Einleitung.

[9] Es klingt zwar befremdlich und ruhmredig, ist aber darum nicht minder wahr, daß die Geschichte der Juden im Mittelalter, d.h. die Geschichte des jüdischen Stammes in Knechtsgestalt, auch eine Glanzperiode hat. Freilich, wenn man geschichtlichen Glanz leuchtende Strahlen nennt, die die Oberfläche des Daseins mit Schimmer überziehen, aber das Innere ausdörren, oder wenn man darunter versteht hellzuckende Blitze im Gefolge von rollendem Donner, welche zwar ein prächtiges Schauspiel bieten, aber dabei den Anbau der Jahrhunderte schonungslos zerstören, dann ist allerdings die mittelalterliche jüdische Geschichte vollständig glanzlos. Begreift man aber darunter still wachsende geschichtliche Saaten, die, vom Tau befeuchtet und von den Winden hin und her bewegt, sich frisch und erfreulich ausnehmen und das Gefühl der Befriedigung ins Herz gießen, dann darf man mit Fug und Recht die Periode der jüdischen Geschichte von dem staatsmännischen Rabbinen Samuel Nagid bis zum rabbinischen Weltweisen Mose Maimuni als eine reiche und glanzvolle, als eine klassische bezeichnen.

Geräuschlos blühte die Saat wissenschaftlicher Forschungen, die Saat einer lebenswarmen, wahren, reichen Poesie, die Saat einer höheren Gesittung unter den Gemeinden der pyrenäischen Halbinsel und der Kolonien, die von dort ausgegangen sind. Aus der Dürftigkeit der saburäischen Epoche hat sich die jüdische Geschichte, angeregt im Morgenlande durch den Gaon Saadia und im Abendlande durch den geistvollen Staatsmann Chasdaï Ibn-Schaprut, [9] zu einer reichen, gediegenen Kulturhöhe emporgearbeitet, welche die Beschränktheit und Einseitigkeit der naivgläubigen Lebensanschauung überwunden, läuterndes Denken in die Religion hineingetragen hat und die tiefsten Gedanken künstlerisch und anmutig zu gestalten vermochte. Die Entfaltung dieser Kulturhöhe bildet den Inhalt des beinahe 200jährigen rabbinischen Zeitalters bis Maimuni. War der jüdische Stamm bis dahin Träger der unvermittelten Religion und hatte er in seiner Wandlung zwei Religionsformen aus sich herausgesetzt, so wird er in dieser Periode zugleich Bewahrer des heilbringenden Denkens, des an Gott anknüpfenden Gedankens. Die Lehre des Sinaï ließ sich von dem Lichte philosophischer Erkenntnis durchleuchten, brachte dadurch eine neue, eigentümliche Erkenntnis hervor und kehrte eine neue Seite des menschlichen Geistes heraus. Man spricht jetzt nicht mehr so verächtlich von der mittelalterlich-christli chen Scholastik, ja man überschätzt sie sogar hin und wieder, räumt ihr jedenfalls ein, daß sie den Geistesfunken in der mönchischen Finsternis unterhalten hat. Wohlan! Diese Scholastik ist eine Tochter des Judentums und ist von jüdischen Denkern groß gezogen worden, wenn sie auch eine eigene judentumfeindliche Richtung einschlug, so wie das Christentum und der Islam Söhne des Judentums sind, wenn sie sich ihm auch entfremdet haben.

Als das Christentum erst zaghaft an die philosophische Erkenntnis herantrat, bestand bereits eine vollendete jüdische Philosophie, und ehe noch die romanische und germanische Poesie dem Wickelbande entwachsen war, hatte bereits die neuhebräische Poesie ihre Meisterschaft erreicht. Wohl haben im Altertume die Griechen und an der Grenze des Mittelalters und der Neuzeit die Italiener Größeres in Kunst und Wissenschaft geleistet, aber diese Geistesgüter blieben dort auf einen kleinen Kreis Auserwählter beschränkt, um den herum sich die Unwissenheit und die Sittenlosigkeit behaglich ausdehnte. Innerhalb des Judentums dagegen, wie es sich in Spanien gestaltete, wurden der Forschergeist und der Geschmack an dichterischen Schöpfungen Gemeingut ganzer Gemeinden und übten auf deren sittliches Verhalten einen wohltätigen Einfluß. Wie innerhalb der [10] Judenheit in betreff der Religion der Unterschied von Priestertum und Laientum nicht bestand, so auch in betreff des Forschens und geistigen Strebens in dieser Periode. Die jüdische Wissenschaft und die jüdische Poesie in der klassischen Zeit hat zugleich einen Gesinnungsadel, eine Gehobenheit der Stimmung und der Anschauung, einen mächtigen Schwung erzeugt, welche von den vielfachen Hemmnissen politischen und kirchlichen Druckes sich nicht bewältigen ließen, ja sie kaum gewahrten. Es traten zahlreiche große, reichbegabte Persönlichkeiten in dieser Periode auf, wie sie kaum irgendwo in so reicher Fülle vorkamen, und diese bilden die Merkzeichen der einzelnen Epochen innerhalb derselben. Markierte Einschnitte hat diese Periode nicht.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1896], Band 6.
Lizenz:
Kategorien: