6. Kapitel. Abulhassan Jehuda Halevi. 1105-1145.

[117] Seine Biographie, seine Jugendpoesie und seine Stellung. Sein Dichterwert, seine Zioniden. Sein philosophisches System im Buch Chozari. Seine Sehnsucht nach dem heiligen Lande. Seine Reise. Sein Aufenthalt in Ägypten. Der Fürst Samuel Almanßur. Jehudas Aufenthalt in Jerusalem. Seine Klage über Verkommenheit und seine letzte Zionide. Sein Tod und die Sage darüber.


Der Glanzpunkt dieser Zeit und ihr Hauptträger war eben dieser Abulhassan Jehuda ben Samuel Halevi (Ibn-Allevi) aus Altkastilien (geb. um 1086)1. Er verdient in den Jahrbüchern der Menschheit ein eigenes Blatt mit einem Goldrande. Um ihn würdig zu schildern, müßte die Geschichte der Poesie ihre glänzendsten Farben und lieblichsten Töne entlehnen. Jehuda Halevi war ein Auserwählter, an dem die Bezeichnung, »ein Ebenbild Gottes«, weder eine Lüge, noch eine Übertreibung ist. Lichtumflossen hat ihn der Himmel entsendet, und er blieb während seiner irdischen Laufbahn unbefleckt von irdischem Staube. Er war eine abgerundete volle Persönlichkeit ein vollendeter Dichter, ein vollendeter Denker, ein würdiger Sohn des Judentums, das er durch Dichten und Denken verklärt und idealisiert hat.

Wenn einst Spanien seine Vorurteile besiegt haben und seine geschichtlichen Größen nicht mit kirchlichem Maßstabe messen wird, so wird es in seinem Pantheon Jehuda Halevi einen Ehrenplatz anweisen. Die [117] jüdische Nation hat ihm längst die Lorbeerkrone der Poesie und den Preis inniger Frömmigkeit und fleckenloser Sittlichkeit zuerkannt.


»Rein und wahrhaft sonder Makel

War sein Lied wie seine Seele.

Als der Schöpfer sie erschaffen,

Diese Seele, selbstzufrieden

Küßte er die schöne Seele,

Und des Kusses holder Nachklang

Bebt in jedem Lied des Dichters,

Das geweiht durch diese Gnade«2.


Sein tiefsittlicher Ernst war mit Lebensheiterkeit verbunden. Die Bewunderung, die ihm zu teil wurde, störte seine Bescheidenheit nicht, und bei aller Hingebung an Freunde wahrte er sich sein Eigentum, seine Selbständigkeit der Anschauung. Seine reichen Kenntnisse gruppierten sich um einen Mittelpunkt, und wie sehr er auch Dichter im schönsten Sinne des Wortes war, hatte er doch ein lebendiges Bewußtsein von seinen Gefühlen, Gedanken und Handlungen. Er schrieb sich selbst Regeln vor und blieb ihnen getreu. Bei aller tiefen Empfindung war er weit entfernt von Schwärmerei.

Jehuda Halevis äußere Geschichte hat nichts Außerordentliches. Im christlichen Spanien geboren3, besuchte er die Lehranstalt des Alfâßi zu Lucena, weil Kastilien und Nordspanien überhaupt damals noch arm an talmudischen Autoritäten war. An der Grenze des Knabenalters weckte ihn, gleich Ibn-G'ebirol, die Muse, aber nicht gleich diesem mit wehmutsvollen Akkorden, sondern mit heitern, lebensfrohen Weisen. Er besang die glücklichen Erlebnisse seiner Freunde und Mitjünger, die Hochzeit des Ibn-Migasch, die Erstgeburt im Hause des Baruch Ibn-Albalia (um 1100). Das Glück lächelte diesem Liebling der Muse von Jugend an, und kein schriller Mißton entfuhr seiner Sängerbrust. In Südspanien wurde er mit der edlen und kunstliebenden Familie Ibn-Esra in Granada bekannt. Als er erfuhr, daß Mose Abu-Harun von Liebesgram und Selbstverbannung getroffen war, versuchte der junge Dichter den älteren Kunstgenossen zu trösten und redete ihm sanft zu Herzen. Dieser, ganz überwältigt von den schönen Versen und dem gedankenreichen Inhalt, erwiderte ihm:


[118] »Dein Schreiben, Freund, erkräftigt mich,

Zur Zeit, da Mut und Freude wich.

Ein Schreiben, gleich dem Morgenglanz,

Ein Lied, ein Geistesblütenkranz,

So kräftigen Klangs, so zart und weich,

Voll edlen Sinns und tief zugleich.

Du, Knabe noch, du zarter Sohn,

Wie kommt's, daß du ein Weiser schon,

Schon in des Wissens Tiefe drangst,

Zu solcher Höh' empor dich rangst?«4


Jehuda Halevi scheint noch in Lucena gewesen zu sein, als Alfâßi starb und Joseph Ibn-Migasch ihm im Rabbinate nachfolgte (1103). Auf den Tod des einen dichtete er eine schöne Elegie und zum Amtsantritt des andern ein Huldigungslied voller Verehrung. Der Jüngling empfand auch der Liebe Lust und Weh: er besang die Gazellenaugen seiner Geliebten, ihre Rosenlippen, ihr Rabenhaar. Er seufzte über deren Trennung und Untreue und über die Wunden, die sie seinem Herzen geschlagen. Seine Liebeslieder atmen jugendliches Feuer und raschen Flug. Der südliche Himmel spiegelt sich in seinen Versen ab, aber auch die grünen Matten, die blauen Flüsse. Seine Jugendpoesie trägt schon den Stempel künstlerischer Vollendung, reicher Phantasie und schönen Ebenmaßes, Glut und Lieblichkeit. Da ist kein Wortgeklingel, kein gedankenleerer Reim, alles zeigt Maß und Sicherheit5. Den Liebesdrang scheint Jehuda Halevi vollständig überwunden zu haben, wenigstens zeigt sich in seinem späteren Leben und seinen Gedichten keine Spur mehr davon.

Jehuda Halevi hatte sich nicht bloß die hebräische Sprache und die Kunstform neuhebräischer Poesie so sehr zu eigen gemacht, daß er sie meisterhaft beherrschte, sondern er hatte sich auch Verständnis des Talmuds verschafft, sich in Naturwissenschaften umgetan, in die Tiefe der Metaphysik versenkt und war in allen Fächern der Wissenschaft heimisch. Arabisch schrieb er mit Eleganz, und die junge kastilianische Poesie war ihm geläufig6. Seinen Lebensunterhalt gewann er mit der Arzneikunde, die er, in seine Heimat zurückgekehrt, übte. Er scheint als Arzt viel Vertrauen genossen zu haben; denn er schrieb einmal an einen seiner Freunde, daß er, in einer großen Stadt lebend, viel beschäftigt sei. Aber bei der Beschäftigung mit dem Leibe unter Siechen und Sterbenden ging ihm die Seele nicht unter, und er rettete seine ideale[119] Lebensanschauung. Interessant ist der Brief, den er im reifen Alter (um 1130) an einen Freund schrieb. »Ich beschäftige mich selbst in den Stunden, die weder zum Tage noch zur Nacht gehören, mit der Eitelkeit der Heilkunde, obgleich ich nicht zu heilen vermag. Die Stadt, in der ich lebe, ist groß, die Bewohner sind Riesen, aber es sind harte Herren. Womit könnte ich sie beschwichtigen, als indem ich meine Tage mit der Heilung ihrer Krankheit vergeude! Ich heile Babel, aber es bleibt immer siech. Ich flehe zu Gott, daß er mir bald die Erlösung sende und mir die Freiheit gewähre, die Ruhe zu genießen, daß ich zu einem Orte lebendigen Wissens, zur Quelle der Weisheit wandern könnte«7. Die Stadt, von der Jehuda hier spricht, ist Toledo, wo er im Mannesalter weilte8. Er sehnte sich daraus hinweg, weil Toledo damals noch nicht Sitz der jüdischen Wissenschaften war9.

Die ganze Kraft seines schöpferischen Geistes verwendete er für die Dichtkunst und für die gedankenmäßige Erforschung des Judentums. Von der Poesie, die ihm als etwas Heiliges und Gottentstammendes galt, hatte er eine richtigere Vorstellung als seine arabischen und jüdischen Zeitgenossen. Er sprach es deutlich aus, daß der Dichterdrang etwas Ursprüngliches, Angeborenes sein müsse, und nicht eine Kunst, die erlernt werden könne. Er spottet über diejenigen, welche Regeln über Versmaß und Reim erteilen und groß damit tun. Der wahre, berufene Dichter trage die Regel in sich und werde, ohne zu fehlen, stets das Richtige treffen10. So lange er jung war, verschwendete er das Gold seiner reichen Poesie an leichten Flitterkram, machte wie alle Welt lobschäumende Kaziden, um seine zahlreichen Freunde zu verherrlichen. Er sang von Wein und Freuden und dichtete Rätsel. Als ihn die Freunde darob tadelten (um 1110), erwiderte er ihnen in jugendlichem Übermute:


»Sah vierundzwanzig Jahre noch nicht scheiden,

Und sollt' den Weinkrug grämlich meiden?«11.


In diesen leichtgeschürzten Dichtungen gefiel er sich, die Schwierigkeit künstlich verschlungener Versmaße zu überwinden. Öfter brachte er am Ende eines Gedichtes einen arabischen oder kastilianischen Vers an12. Man erkennt an Wort und Wendung den großen Meister, der [120] mit wenigen kühnen Zügen ein vollendetes Bild zu zeichnen vermag. Seine Naturschilderungen dürfen den besten, welche die Poesie in allen Sprachen geschaffen, an die Seite gestellt werden. Man sieht die Blumen sprießen und glitzern, man schlürft in vollen Zügen den Balsam ein, mit dem seine Verse durchduftet sind. Die Zweige erliegen der Last ihrer goldenen Früchte, die Sänger der Luft hört man Liebeslieder anstimmen, er malt Sonnenschein und Luftkühlung mit meisterhafter Hand. Beschreibt er den Aufruhr eines sturmbewegten Meeres, so teilt er seinen Lesern die ganze Erhabenheit und Angst mit, die er empfunden13. Aber das alles spiegelt den Kern seiner großen Seele nicht ab, es war nur gewissermaßen der Tribut, den er der menschlichen Seite und der Mode gezollt hat. Nicht einmal seine religiösen Dichtungen, in denen er an Fruchtbarkeit seinem älteren Kunstgenossen Mose Ibn-Esra nicht nachstand – er dichtete deren dreihundert – vielmehr an Tiefe, Innigkeit und Formenglätte ihn wie alle seine Vorgänger bei weitem übertraf, offenbaren seine wahre Dichtergröße. Jehuda Halevis Bedeutung als Dichter liegt in seinen national-religiösen Schöpfungen. Da, wo er aus der Tiefe seiner Dichterbrust schöpfte, wo sein ganzes Wesen in Begeisterung aufgeht, wo er Zion und seine einstige und zukünftige Herrlichkeit besingt, wo er über seine jetzige Knechtsgestalt sein Haupt verhüllt, da ist seine Dichtung Wahrheit, da ist nichts Gekünsteltes, nichts Gemachtes, alles ist tief empfunden. Jehuda Halevis Zioniden (Gesänge von Zion) erinnern unter allen neuhebräischen Dichtungen am meisten an die Psalmen. Wenn er seinen Schmerz um Zions Witwenschaft aushaucht, oder wenn er von Zions künftigem Glanze träumt, wie es mit seinem Gotte und seinen Kindern vereint sein wird, glaubt man einen Korachiden zu hören. Jehuda Halevis reif gewordene Muse hatte ein großes Ziel, Israel, seinen Gott und seine Heiligtümer, seine Vergangenheit und Zukunft, seine Hoheit zu besingen und seine Niedrigkeit zu beweinen. Er war Nationaldichter, darum ergreifen seine Lieder jeden Leser mit unwiderstehlicher Gewalt. Ibn-G'ebirols Klagen um die eigene Verlassenheit vermögen nur schwaches Interesse zu erregen; Mose Ibn-Esras Schmerz über unglückliche Liebe und deren Folgen lassen kalt, dagegen Jehuda Halevis Trauer um seine Herzensgeliebte Zion läßt kein fühlendes Herz ungerührt.

Jehuda Halevis Nationalpoesie erhält einen um so höhern Wert, wenn man wahrnimmt, daß sie keiner dichterischen Laune entstammte, sondern von einer tiefernsten Überzeugung getragen war. Er war nicht[121] bloß vollendeter Dichter, er war auch geistvoller Denker, aber in der Art, daß Empfinden und Denken in seinem Innern in eins zusammenflossen. Poesie und Philosophie waren in seiner Brust innig verschwistert, aber beide nicht als etwas Fremdes, Erborgtes, künstlich Angeeignetes, sondern als etwas Ureigenes. Wie er die Nationalgefühle Israels in seinen Zioniden zum Ausdruck brachte, so verdolmetscht er auch, wenn man so sagen darf, die Nationalgedanken des Judentums auf eine sinnige, geistvolle Weise. Poesie und Philosophie dienten ihm nur dazu, Israels Erbe zu verklären und zu vergeistigen. Er stellte eigene Gedanken auf über das Verhältnis Gottes zur Welt, des Menschen zu seinem Schöpfer, über den Wert der metaphysischen Spekulation, über ihr Verhältnis zum Judentum und über die Bedeutung desselben gegenüber dem Christentum und Islam. Alle diese tief einschneidenden Fragen löste er nicht in trockener, scholastischer Weise, sondern lebendig, warm, überwältigend. Ist er in seinen Liedern einem Korachiden ähnlich, so gleicht er in seiner Gedankenentwickelung dem Verfasser des Hiob, nur inhaltsreicher, tiefer, umfassender als dieser. Diesem oder dem dichterischen Philosophen Plato hat Jehuda Halevi die Form seines religiösphilosophischen Systems entlehnt, die Gedanken nicht bloß in Zwiegesprächen auseinander zu legen, sondern sie an eine geschichtliche Tatsache zu knüpfen, eine Form, welche das Interesse für den Gegenstand um vieles erhöht und den Eindruck dauernd macht. Als einige Jünger ihn fragten, wie er sich das rabbanitische Judentum zurechtlege, und wie er die Einwendungen, welche die Philosophie, das Christentum, der Islam und das Karäertum gegen dasselbe vorbringen, zurückzuweisen vermöge, antwortete Jehuda Halevi mit einem umfassenden, gedankenreichen Werke in Dialogform, in einem eleganten Arabisch geschrieben. Das Werk sollte die Wahrheit des Judentums beweisen und die geschmähte Religion rechtfertigen, wie sein Titel lautete (Kitab al-Chuǵgah w' Addalil fi Nusrah Din addsali).

Ein Heide, der weder etwas von der Schulweisheit, noch von den bestehenden drei Religionen weiß, aber das Bedürfnis fühlt, sich mit seinem Schöpfer in eine innige, kindliche Verbindung zu setzen, wird von der Wahrheit des Judentums überzeugt. Dieser Heide ist der Chazarenkönig Bulan, welcher sich zur Religion Israels bekannte (B. V4, S. 199f.). Ihn nahm der Philosoph von Kastilien zum geschichtlichen Ausgangspunkt, und davon erhielt das Werk seinen Namen Chozari (falsch Kusari). Die künstlerische Einleitung spannt das Interesse des Lesers durch eine sachgemäße Einkleidung.

[122] Dem Chazarenkönig, der ein eifriger Anhänger seines Götzenkultus war und fromme Gesinnungen hatte, sei widerholentlich ein Engel im Traum erschienen, der ihm die bedeutungsvollen Worte zugerufen: »Deine Gesinnung ist gut, aber dein gottesdienstliches Tun ist verwerflich.« Um Gewißheit zu erlangen, auf welche Weise die Gottheit verehrt werden sollte, habe er sich an einen Philosophen gewendet. Der Weltweise, halb dem aristotelischen, halb dem neuplatonischen System huldigend, entwickelte dem Könige mehr den Unglauben als den Glauben. Er setzte ihm auseinander, daß die Gottheit zu erhaben sei, um zum Menschen in irgendeinem Verhältnis zu stehen oder von ihm gottesdienstliche Verehrung zu verlangen. Die Welt und das Menschengeschlecht seien ebenso urweltlich wie die Gottheit. Man bedürfe keines persönlichen Gottes, da dieser ohnehin vermöge seiner Unveränderlichkeit gar nicht auf die niedere Welt einwirken könne. Der physisch und geistig gut ausgestattete Mensch vermöge ganz ohne Religion den höchsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen durch philosophische Theorie und sittliches Leben, dann habe er Teil an dem allgemeinen Weltgeiste (der intellektuellen Welt, dem tätigen Verstande), erlange dann eine Engelsnatur und gehe ein zu der Schar der Denker, der Hermes, Asklepios, Sokrates, Plato und Aristoteles. Eine auf Glauben beruhende und in religiösen Tathandlungen bestehende Religion sei für diesen hohen Standpunkt ganz bedeutungslos, ja solch ein vollkommener Mensch könne selbst eine Religion erfinden, lehren und ausbreiten. Möglich, daß ein solcher durch Teilhaben am Weltgeiste die Zukunft durch Träume und Gesichte zu offenbaren imstande sei.

Der Chazarenkönig habe sich aber durch diese erstarrende Auseinandersetzung wenig befriedigt gefühlt. Er empfand es, wie es ihm auch der Engel im Traum angedeutet hat, daß es gottesdienstliche Handlungen von unbedingtem Werte geben müsse, ohne welche die fromme und sittliche Gesinnung ohne Bedeutung sei. Es wäre sonst auch gar nicht zu begreifen, wie das Christentum und der Islam, welche die Welt unter sich geteilt hätten, einander bekämpfen und sogar das gegenseitige Niedermetzeln für ein frommes Werk halten könnten, wodurch sie das Paradies erlangen würden, wenn gottesdienstlicher Kultus etwas ganz Gleichgültiges wäre. Beide Religionen beriefen sich außerdem auf göttliche Offenbarungen und wiesen Propheten auf, welche mit Berufung auf die Gottheit Wunder gewirkt hätten. Gott müsse also doch in irgendeiner Weise eine Beziehung zu den Menschen haben, es müsse irgend etwas Geheimnisvolles geben, wovon die Philosophen nichts ahnen. Darauf habe sich der König entschlossen, die Vertreter des Christentums [123] und des Islams zu berufen, um von ihnen die wahre Religion kennen zu lernen. Die Juden hätte er anfangs gar nicht zu Rate ziehen wollen, weil aus ihrer niedrigen Stellung und der allgemeinen Verachtung, der sie anheimgefallen seien, die Niedrigkeit ihrer Religion hinlänglich zu erkennen sei.

Das Christentum habe darauf dem Chazarenkönig sein Glaubensbekenntnis durch den Mund eines Priesters eröffnet. Die christliche Religion nehme die Urweltlichkeit Gottes und der Weltschöpfung an, lehre auch, daß alle Menschen von Adam abstammten, glaube an alles, was die Thora und die Grundschriften des Judentums lehrten, habe aber zum Grunddogma die Menschwerdung der Gottheit vermittelst einer Jungfrau aus dem jüdischen Fürstenhause. Die Christenlehre nehme an, diese Jungfrau habe einen sichtbaren Menschen, aber unsichtbaren Gott, einen erscheinenden Propheten, aber ein unsichtbares Gotteswesen zur Welt gebracht. Der Gottessohn sei eins mit dem Vater und dem heiligen Geiste. Dieser dreieinige Gott werde von den Christen als eine Einheit verehrt, wenn auch der Ausdruck ihn als eine dreifache Persönlichkeit bezeichne. Viele Juden hätten an diesen Gottessohn geglaubt, die meisten aber ihn verworfen, darum habe auch Gott sie verworfen und die Christen seien als die wahren Israeliten zu betrachten; die zwölf Apostel seien an die Stelle der zwölf Stämme getreten.

Der Chazarenkönig habe sich auch von der Auseinandersetzung des Christen nicht befriedigt gefühlt, weil diese Annahme sich mit dem Verstande nicht vertrage, sie müßte denn auf eine unwiderlegliche überzeugende Weise dargetan werden, wodurch sich die menschliche Vernunft genötigt sehe, sich gefangen zu geben. Ihm aber leuchte der Grundglaube des Christentums nicht ein, da er nicht in demselben erzogen sei; er habe es daher als seine Pflicht angesehen, noch weiter der wahren Religion nachzuforschen.

Er habe darauf einen mohammedanischen Theologen gefragt, der ihm die Grundlehre des Islams auseinandersetzte. Diese nehme die Einheit und Urweltlichkeit Gottes und die Weltschöpfung aus Nichts an, die Verähnlichung Gottes mit einem Menschen weise sie zurück. Sie lehre, daß Mohammed das Siegel der Propheten sei, der alle Völker zum Glauben berufen, den Gläubigen das Paradies mit allen Wonnen von Essen und Trinken, Liebesgenuß verheißen, dem Ungläubigen aber das ewige Feuer der Verdammnis zugewiesen habe. Die Wahrheit des Islams beruhe auf dem Umstande, daß kein Mensch imstande sei, ein so vortreffliches Buch, wie der Koran, oder auch nur eine einzige seiner Suren zu verfassen. – Auch ihm habe der Chazarenkönig entgegnet. [124] daß der vertraute Umgang Gottes mit den Sterblichen auf unumstößlichen Beweisen beruhen müsse, der Beweis von der Göttlichkeit des Korans sei für ihn kein solcher. Denn wenn sein Stil auch einen Araber zu überzeugen vermöge, so habe dieses für ihn, der des Arabischen unkundig sei, keine Beweiskraft.

Da sich der Christ und der Moslim auf das Judentum als auf die bewahrheitenden Voraussetzungen ihrer beiden Religionen berufen, so habe sich der Wahrheit suchende Chazarenkönig denn doch entschließen müssen, das Vorurteil gegen das Judentum zu überwinden und einen jüdischen Weisen zu befragen. Ein solcher, den er nach seinem Glaubensbekenntnis gefragt, habe es ihm solchergestalt auseinandergesetzt. Die Juden glauben an den Gott ihrer Vorfahren, der die Israeliten aus Ägypten befreit, für sie Wunder getan, sie ins heilige Land geführt, ihnen Propheten erweckt hat, mit einem Worte, sie glauben an das, was die heilige Schrift ihres Bundes lehrt. Darauf der Chazarenkönig: »Ich hatte wohl recht, die Juden nicht zu befragen, weil die Niedrigkeit ihrer Stellung sie um jede vernünftige Ansicht gebracht hat. Du, o Jude, hättest doch vorausschicken müssen, daß ihr an einen Weltschöpfer und Weltlenker glaubt, statt mir so trocken und abweisend ein Bekenntnis abzulegen, das nur für euch Bedeutung hat.« Darauf der jüdische Weise: »Aber gerade diese Annahme, daß Gott Schöpfer und Erhalter sei, bedarf erst des weitläufigen Beweises und die Philosophen sind verschiedener Ansicht darüber, während der Glaube, daß Gott uns Israeliten Wunder getan bat, keines Beweises bedarf und auf unumstößlicher Augenzeugenschaft beruht«14. An diesem Entscheidungspunkte angelangt, hat es der Religionsphilosoph Jehuda Halevi leicht, die Beweise für die Wahrheit und Göttlichkeit des Judentums zu entwickeln. Die Philosophie weist Gott und die Religion aus der Welt, sie weiß nichts damit anzufangen. Das Christentum und der Islam wenden der Vernunft den Rücken, sie finden sie im Widerspruch mit den Hauptlehren ihrer Religion, wenigstens wissen sie nicht etwas allgemein Überzeugendes zur Begründung ihres Bekenntnisses vorzubringen. Das Judentum dagegen geht von einer sinnesgewissen Tatsache aus, welche keine Vernunft wegzudeuteln vermag; es kann sich daher mit der Vernunft vertragen, weist sie jedoch in ihre Schranken und läßt die leicht zur Sophisterei ausartenden Verstandesschlüsse nicht zu, wo die Gewißheit auf anderem Wege zu erreichen ist.

[125] Mit seiner richtigen Ansicht über den Wert des spekulativen Denkens der dogmatischen Metaphysik steht Jehuda Halevi nicht nur in seiner Zeit allein, sondern er eilte damit auch mehrere Jahrhunderte voraus. Während die Denker seiner Zeit, Juden, Mohammedaner und Christen, Rabbiner, Ulemas und Kirchenlehrer das Knie vor Aristoteles beugten, dessen philosophische Aussprüche über Gott und sein Verhältnis zur Welt fast über die heilige Schrift setzten, wenigstens die Bibelverse so lange zwängten und deuteten, bis sie einen philosophischen Sinn aussagen mußten, und also in einem Atemzuge gläubig und ungläubig waren, hatte Jehuda Halevi den Mut, dem menschlichen Denken seine naturgemäße Grenze zuzuweisen und ihm zuzurufen: Bis hierher und nicht weiter! Die Philosophie habe keine Berechtigung, gegen offenkundige Tatsachen anzurennen, sondern müsse dies als unumstößliche Wahrheit hinnehmen und erst von da aus ihre Wirksamkeit einsetzen, sich diese Tatsachen zurecht zu legen und sie mit Gedanken zu durchleuchten. Wie im Reich der Natur das Denken die tatsächlichen Erscheinungen, so auffallend und vernunftwidrig sie auch auftreten, nicht wegleugnen darf, sondern sich bemühen muß, sie zu fassen, ebenso müsse es sich auf dem Gebiete der Gotteserkenntnis verhalten15. Diesen trefflichen und unerschütterlichen Gedanken, der erst in der neuesten Zeit nach vielen Irrgängen der Philosophie sich Bahn bricht, hat Jehuda Halevi zuerst aufgestellt. Von den Resultaten des griechischen Geistes, welchen gelehrige Philosophenjünger gierig einsogen, urteilte er in einem ebenso schönen, als wahren Gedichte:


»Laß dich durch griechische Weisheit nicht verlocken,

Die keine Früchte treibt, nur schöne Blüten.

Und ihr Inhalt? Das Weltall nicht von Gott erschaffen,

Von Urbeginn an da, umhüllt mit Mythen.

Lauschst du gierig auf ihr Wort, du kehrst zurück

Mit geschwätzigem Mund, das Herz leer, unzufrieden«16.


Der Philosophie dürfe man, nach Jehuda Halevis Ansicht, in religiösen Dingen schon deswegen keine entscheidende Stimme einräumen, weil sie öfter Schwankungen unterworfen sei, und die Jünger derselben oft entgegengesetzte Ansichten aufstellten. Wenn sie die Erkenntnis Gottes anstrebe, so verbinde sie damit nur einen theoretischen Zweck, um den Drang nach Wissen zu befriedigen, aber nicht ein höheres Ziel zu erreichen.

[126] Das Judentum könne daher nach diesem System gar nicht von der Philosophie angefochten werden, weil es auf einem festen Grunde beruhe, den der Denker respektieren müsse, auf dem Grunde der Tatsachen. Die jüdische Religion sei nicht allmählich durch eine fortschreitende Entwickelung entstanden, daß sie etwa von einem weisen Manne ausgedacht, von zuströmenden Anhängern anerkannt und verbreitet worden wäre. Sie sei vielmehr plötzlich wie eine Schöpfung ins Leben getreten. Sie sei vor einer großen Volksmenge, vor Millionen Menschen geoffenbart worden, die es wohl nicht an Prüfung und Untersuchung hätten fehlen lassen, ob sie nicht von einem Blendwerk getäuscht worden seien. Auch alle die Wunder, welche der sinaitischen Offenbarung vorangegangen und während der Wüstenwanderung sich fortsetzten, seien vor vielen Augen geschehen, wobei keine Täuschung möglich gewesen wäre. Aber nicht bloß ein einziges Mal, etwa in den Anfängen des israelitischen Volkstums, habe sich die sichtbare Einwirkung Gottes auf dasselbe erwiesen, sondern sie zeige sich öfters und äußere sich ein halbes Jahrtausend hindurch in dem Ausgießen des prophetischen Geistes auf einzelne und ganze Kreise. Vermöge dieses Charakters augenscheinlicher Tatsächlichkeit wohne dem Judentume eine größere Gewißheit inne, als sie die Weltweisheit zu geben vermöge. Das Dasein Gottes sei durch die Offenbarung am Sinaï kräftiger bewiesen, als durch Verstandesschlüsse. Wenn also das Judentum die Schöpfung des All aus nichts, die Einheit Gottes, dessen Vorsehung und väterliches Walten über das Menschengeschlecht lehre, so seien hiermit die das Gegenteil behauptenden Voraussetzungen der Philosophie wie weggeblasen. Damit glaubte Jehuda Halevi nicht bloß der philosophischen Weltanschauung seiner Zeit, sondern zugleich dem Christentum und dem Islam den Boden entzogen und das Kriterium angegeben zu haben, wodurch die wahre Religion von der falschen unterschieden werden könnte17. Das Judentum vertröstet seine Bekenner nicht auf ein seligkeitsvolles Jenseits, sondern zeigt ihnen schon hienieden einen Einblick in das göttliche Reich und erhebt durch fortdauernde, unleugbare Tatsachen die Hoffnung auf Unsterblichkeit der Seele zur Gewißheit18.

Indessen hatte er hiermit nur das Judentum im allgemeinen denkmäßig begründet, noch nicht seinen reichen Inhalt. Um diesen zu rechtfertigen, stellte Jehuda Halevi eine Ansicht auf, die jedenfalls originell und geistreich ist. Die Wahrheit der Weltschöpfung, wie sie die [127] Thora erzählt, voraussetzend, geht er von dem Gedanken aus, daß der erste Mensch, da er aus der Hand des Schöpfers ohne störende elterliche Einflüsse hervorgegangen sei, geistig und körperlich vollkommen gewesen sei und das Ideal, welches je Menschen erreichen könnten, rein dargestellt habe. Alle Wahrheiten, die dem menschlichen Geiste zugänglich seien, habe Adam ohne mühsames Erlernen durch innere Anschauung gewußt, er habe gewissermaßen eine prophetische Natur besessen und heiße darum Gottes Sohn. Diese Vollkommenheit, das geistig-sittliche Gut, habe er auf diejenigen seiner Nachkommen vererbt, die dafür vermöge ihrer seelischen Organisation empfänglich seien. Durch die lange Kette der Geschlechter, nicht ohne Unterbrechung, sei diese angeborene Tugendhaftigkeit auf den Stammvater der Israeliten, auf Abraham, übergegangen und habe sich auf die Ahnen der zwölf Stämme vererbt. Das israelitische Volk bilde daher das Herz und den Kern der Menschheit, das für die göttliche Gnade, namentlich für die Prophetengabe, ausschließlich befähigt sei19. Diese ideale Natur erhebe die Inhaber zu einem höheren Grade, sie bilde gewissermaßen die Zwischenstufe zwischen den gewöhnlichen Menschen und den Engeln. Um diese göttliche Eigentümlichkeit zu erhalten und zu pflegen, dazu bedürfe es eines Schauplatzes, der vermöge seiner klimatischen Verhältnisse das höhere Geistesleben zu fördern imstande sei. Dazu habe Gott das Land Kanaan ausersehen. Wie das israelitische Volk, so sei auch das heilige Land auserwählt worden, weil es im Mittelpunkte der Erde liege. Dort habe sich das Walten Gottes durch Erweckung von Propheten und durch einen von der Natur unabhängigen, außerordentlichen Segen oder Fluch sichtbarlich gezeigt20. Auch die Gebote und Verbote, welche das Judentum vorschreibe, seien Mittel, um die göttlich-prophetische Natur in der israelitischen Nation zu pflegen und zu erhalten. Dazu wären die Priester aus dem Hause Aarons berufen, dazu der Tempel erbaut, dazu die Opfergesetze vorgeschrieben und der ganze Kultus angeordnet. Die Gottheit allein, die alle diese Gesetze gegeben, wisse, inwiefern sie den Hauptzweck förderten. Menschliche Klügelei dürfe daran nicht mäkeln oder ändern, weil der Zweck durch eine noch so geringfügig scheinende Änderung leicht verfehlt werden könne, ebenso wie die Natur durch eine geringe Veränderung des Bodens und des Klimas andere Erzeugnisse hervorbringe21. Nicht die Pflichten der Sittlichkeit und [128] nicht die Vernunftgesetze machten die Eigentümlichkeit des Judentums aus (wie manche annähmen); diese seien vielmehr nur als Grundbedingungen zur Konstituierung und zum Zusammenhalten des Gemeinwesens anzusehen, wie denn auch eine Räuberbande des Rechts und der Billigkeit nicht entraten könne, wenn sie sich nicht auflösen wolle. Den Kern des Judentums bildeten vielmehr die Religionspflichten, die dazu geeignet seien, das göttliche Licht, die göttliche Gnade, die fortdauernde prophetische Erweckung im israelitischen Volke zu erhalten22.

Obwohl die eigentliche Bedeutung der Religionsgesetze dem menschlichen Denkvermögen entzogen sei, entzogen sein solle, spiegele sich doch in ihnen die Weisheit ihres Urhebers ab. Das Judentum schreibe weder ein einsiedlerisches Leben, noch asketische Kasteiung vor, sei überhaupt Feind des brütenden Tiefsinns, es verlange vielmehr von seinen Bekennern freudige Stimmung. Es weise jeder Seelentätigkeit und jeder Herzensregung Maß und Begrenzung zu und erhalte dadurch das Einzelleben und das Gesamtleben der Nation in harmonischem Gleichgewicht. Ein Frommer im Sinne des Judentums fliehe weder die Welt, noch verabscheue er das Leben und wünsche sich den Tod, um alsbald zum ewigen Leben zu gelangen, versage sich nicht die Lebensfreuden, sondern sei ein gerechter Herrscher über sein Gebiet, den leiblichen und seelischen Organismus. Er teile jeder Kraft des Leibes und der Seele das Gebührende zu, hüte sie vor Mangel und Überfluß, mache sie dadurch gefügig und gebrauche sie dann als willige Werkzeuge, um die hohe Stufe des in Gott wurzelnden, höheren Lebens zu erzielen23.

Nachdem Jehuda Halevi den hohen Wert des religiösen Tuns gefunden hatte, war es ihm ein Leichtes, das talmudische Judentum gegenüber dem Karäertum zu rechtfertigen und ihm auch dem Islam und dem Christentum gegenüber einen höheren Glanz zu verleihen. Sobald die Religionsgesetze, die Ritualien des Judentums, Hebel sind, um die göttliche Gnade und die prophetische Natur des israelitischen Volkes stets wach und tätig zu erhalten, so dürfen sie nicht beliebig ausgelegt, nicht willkürlich geübt, sondern müssen von vornherein fest und unverrückbar geregelt werden. Die Regelung gebe die talmudische Überlieferung, welche die feine Grenzlinie zwischen dem erlaubten und unerlaubten Tun genau verzeichne. Das Karäertum ist selbst genötigt, eine Tradition anzunehmen, aber es ist nicht folgerichtig, verwirft das eine und nimmt das andere ohne Grund und leitendes Prinzip an. [129] Daher komme es, daß die karäischen Autoritäten über manche wichtige Punkte des Judentums verschiedener Ansicht sind24. Das rabbinische Judentum gewähre dagegen dem religiösen Gewissen Beruhigung, indem es keine Schwankungen zulasse und morgen dasselbe religiös geboten und verboten bleiben werde, wie heute, während das Karäertum von der Deutung der Schrift abhängig sei und jeden Augenblick einer verschiedenen Auffassung der Religionsgesetze gewärtig sein müsse25.

Die Annahme, daß das Judentum eine Anstalt sei zu dem Zwecke, die göttlich-prophetische Natur in einem geschlossenen Kreise, in einem Stamme, der die innere Anlage dazu von Adam durch die Patriarchen und Abraham geerbt hat zu erhalten und zu fördern, mußte den kastilischen Philosophen zur Konsequenz führen, daß die Proselyten, die sich dem Judentum anschlössen, so innig religiös sie auch sein möchten, dieser höheren Natur nicht teilhaftig werden könnten. Das Judentum habe nur die Nachkommen Israels zu seinem Dienste berufen, die andern Völker dagegen seien nicht dazu verpflichtet. Träten sie zum Judentume über, so hätten sie Teil an den äußerlichen Segnungen, welche Gott den Israeliten für Befolgung der Gesetze verheißen habe, aber nie könnten sie den hohen prophetischen Grad erreichen26. Die Christen und Mohammedaner, obgleich sie auf dem Judentume fußen und das heilige Land verehren und dahin wallfahrten, betrachtete Jehuda Halevi als Götzendiener, die nur mit dem Gegenstand der Verehrung gewechselt haben. Es war allerdings richtig, was er von den Anhängern der beiden Religionsformen zu seiner Zeit behauptete, daß die Christen ein hölzernes Kreuz und die Mohammedaner den schwarzen Stein der Kaaba verehrten, also ganz in biblischem Sinne Verehrer von Holz und Stein waren27. Aber dem Christentum und dem Islam in ihrer ursprünglichen Gestalt ließ Jehuda Halevi Gerechtigkeit widerfahren; sie seien Veranstaltungen zur Läuterung und Veredelung der Menschheit. Die Knechtsgestalt, die Israel in der Verbannung unter den Völkern der Erde angenommen hat, ist nach der Ansicht des dichterischen Philosophen kein Beweis für seine Verkümmerung und seine Hoffnungslosigkeit. Ist doch auch die Machtentfaltung, deren das Christentum und der Islam gleicherweise sich rühmen, kein Beweis für die Göttlichkeit ihrer Lehre. Denn es könne doch nur das eine oder das andere die wahre Religion [130] sein, wenn von der äußeren Stellung auf die innere Würdigkeit geschlossen werden sollte. Armut und Elend, verachtet in den Augen der Menschen, stehen in den Augen Gottes höher als aufgeblähte Größe und Stolz. Sind doch auch die Christen nicht stolz auf ihre Machthaber, sondern auf die Dulder, auf Jesus selbst, der da empfahl, dem, der die rechte Wange schlägt, auch die linke zu reichen, und auf die Apostel, welche in Niedrigkeit und Verachtung das Märtyrertum erlitten haben. Ebenso rühmen sich die Mohammedaner der Gehilfen ihres Propheten, die viel Leid seinetwegen erduldet haben28. Der größte Dulder ist aber Israel, weil er im Menschengeschlechte das ist, was das Herz im menschlichen Organismus. Wie dieses an allen Leiden des Körpers den lebhaftesten Anteil hat, ebenso wird die jüdische Nation von jedem Mißgeschick, das geflissentlich oder unwillkürlich von den Völkern ausgeht, am unbarmherzigsten betroffen. Von Israel gelte das Wort, welches der große Prophet die Völker der Erde sprechen läßt: »Es trägt unsere Krankheit und unsere Schmerzen sind ihm aufgeladen.« Das jüdische Volk ist aber trotz seines namenlosen Elendes nicht erstorben, es gleicht vielmehr einem gefährlich Kranken, den die Kunst der Ärzte allerdings aufgegeben hat, der aber seine Rettung von einem Wunder erwartet. Von Israel gelte das Bild von den zerstreuten Totengebeinen, welche auf des Propheten Wort sich aneinander fügten, Fleisch und Haut annahmen und von Odem belebt, wieder auferstanden; das alles sei vollständig Israel in seiner verkümmerten Gestalt29. Die Zerstreuung Israels ist eine wunderbare göttliche Veranstaltung, um die Völker der Erde mit dem ihm verliehenen Geiste zu durchdringen. Der israelitische Stamm gleiche einem Samenkorne, das in die Erde gelegt, dem Auge eine Zeitlang verwest, in die Elemente seiner Umgebung verwandelt erscheine und keine Spur seines früheren Wesens behalten habe, dann aber, wenn es keimt und sprießt, seine ursprüngliche Natur wieder annehme, die entstellenden Hüllen von sich stoße, die Elemente läutert und sie nach seinem Wesen umwandelte, bis es sie von Stufe zu Stufe zur höheren Entfaltung bringt. Wenn das Menschengeschlecht einst, durch das Christentum und den Islam vorbereitet, die wahre Bedeutung der jüdischen Nation als Trägerin des göttlichen Lichtes anerkennen wird, so wird es die Wurzel ehren, auf die es früher mit Verachtung herabgesehen hat. Es wird sich mit ihm innig vereinen, wird geläuterte Frucht werden, wird in das Messiasreich eingehen, welches die Frucht des Baumes ist30.

[131] Gewiß, die hohe Bedeutung des Judentums und des Volkes, das es bekennt, ist noch nie beredter gepredigt worden. Gedanken und Gefühle, Philosophie und Poesie haben sich in diesem originellen System Jehudas, des Kastiliers, verschmolzen, um ein hohes Ideal aufzustellen, das der Vereinigungspunkt von Himmel und Erde sein soll. Die Kunstgriffe, welche die früheren jüdischen Religionsphilosophen gebrauchten, um das Judentum als göttlich darzustellen und vor dem Tribunal der Vernunft zu rechtfertigen – daß seine Grundwahrheiten der Philosophie nicht widerstritten und daß es auf reine Sittlichkeit abziele – diese Kunstgriffe verwarf Jehuda Halevi, da sie gerade den Grundkern des Judentums gewissermaßen verstecken oder nur obenhin berühren. Der kastilische Religionsphilosoph verschmähte jeden äußern Maßstab als unzureichend für die Größe des Judentums. Er verachtete das Gerüste aufeinander getürmter Schlußfolgerungen, weil sie trotz ihrer scheinbaren Festigkeit keine beruhigende Gewißheit für das religionsbedürftige Gemüt gewähren. Er dagegen geht von festen Tatsachen aus, denen so viel Beweiskraft innewohne, daß sie der eigensinnigste Zweifler selbst nicht anzufechten vermöge und auf diesen Grund erbaut er den Tempel des Judentums, sogar des rabbinisch-talmudischen Judentums, an dem ihm kein Titelchen unwichtig und unwesentlich erscheint. Sein System, so viel schwache Seiten es auch dem tiefen Blick verrät, enthält dennoch viel Wahres, vor allem ist es national und der Weg, den er eingeschlagen, ist der einzige, der zum richtigen Verständnis des Judentums führt.

Eigen ist es, daß das religionsphilosophische System des Chozari, obwohl das Werk kaum drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen ins Hebräische übersetzt wurde, keinen nachhaltigen Eindruck auf die Denker der Zeitgenossen hervorgebracht und nur sehr wenig zur Fortentwicklung des Judentums im Mittelalter beigetragen hat. Man verehrte den Verfasser hoch, wendete auf ihn den Vers an: »Hüte dich, den Leviten zu verlassen,« man eignete sich manches aus seinem System an, ließ sich aber nicht davon befruchten. Die Zeit hatte noch kein Verständnis für die vollendete Schöpfung, welche die jüdisch-spanische Kultur erzeugt hatte. So wie Ibn-G'anachs großartige Leistungen auf dem Gebiete der Bibelforschung, so blieben auch Jehuda Halevis Ideen über das Judentum unbeachtet; beide finden erst in der Gegenwart ihre gerechte Würdigung.

Abulhassan Jehuda gehörte nicht zu denen, welche erhaben denken und niedrig handeln; Gesinnung und Tat flossen bei ihm in eins zusammen. Sobald er zur Überzeugung gekommen war, daß der hebräischen Sprache und dem Lande Kanaan eine eigene Göttlichkeit innewohne. [132] daß sie geweihte Gefäße für einen heiligen Inhalt seien, beherrschte diese Überzeugung auch seine Handlungsweise. Er ließ eine Zeitlang die Schätze seines Dichtergeistes unbenutzt, weil er es für eine Entweihung hielt, die heilige Sprache zum Affen der arabischen Versmaße zu machen. Wären Reim und Versmaß wesentliche poetische Schönheiten, meinte er, so hätten sich ihrer die Propheten und Psalmisten bedient: sie ließen sie aber unbeachtet, weil diese Kunstform den ausdrucksvollen hebräischen Stil nur verunstalte31. Zu seiner Abneigung gegen die neuhebräische Poesie trugen auch viel die Pfuscherarbeiten von Dichterlingen bei, welche den großen Meistern die Handgriffe abmerkten und ihr abgemessenes Reimgeklingel als vollendete Poesie ausgaben. Seine Verehrer konnten aber seine Unlust an dichterischem Schaffen nicht begreifen und tadelten sein Verstummen. Einer derselben, ein Rabbiner Jechiel, stellte ihn einst darüber zur Rede in einem Doppelverse:


»Warum will Juda uns kein Lied mehr singen?

Hat seine Jugendliebe er vergessen?«


Darauf antwortete der Dichter in Unmut:


»Des Sanges Quell ist Schlamm und Sumpf geworden,

Daran mag meine, Seele sich nicht laben.

Wie soll der Leu noch Lust an Pfaden haben,

Darauf sich tummeln niederer Tiere Horden?«32.


Indessen wie ernst gemeint auch das Gelübde gewesen sein mag, nicht mehr hebräisch zu dichten, auf die Dauer konnte es der vollendete Meister nicht erfüllen. Brauchte er doch die Poesie, um die Ideale seines Innern lebensvoll zu verkörpern; war es ihm doch ein unabweisliches Bedürfnis, sich und andere mit des Liedes Zauberwort zu begeistern. Er vergaß daher bald sein Gelübde und dichtete weiter. Aber einen anderen Entschluß, den er in tiefster Seele faßte, vollführte er und brachte ihm die größten Opfer. Es stand dem philosophischen Dichterfest, daß das heilige Land die Spuren göttlicher Gnade trage. Seine Dichterseele war ganz erfüllt von der geistigen Herrlichkeit Palästinas. Aus dem verblichenen Glanze seines verkümmerten Zustandes könne man noch höhere Erleuchtung saugen. Die Wollust des Schmerzes durchzuckte sein Herz bei dem Gedanken an die heiligen Trümmer. Für ihn mündeten die Pforten des Himmels noch immer in die Tore [133] Jerusalems ein, dort ergießt sich noch immer die göttliche Gnade und vermag dem empfänglichen Gemüte Beseligung und höheren Frieden zu gewähren. Dorthin wollte er ziehen, dort seiner Innerlichkeit leben und sich vom Gotteshauche durchwehen lassen. Als er sein religionsphilosophisches Werk begann, sprach er schmerzlich davon, daß er gleich andern so abgestumpft gegen das heilige Land sei und mit den Lippen Sehnsucht nach demselben ausdrücke, aber sie nicht zu verwirklichen strebe33. Je mehr er sich aber in die Wichtigkeit des heiligen Landes zur Empfänglichkeit für göttliche Gnadengaben hineindachte, je mehr reifte in ihm der Entschluß, dorthin zu wallfahrten und sein Alter dort zu beschließen34.

Die Schwierigkeit und Gefahren, denen er entgegengehen würde, verhehlte sich Jehuda nicht, aber doch war er in einer Täuschung begriffen. Er schien nämlich zu glauben, da das heilige Land den übermütigen Moslemim entrissen wurde und unter christlicher Herrschaft stand, werde er die Erlaubnis erhalten, in einem stillen Winkel seiner Andacht zu leben, oder gar da die messianische Zeit der Erlösung zu erwarten. Am meisten verhaßt war ihm, der im christlichen Spanien geboren war, die Herrschaft des Islam, »des Sohnes der Sklavin Hagar«. Auf ihn bezog Jehuda Halevi, wie die meisten Juden Andalusiens, Daniels Bild von dem vierten Reich, das aus Erz und Ton vermischt. auf tönernen Füßen ruht und von göttlicher Hand zertrümmert werden würde. Dann werde die Herrschaft an den Menschensohn, an Israel gelangen. Die Selbstzerfleischung der Mohammedaner in Spanien und die häufigen Siege der christlichen Fürsten über dieselben ließen ihn die Zeit als nahe bevorstehend erwarten. Seine Seele war so tief ergriffen von dem Gedanken an die heilige Stätte, daß er ihm in Traumgestalten vorschwebte. So hatte er einst einen sein Gemüt tief erschütternden Traum, der ihm den Sturz des Islams zeigte. Diesen Traum und die daran geknüpfte Hoffnung verkörperte er in einem meisterhaften Gedichte:


»Ziehe ein den stolzen Arm, Hagars Sohn!

Der deiner Herrin Kind bedroht mit Hohn.

Ich hab' im Traume deinen Sturz gesehen,

Vielleicht ist's wachend schon um dich geschehen.

Trifft das Jahr achthundert und neunzig ein – (1130),

Dann wird dein Hochmut gebrochen sein35.


[134] Das war die Täuschung, der sich Jehudas glaubensvolles Herz hingab. Der nationale Gedanke, der ihn ganz beherrschte, hob ihn über die beengte Gegenwart hinweg. Ein andermal sah er im Traume den Tempel wieder hergestellt, die Priester beschäftigt mit weihevollen Handlungen und hörte den Levitenchor an sein Ohr rauschen.

Diesem unwiderstehlichen Drang nach Zion, der gnadenreichen Stadt, entsprang ein Kranz der gemütvollsten Lieder, die eben so wahr empfunden, wie schön gebaut sind. Die Zionide, deren Schöpfer Jehuda Halevi ist, bildet die höchste Blüte der neuhebräischen Poesie und darf mit den Psalmen wetteifern.


O, Stadt der Welt, du schön in holdem Prangen,

Aus fernem Westen sieh' mich nach dir bangen.

O, hätte ich Adlers Flug, zu dir entflöge ich,

Bis deinen Staub ich netz' mit feuchten Wangen.

Im Osten weilt mein Herz,

Ich selbst an Westens Rand.

Wie soll erfreuen mich,

Woran sonst ich Lust empfand?

Wie mein Gelübde lösen,

Wenn ich in Edoms Hast

Zion – ich selbst in Arabiens Joch gebannt?

Wie gilt Hispaniens Gut mir nichts.

Wie mir so hoch dein Staub zu schauen,

Die Stätte, wo einst dein Tempel stand36.


Das ist der Grundton, der durch alle Zionsgesänge durchklingt. Aber wie mannigfach weiß er das Thema zu behandeln. Welch einen Reichtum an Empfindungen, Bildern und Wendungen entfaltet er dabei! Die israelitische Vorzeit entsteht in seinen Versen in verklärter Gestalt, der Volkskörper in der Gegenwart erscheint bald mit der Dornenkrone tausendfachen Leides, bald mit der Strahlenkrone einer glorreichen Zukunft. Der Inhalt seiner lyrischen Ghaselen ergießt sich unwillkürlich in die Seele des Lesers und teilt ihm Schmerz und Wehmut, Hoffnung und Jubel mit, und lange bleibt sein tiefer Eindruck haften, gemischt aus Schwärmerei und Überzeugung.

Der national begeisterte Dichter gab sich Mühe, seinen Glaubensbrüdern die Sehnsucht nach Jerusalem mitzuteilen und sie zu einer Art Heimkehr zu bewegen. Ein Lied, schwungvoll und lieblich, forderte die Nation, »das ferne Täubchen«, auf, die Gefilde Edoms und Arabs (der Christenheit und des Islams) zu verlassen und ihr heimatliches Nest in Zion aufzusuchen37. Es blieb ohne Echo. Es gehörte eine hochgespannte. [135] ideale Auffassung dazu, wie sie den frommen Dichterphilosophen durchdrang, um an einen so kühnen Flug auch nur zu denken. Einer seiner Freunde versuchte, ihn in seinem schwärmerischen Entschluß wankend zu machen, in einem Briefe von ernstem und spöttelndem Inhalte. Jehuda Halevi blieb die Antwort nicht schuldig und rechtfertigte seinen Entschluß mit leidenschaftlichem Feuer. »Haben wir im Morgen- oder Abendlande eine feste Stätte, wo wir sicher weilen dürfen,« macht er unter anderen Gründen geltend38. Wie mit unsichtbaren Banden fühlte sich seine Seele zu der Urheimat hingezogen, er konnte sich ihnen nicht entwinden. Als er sein unsterbliches Werk, den Dialog des Chozari, vollendet hatte (um 1141), dachte er ernstlich daran, die heilige Reise anzutreten. Eine Veränderung in seinen Lebensverhältnissen, die er nur andeutet, beseitigte jede Bedenklichkeit. Er traf nun alle Vorkehrungen dazu. Nicht geringe Opfer brachte er diesem bewunderungswürdigen, wenn auch abenteuerlichen Entschlusse. Er tauschte sicheres behagliches Leben gegen Unruhe und Ungewißheit ein, er verließ seine einzige Tochter und seinen Enkel Jehuda, die er wie seinen Augapfel liebte. Er verließ das Lehrhaus, das er in Toledo gegründet und einen Kreis von Jüngern, die er als Söhne liebte und die ihn als Vater verehrten39. Er sagte Lebewohl seinen zahlreichen Freunden, die ihm neidlos als einer anerkannten Größe huldigten, und von denen einer sagte: »Ganz Jakob bekennt sich zu Jehuda«40. Aber dieses alles schien ihm gering gegen die Liebe zu Gott und zum heiligen Lande. Er wollte sein Herz zum Opfer auf der geweihten Stätte bringen und sein Grab in dem gebenedeiten Staube finden41.

Als er, mit reichen Mitteln ausgestattet, seine Reise antrat, glich sein Zug durch Spanien einem Triumphe. Seine zahlreichen Verehrer in den Städten, die er durchzog, erschöpften sich in Aufmerksamkeiten gegen ihn. Der greise, philosophisch gebildete und dichtende Rabbiner Joseph Ibn-Zadik überreichte ihm im Namen der Freunde ein Geschenk, begleitet von einem Huldigungsgedichte, das herzenswarm und tiefempfunden klingt. Er nennt ihn Vater des Gesanges, als wäre die Dichterin Deborah seine Amme gewesen, und als hätte Agar ihn erzogen.


»Wer vermag zu deiner Größe hinanzudringen?«


[136] Jehuda wies das Geschenk taktvoll zurück und lehnte die Huldigung mit Bescheidenheit ab42. In Granada bereiteten ihm die Freunde ebenfalls einen schmeichelhaften Empfang und der Rabbiner David Ibn-Mohaǵar überreichte ihm einen reich verzierten Betmantel zum Andenken, den er annahm: seinen Dank dafür sprach er in einem Gedichte aus. Dem Dichter Jehuda Ibn-Giat, den er nicht sprechen konnte, hinterließ er ein schönes Gedicht, worin er zugleich den Granadensern für die Aufmerksamkeit dankte43. Mit einigen treuen Begleitern44 schiffte er sich auf ein Fahrzeug ein, das nach Ägypten segelte (um 1141). In die enge Bretterwelt eingeschlossen, wo er keinen Raum fand zu sitzen und zu liegen, ausgesetzt den gemeinen Späßen roher Seeleute, seekrank und gebrochenen Körpers, hatte seine Seele doch die Flugkraft, sich zu lichten Kreisen zu erheben. Seine Ideale waren seine treuesten Begleiter. Die Stürme, welche das Schiff wie einen Kinderball den Wellen zuschleuderten und »zwischen ihm und dem Tode nur eine Spanne ließen« entlockten seiner Brust Seelieder, die an Wahrheit der Schilderung und Gefühlstiefe wenig Seitenstücke haben45.


»Das Meer stürmt, meine Seele ist froh,

Sie naht sich dem Tempel ihres Gottes!«


Durch widrige Winde verzögert, mußte gegen das Hüttenfest (September) das Schiff in Alexandrien in den Hafen einlaufen und Jehuda begab sich zu Religionsgenossen mit dem festen Entschlusse, nur kurze Zeit unter ihnen zu verweilen und das Ziel seiner Reise nicht aus den Augen zu lassen. Aber kaum wurde sein Name genannt, so flogen ihm die Herzen zu. Der angesehenste Mann der alexandrinischen Gemeinde, der Arzt und Rabbiner Aaron-Ben-Zion Ibn-Alámâni, mit Glücksgütern und Söhnen gesegnet und selbst liturgischer Dichter, beeilte sich, ihn als einen hohen Gast in seinem Haus aufzunehmen, ihm die höchsten Ehren zu erweisen und ihm und seinen Begleitern sein gastfreundliches Haus zur Verfügung zu stellen. Unter der sorglichen Pflege liebender Freunde erholte er sich von der Seereise und drückte seine Dankbarkeit in schöngeformten hebräischen Kaziden aus. Das Haus Ibn-Alámânis gab sich so viel Mühe, ihn zu fesseln, daß er trotz seiner Sehnsucht statt weniger Tage nahe an drei Monate, bis zum Chanukafeste, in Alexandrien blieb46. Mit Gewalt riß er sich[137] vom Herzen so lieber Freunde los, um nach der Hafenstadt Damiette zu reisen, wo er einen guten Freund Abu Said ben Chalfon Halevi hatte, mit dem er schon von Spanien aus bekannt war47. Aber er mußte seine Reise ändern; denn der jüdische Fürst Abu Manßur Samuel ben Chananja, der ein hohes Amt am ägyptischen Kalifenhofe bekleidete, sandte ihm ein dringendes Einladungsschreiben seine Gastfreundschaft in Kahira anzunehmen.

Abu-Manßur Samuel scheint Leibarzt des fatimidischen Kalifen von Ägypten, Al-Hafidh Leddin-Allah gewesen zu sein, der ihn wegen bewiesener Rechtlichkeit sehr hoch schätzte. Der Kalif hatte nämlich einen ungeratenen Sohn Hassan, der als Wesir eine Plage des Landes war. Der Vater wollte sich seiner entledigen und forderte seinen jüdischen und mohammedanischen Arzt auf, dem Sohne Gift zu geben. Der Jude weigerte sich dessen hartnäckig und erwiderte: »Ich verstehe mich nur auf Brechmittel, Kornwasser und dergleichen.« Der mohammedanische Arzt ging aber darauf ein und räumte Hassan aus dem Wege, Nach geschehener Tat aber scheint den Kalifen die Reue angewandelt zu haben, er verwies den Giftmischer, den jüdischen Arzt dagegen stellte er so hoch, daß er in seinem Palaste wohnen mußte (um 1134-35)48. Infolgedessen scheint Abu-Manßur die Oberhoheit über die jüdischägyptischen Gemeinden mit dem Titel Fürst (Nagid) erhalten zu haben. Von diesem Manne wurde nun der pilgernde Dichter eingeladen. Jehuda Halevi konnte diese schmeichelhafte Einladung um so weniger ablehnen, als ihm daran lag, von dem jüdischen Fürsten, dessen Ruf weit verbreitet war, Empfehlungsbriefe für seine Reise nach Palästina zu erhalten. Aber die Andeutung Abu-Manßurs, daß er ihn auch mit reichen Geldmitteln unterstützen wolle, wies er in einem Schreiben zart ab, »da ihn Gott mit Gütern so sehr gesegnet, daß er viel aus seinem Hause mitgenommen und noch manches zurückgelassen habe«49. Dem Briefe folgte er selbst auf einem Nilschiffe nach. Der wunderbare Fluß rief in ihm Erinnerungen aus der israelitischen Vorzeit wach und mahnte ihn an sein Gelübde. Die Erinnerung verewigte er durch zwei [138] schöne Gedichte50. Von dem Fürsten Abu-Manßur gastlich in Kahira empfangen, sonnte er sich in dessen Glanze und besang dessen Freigebigkeit, Ruhm und drei edle Söhne51. Einen ergebenen Freund fand der Pilger dort noch an dem Vorsteher des Lehrhauses, Nathan ben Samuel, dem er das größte Lob spendete52. In Kahira überkam ihn wie der die Lust, sich in Liebesliedern zu versuchen und es gelang ihm, obwohl nahe an sechzig, ganz vortrefflich. In einem Gedichte an Aaron Alámâni vereinte er Heiterkeit der Liebesgesänge, Lob auf den Freund mit seiner Sehnsucht nach der heiligen Stätte53. Doch lange ließ es ihm keine Ruhe in Kahira, er eilte, nach der Hafenstadt Damiette zu kommen, wo er gegen den Fasttag des Tebet (Dezember54 um 1141-42) eintraf. Viele Freunde empfingen ihn in dieser Stadt, vor allem sein Freund Abu-Said Chalfon Halevi, ein Mann von großen Verdiensten. Ihm und den anderen Freunden widmete er schöne Denkverse. Die Freunde versuchten auch hier seinen Entschluß, nach Palästina zu reisen, wankend zu machen; sie schilderten ihm die Gefahren, denen er sich aussetzen würde und bemerkten ihm, daß sich auch an Ägypten Erinnerungen göttlicher Gnadenwaltung in den Uranfängen der israelitischen Geschichte knüpfen55. Er aber erwiderte: »In Ägypten hat sich die Vorsehung nur wie in der Hast gezeigt, bleibenden Sitz hat sie erst im heiligen Lande genommen«56. Nun riß er sich endlich von den neuen ägyptischen Freunden und Bewunderern los, um seinem Ziele zuzueilen. Wohin er sich zunächst wendete, ist ganz dunkel.

In Palästina herrschten damals die christlichen Könige und Fürsten, die Seitenverwandten des Helden Gottfried von Bouillon, und diese gestatteten den Juden, wieder im heiligen Lande und sogar in der christlich gewordenen Hauptstadt zu wohnen. Die Gegend war zur Zeit von Jehudas Reise keineswegs durch Kriegszüge beunruhigt, da die seit einem Menschenalter in Palästina angesiedelten Christen, die verweichlichten Pullanen, die Ruhe liebten und sie um jeden Preis von den feindlichen islamitischen Emiren erkauften. Die Juden waren auch an den kleinen Höfen der christlichen Fürsten Palästinas angesehen, und ein christlicher Bischof beklagte sich, daß diese durch Einfluß ihrer Frauen sich lieber jüdischen, samaritanischen und sarazenischen Ärzten anvertrauten, als lateinischen (christlichen)57, wahrscheinlich weil die letzteren Quacksalber waren.

[139] Jehuda Halevi scheint auch das Ziel seiner Sehnsucht erreicht zu haben und in Jerusalem gewesen zu sein, aber nur auf kurze Zeit. Die christlichen Bewohner der heiligen Stadt scheinen ihm viel zugesetzt und ihm den Aufenthalt in derselben verleidet zu haben. Darauf mag sich eines seiner innigen, religiösen Gedichte beziehen, das in den Mittelstrophen klagt:


»Mein Auge sehnte sich, deinen Glanz zu schauen,

Aber als wär' ich dessen unwürdig,

Konnte ich nur deines Tempels Schwelle betreten.

Meines Volkes Leid mußte auch ich ertragen,

Wandere darum irr' umher,

Mag andern Wesen nicht dienen«58.


Seine letzten Lebensschicksale sind unbekannt geblieben, wir wissen nur, daß er in Tyrus und Damaskus war. Die jüdische Gemeinde in Tyrus nahm ihn ehrenvoll auf, und er prägte das Andenken an sie in sein liebevolles Herz. In einem Gedichte an seinen tyrischen Freund klagte er über seine getäuschte Hoffnung, über seine geschwundene Jugend, über seine Verkommenheit, Verse, die sich nicht ohne Rührung über den gesunkenen Mut eines so heldenmütigen Kämpfers lesen59. In Damaskus dichtete er sein Schwanenlied60, die herrliche Zionide, welche wie die Assaf-Psalmen Sehnsucht nach Jerusalem wecken. Sein Todesjahr und seine Grabstätte sind ebenfalls unbekannt. Die Sage dichtete von ihm, er sei von einem mohammedanischen Ritter überritten worden, als er seine wehmutsvolle Zionide sang61, und läßt ihn in Kephar-Kabul begraben sein62. Die gedrungene Grabschrift, die ihm ein unbekannter Verehrer weihte, lautet:


»Frömmigkeit, Sanftmut, Edelsinn,

Sprechen: wir sind mit Jehuda hin«63.


Sie drückt aber nur den kleinsten Teil dessen aus, was diese ätherische und doch gefestigte Persönlichkeit bedeutete. Jehuda Halevi war das verklärte Bild des sich selbst bewußten israelitischen Volkes, das sich in seiner Vergangenheit und Zukunft gedanklich und künstlerisch darzustellen sucht.


Fußnoten

1 Sein Geburtsjahr zu ermitteln haben sich bemüht Rapaport, Luzzatto (Kerem Chemed VII. 267), Edelmann (Ginse Oxford VIII f.), Geiger (Divan 116f.), D. Cassel (Cusari S. 5, Note 6). Am richtigsten ist Rapaports Annahme, daß seine Geburt zwischen 1085-1086 fällt, da er seine Reise nach Palästina nicht vor dem Jahre 1141 unternahm und in einem Gedichte, das ihn zu seiner Wallfahrt ermutigen sollte, sich selbst als »in den Fünfzig stehend« schildert. Nehmen wir an, daß er damals im fünfundfünfzigsten Lebensjahre stand – älter darf man ihn zu der Zeit nicht denken – so fiele sein Geburtsjahr 1086.


2 Heine, Romanzero »Jehuda ben Halevi«.


3 Toledo war sicherlich nicht seine Geburtsstadt, da diese Stadt erst 1086 von Alfonso VI. erobert wurde, und diese Provinz von jüdischen Schriftstellern immer noch Sefarad genannt und von Kastilien und Leon genau unterschieden wurde. Toledo wurde nie zum Lande »Edom«, zum christlichen Spanien, gerechnet.


4 Dukes a.a.O. S. 99. Divan des Kastiliers Abulhassan S. 15.


5 Ginse Oxford 23. Divan 123.

6 Vgl. Divan 28 und 127.


7 Divan 129.


8 Vgl. Landshut, Amude Aboda 1. S. 77.


9 Responsum des Joseph Ibn-Migasch in Peer ha-Dor No. 211, 214.


10 Chozari V. No. 16.


11 Orient. Litbl. 1850 col. 398.


12 Divan 135, 137, 138, 141.


13 Ginse Oxford 41. Die Seestücke in Betulat 86 und Orient 1851, 462.


14 Chozari 1-13.


15 Chozari I, 5.


16 Betulat 56, Ende; Geiger, Divan 86.


17 Chozari I. 27-91.


18 Das. 104-109.


19 Chozari 47, 95, 103, IV. 15.


20 Das. 109, II. 10-14, 22. V. 22.


21 Das. 99, II. 50.


22 Chozari III. 48.

23 Das. II. 1-5.


24 Chozari 23-38.


25 Das. 50.


26 Das. I. 27, 101.


27 Das. IV. 11.


28 Chozari I. 113, IV. 22.


29 Das. II. 34-42.


30 Das. IV. 23.


31 Chozari, II. 66. Parchon Aruch, Einl. S. 56.


32 Divan 55, 113.


33 Chozari II. 24-25.


34 Das. V. Ende.


35 Orient 1850, 399ff. Divan 81, 159


36 Betulat 53, Sachs, religiöse Poesie 292f.


37 Divan 158.


38 Betulat S. 54 Nr. 4.


39 Betulat 62 und Luzzattos Anmerk. Ginse 45 und Orient 1850. 474, Divan 73.


40 Mitjahadim (םידהיתמ) Divan 143.

41 Seine Liedersammlung, 1, 36.


42 Betulat 58f.


43 Das. 19.


44 Folgt aus dem Brief an Samuel Abu-Manßur das 111.


45 Das. 62-67.


46 Betulat 77ff., 83, 111.


47 Betulat 89. Luzzattos Anmerkung.


48 Ibn-Alathir, schwedische Übersetzung I, p. 25.


49 Erster Brief Betulat 110ff. Wunderlich ist es, von dem Manne, dessen Sehnsucht nach Zion ihn von seiner Heimat und den Herzen der Seinen losgerissen hat, anzunehmen, er habe sich in Ägypten mit Handelsgeschäften abgegeben. Der Passus in dem Briefe (Betulat S. 112), woraus dieses Faktum gefolgert wurde, ist sicherlich korrumpiert, da auch der Reim nicht paßt.


50 Betulat 91.


51 Das. 92, 98.


52 Das. 86, 113ff.


53 Das. 100.

54 Das. 89, Nr. 27.


55 Das. 109, Nr. 43.


56 Das. 106f.


57 Wilhelm von Tyrus, Historia, B. XVII, c. 3. zum Jahr 1161.


58 In Kerem Chemed IV. S. 25. Graetz, Blumenlese p. 110. Nr. 37.


59 Ginse Oxford, S. 19 b.


60 Das. Vorrede p. IX. Anmerk. 1.


61 Ibn-Jachja in Schalschelet ha-Kabbala.


62 Zacuto Jochasin.


63 Ginse Oxford, p. 27. Graetz das. 111.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1896], Band 6, S. 141.
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Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

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Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

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Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

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