420), den die Kirche den Heiligen nennt, der ein Nonnenkloster in Bethlehem angelegt und von Wissensdurst getrieben, gleich Origenes, die Bibel aus dem Urtexte kennen zu lernen bemüht war, suchte jüdische Lehrer, wie Bar-Chanina und andere aus diesen Städten auf.52 Aus den nicht geringen Kenntnissen, die Hieronymus sich durch ihre Anleitung so gründlich angeeignet hatte, daß er es zur Fertigkeit brachte, sich in dieser Sprache frei auszudrücken, ist der Schluß erlaubt, daß die Kenntnis der heiligen Sprache und der Bibel in Judäa größere Pflege gefunden, als man sonst angenommen hat. Bar-Chanina mußte aber, die Öffentlichkeit scheuend, heimlich in des Kirchenvaters Zelle kommen, um ihn zu unterrichten, weil durch den feindlichen Gebrauch, den die Christen von der Kenntnis der hebräischen Sprache machten, es in der letzten Zeit verboten war, Christen überhaupt zu unterrichten.53 Hieronymus lernte aber nicht nur das Wortverständnis der Bibel und die Aussprache des Hebräischen, sondern gewann auch tiefere Einsicht in den Zusammenhang des Textes, den die Tradition bot. Die Form agadischer Auslegung wußte er sich so sehr anzueignen, daß er sie auf den christlichen Kreis zuweilen mit Geschmack und geistreichen Wendungen übertragen konnte, wie die Anwendung der zwei Frauen in Salomos Urteil auf das Verhältnis der Synagoge zur Kirche.

In Beurteilung und Unterscheidung der echten kanonischen Schriften von unechten, apokryphen Sammlungen waren die Juden ihren christlichen Zeit genossen bei weitem überlegen und um viele Jahrhunderte voraus. Das nizäische Konzil, das die Parteien durch Machtsprüche einigen wollte, hatte auch den Streit über die Heiligkeit zweifelhafter Schriften entschieden und mehrere apokryphe Bücher in den Kanon aufgenommen. Die Juden, mit welchen Hieronymus exegetische Unterredung pflog, machten dagegen über den Unwert mancher Apokryphen solche gesunde Bemerkungen, daß [365] sie auch heutigen Tages bei fortgeschrittener Kenntnis als richtig anerkannt werden müssen. Unter anderem verspottete ein jüdischer Gesetzeslehrer die Zusätze zum Habakuk, nach welchen ein Engel den Propheten beim Schopfe von Judäa nach Chaldäa geführt haben soll. Er fragte, wo man im alten Testamente ein Seitenstück fände, daß einer der heiligen Propheten mit seinem der Schwere unterworfenen Körper in einem Nu solche weite Räume durchflogen hätte. Als ein Christ in vorschneller Antwort den Einwurf vom Propheten Ezekiel machte, den ebenfalls eine Hand an den Haarlocken von Chaldäa nach Jerusalem geführt hat, erwiderte der kundige Jude: »Der heilige Text fügt aber dabei hinzu, Ezekiel fühlte sich im Geiste dahin versetzt und im Geist habe er alles geschaut.«54 – Die Juden hatten sich trotz der Ungunst der Zeit von dem Unverstand frei gehalten, in naivem Glauben alles ohne Wahl als heilig anzunehmen, was als solches geboten ward; sie hatten in dem Tempel des Glaubens nicht das Licht der Einsicht ausgelöscht und ihrem Urteil nicht Fesseln angelegt, um sich blindlings jeder Zumutung hinzugeben. Diese Einsicht war ein Erzeugnis des Halachastudiums, das gegen die urteilsunfähige Gläubigkeit ein Gegengewicht bot. Judäa war also im Greisenalter noch Pflegerin der hebräischen Sprache, die sie ihren Söhnen in der Fremde als ein unauflösliches Band mitgegeben hat. Die heilige Sprache, die bei Gebeten, Vorlesung und Studium in Gebrauch war, wurde die geistige Einheit des jüdischen Volkes.

Von der untergehenden Sonne Judäas hatte das Christentum einige Strahlen aufgefangen, die in der Kirche als ein Himmelslicht gepflegt wurden. Die Kenntnis des Hebräischen, die Hieronymus sich von jüdischen Lehrern angeeignet hatte, setzte ihn in den Stand, eine von der entstellten Septuaginta abweichende, dem hebräischen Texte sich mehr nähernde lateinische Übersetzung (Vulgata) anzulegen. Diese reichte über ein Jahrtausend aus und ist erst bei der Wiederherstellung der Wissenschaft im Beginn der Neuzeit erweitert und berichtigt worden. Aber mit jedem Schritte, den das Christentum vorwärts tat, entfernte es sich immer mehr und mehr vom Judentume, und es bedurfte dazu der Beredsamkeit vieler Jahrhunderte, um ihm wieder in Erinnerung zu bringen, daß das Judentum sein Ursprung gewesen ist. Der Glaubenseifer hatte die Blutsverwandtschaft so sehr vergessen gemacht, daß selbst Hieronymus, der zu den Füßen jüdischer Lehrer gesessen, der in dem alten Testamente ebenso heimisch war wie in dem neuen, den tief eingewurzelten Judenhaß nicht ablegen konnte. Seine Feinde, die ihm seine jüdischen Studien [366] als Ketzerei zum Vorwurf machten, überzeugte er von seiner Rechtgläubigkeit durch seinen Judenhaß: »Wenn es erforderlich ist, die einzelnen und das Volk zu verachten, so verabscheue ich mit einem unnennbaren Hasse die Juden, denn sie verfluchen noch heute unsern Herrn in ihren Synagogen.«55 Er stand darin nicht allein, sondern hatte einen Gesinnungsgenossen an dem jüngern zeitgenössischen Kirchenvater Augustinus. Dieses Glaubensbekenntnis des Judenhasses war nicht die Privatansicht eines Schriftstellers, sondern ein Orakel für die ganze Christenheit, die die Schriften der als Heilige verehrten Kirchenväter gleich Offenbarungen einsog. Dieses Glaubensbekenntnis hat später Könige und Pöbel, Kreuzfahrer und Hirten gegen die Juden bewaffnet und für sie Marterwerkzeuge erfinden und Scheiterhaufen zusammentragen lassen. Merkwürdig ist, daß trotz der Hintansetzung von seiten des Staates die Juden in Cäsarea, dem Sitze des Landpflegers, die Modetorheit der Rennbahn mitmachten. Es gab unter ihnen ebenfalls Wagenlenker, Wettfahrer und Farbenparteien von Grünen und Blauen wie in Rom, Ravenna, Konstantinopel und Antiochien. Aber wie in jener Zeit jede Lebensäußerung den Stempel des einseitig Religiösen an sich trug, so mischte sich auch in den Parteikampf der Farben die religiöse Gegnerschaft. Der Sieg oder die Niederlage der jüdischen, samaritanischen oder christlichen Wagenlenker war zugleich Veranlassung zum Angriff auf die Religionsgenossen der Gegner. Allerdings waren die zahlreichen Juden in Cäsarea mehr verweltlicht als in andern Städten. Sie verstanden das Hebräische nicht und sprachen das Gottesbekenntnis im Gebete (Schema) in griechischer Sprache.56 Geschmack an der hebräischen Sprache und Sinn für die Erhabenheit der heiligen Schrift stumpften sich auch an andern Orten ab. Die unschöne formlose chaldäische Mundart hat überall den Geschmack verdorben. Die Sprachverderbnis war damals allgemein; auch die Gedrungenheit der lateinischen und die Zierlichkeit der griechischen Sprache hatte sich verloren. Es war der Anfang der Barbarei. Hebräisch gefärbte Gebete aus dieser Zeit sind nicht geeignet, die Seele zur Andacht zu erheben, und als Form haben sie bloß alphabetische Versanfänge und nichts von Poesie.57


Fußnoten

1 Scio quendam Gog et Magog tum de praesenti loco quum de Ezechielis ad Gothorum nuper in terra nostra vagantium historiam retulisse (Hieronymus, quaestiones hebraeae in Genesin). איתוג גוגמ (Jerus. Megilla I, p. 17 b).


2 Midrasch zu Psalm 36.


3 Nedarim 62 b.


4 Baba Batra 3 b.


5 Sabbat 11 a.


6 Auf R. Chama (gest. 377) folgte R. Zebid ben Uschaja (377-385), dann R. Dimi ben Chinena (385-388); Rafrem ben Papa, dessen Todesjahr unbekannt ist; R. Kahana (gest. 411); Mar Sutra (411-414); R. Acha ben Raba (414-419), endlich R. Gebiha aus Be-Katil (419-433).


7 Synhedrin 36 a.


8 Scheriras Sendschreiben. Vergl. b. Erubin 56 a; אתולג שרד אתרקסיאד, vielleicht identisch mit תרקויד (korrumpiert תרקורד?).


9 Berachot 17 b.

10 Baba Batra 157 b.R. Chananel in Aruch, Artikel Hador III. [Vergl. Lewy, Interpret. des I. Abschnittes des palästinensischen Talmudtraktates Nesikin, S. 10, A. 1].


11 Note 35.


12 Nach Mordtmann, Münzen mit Pehlwilegenden. Zeitschrift der Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft 1854, S. 63, regierte vor ihm ein wenig bekannter Jesdiǵerd I. 399-400 und Jesdiǵerd II. 400-420. [Nach Nöldeke regierte Jesdiǵerd I. 399-420, hierauf Baïrám V. 420-438 und sodann Jesdiǵerd II. 438-457. S. Tab. 419 ff.]


13 Ketubbot 61 a. Statt רוגזא muß man daselbst lesen דרגדוי, richtige Emendation Rappaports Erech Millin, p. 35.


14 Sebachim 19 a.


15 Synhedrin 87 a. Nach andern 400 Jahre nach der Tempelzerstörung = 468, oder 4231 mundi = 471; s. Aboda Sara, p. 9 b.


16 Socrates, historia eccles. VII, 36.


17 Synhedrin das.


18 Evagrii scholastici fragmenta IV, 17.


19 Kidduschin 13 a. [Aus der Stelle läßt sich nicht dies alles herauslesen, auch kann man nicht von einem Einfluß Babyloniens sprechen].


20 Note 22.


21 Codex Theodosianus L, XVI, T. 8, ) 9.


22 Note 22.


23 Chrysostomi orationes sex contra Judaeos in T. I. seiner Homilien. Sie sind wohl um 366-87 gehalten worden. Zum Beleg für die Eingenommenheit der antiochensischen Christen gegen das Judentum will ich nur einen Passus aus oratio I anführen: οἶδα ὅτι πολλοὶ αἴδουνται Ἰουδαίους καὶ σεμνὴν νομίζουσιν εἶναι τῶν ἐκείνων πολίτειαν νῠν.


24 Ambrosii epistolae, Nr. 29.


25 Codex Theodosianus das. ) 9.


26 Das. III, T. 1, § 5 vom Jahre 384.


27 Das. XIII, T. I, § 99. Es existiert noch ein Gesetz von Theodosius in betreff der jüdischen Schifferzunft in Alexandrien von 390, von dem man nicht weiß, ob es für sie günstig oder ungünstig sein sollte: Judaeorum corpus et Samaritanorum ad naviculariam functionem non jure vocari cognoscitur. Quidquid enim universo corpori videtur indici, nullam specialiter potest obligare personam. Unde, sicut inopes, vilibusque commerciis occupati naviculariae translationis munus obire non debent, ita idoneos facultatibus, qui ex his corporibus eligi poterunt, ad praedictam functionem haberi non oportet immunes. Die alexandrinischen Juden trieben damals ausgedehnte Schiffahrt, waren Matrosen und Steuermänner, wie Godefroy aus einem Zitat bei Synesius, epist. 4 anmerkt.


28 C. Th. XVI, T. 8, ) 10.


29 Das. § 11.


30 Das. § 12.


31 Das. § 13.


32 Das. II, T. 1, ) 10.


33 Das. XII, T. 1, ) 165.


34 Note 22.


35 C. Th. XVI, T. 8, § 17.


36 Das. § 16.


37 Das. II, T. 8, § 3. VIII, T. 8, § 8, auch XVI, T. 8, § 20 von 412.


38 Note 22.


39 Note 22.


40 Socrates, historia eccles. VII, 15.

41 Concilium Illibertanum, canon 49, 50.


42 Epistola Severi ad omnem ecclesiam, de virtutibus ad Judaeorum conversionem factis, c. 2.


43 Codex Theodosianus XVI, T. 8, §§ 18, 21.


44 Socrates das. VII, 16.


45 Theodoret, historia eccles. III, 1. Evagrius, h. eccl. I, 13. Simeons Schreiben an Theodosius in syrischer Sprache bei Assemani Bibliotheca orientalis I, p. 254. Die Gesetze Theodosius gegen Synagogenzerstörung, C. Theod., a.a.O. § 21 vom Jahre 412; § 25, 26 vom Jahre 423.


46 Codex Theod. das. § 24. Augustinus altercatio ecclesiae et synagogae.


47 C. Th. das. § 29.


48 Canticum Rabba zu 2, 5.


49 Jerus. Horajot, Ende.


50 Numeri Rabba, c. 19, 9.


51 Note 36.


52 Vergl. Hieronymus ad Pamachium; Praefatio in Paralipomena, in Tobiam in Job.


53 Chagiga 13 a.

54 Hieronymus, praefatio in Danielem.


55 Hieronymus adversus Rufinum II.


56 Jer. Sota 21 b.


57 [S. Cant. 12, Anfang אתיב אפלא דיבע דכ אנטייפ ןידה. Vergl. auch Rapoport, Bikkure-haittim, 10. Jahrg., p. 115 ff.].



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 368.
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