2. R. Haï Gaon und sein Verhalten zur Philosophie und Mystik.

[349] Rapaport hat in der Biographie des R. Haï von demselben geurteilt, er habe gleich seinem Vater Scherira der Mystik gehuldigt, d.h. nach dem richtigen Begriffe, den wir jetzt von dieser Doktrin haben, dem Anthropomorphismus der Muschabbiha. Es sprechen aber so viele Momente dagegen, und die Beweise für R. Haïs Hinneigung zur Mystik stehen auf so schwachen Füßen, daß dieser Punkt neu erörtert werden muß. In einem Gutachten des R. Haï, welches Eliëser Aschkenasi Tunensis in der Sammlung (םינקז םעט S. 54ff.) ediert hat, tritt R. Haï gerade als vollständiger Gegner der Mystik auf, behauptet, daß alles, was von Wundertätigkeit der Mystiker vermittelst der Gottes-und Engelnamen erzählt wird, leeres Geschwätz sei, und beweist es besonders dadurch, daß, wenn es frommen Männern möglich wäre, zu jeder Zeit Wunder zu tun, der Vorzug der Propheten vor Nichtpropheten schwinden würde. Dieses R. Haï beigelegte Responsum ist so entschieden antimystisch, daß nur die Alternative bleibt, entweder dessen Unechtheit zu behaupten oder einzuräumen, daß R. Haï durchaus kein Freund von Mystik war. Daß aber dieses antimystische Gutachten echt ist, d.h. von R. Haï stammt, dafür sprechen äußere Bezeugung und innere Kritik.

1 Zeugnis. Joseph Tob-Elem, der Spanier, Superkommentator des Ibn-Esra, zitiert aus diesem Gutachten die Kernstelle, welche der Mystik alle Berechtigung abspricht in: ףסוי להא zu Exodus Nr. 11 und in dem längeren Superkommentar חנעפ תנפצ (Ms. der Breslanex Seminarbibliothek Bl. 75 r.): םהרבא לש תעד שי יכ םשה תודוא לע והולאשש ןואג יאה 'ר תעדכ (ארזע ןב) אלא םתושעל ןכתי אלש םילודג םישעמ םהב ושעיש תומש המכ בישה םתוא רסואהו םיטסלה ןמ ומצע אבחמה ןוגכ תפומו תואב ןיא םירומג םיקידצ וליפא יכ םילטב םירבד הלא לכ יכ ןואגה המו םיאיבנה תותוא וריכת המב ךכ היה םא יכ .תאזכ םהל השענ ותלוז ןיבו איבנ ןיב שי שרפה. Das ist eben der gedrängte Sinn des langen Responsum.

[349] 2. Die Einleitung des Sendschreibens spricht noch mehr für die Echtheit. Ein Jünger des Jacob ben Nissim aus Kairuan hatte einmal angefragt, was denn von der Mystik der Gottesnamen zu halten sei. Darauf hatte sich der Gaon Haï wegwerfend darüber geäußert. Mehrere Kairuaner aber, die sich bei der Antwort nicht beruhigten, zumal die Weisen Palästinas und Roms (Italiens) der Mystik einen hohen Wert beilegten, fühlten sich bewogen, dieselbe Frage demselben Gaon noch einmal vorzulegen: ןואג יאה 'ר ןמ הבושת יבד הידימלתו אננבר היכרב רמ ןב ףסוי 'ר רמ הינמ ליאשד יכו םשה תודוא לע םיסנ רמ רב הלכ שאר בקעי 'ר רמד אשרדמ םילטב םירבד םהב אצויכו הלא לכ יכ בישהו – תומש המכ שי הזמ ונהמתו .תאזכ םהל השענ ןיא םירומג םיקידצ וליפא יכ רמאו ואר יכ םידיגמ – םודא ץרא ימכחמו לארשי ץרא ימכחמ המכ יכ ותמכחב ונל ראביו ינודא ונעידוי – – איסהרפב תאז. Hier spricht die Zeitangabe ganz entschieden für R. Haï als Respondenten. Ein Jünger des Jacob ben Nissim kann nur in R. Haïs Zeit gelebt haben. Das Gutachten kann also nur entweder von demselben oder dessen Schwiegervater, dem letzten Gaon von Sura, Samuel ben Chofni, herrühren, der allerdings ein Rationalist war. Aber im Verlaufe des Responsum sagt der Verfasser, er sei kein Suraner. Er bemerkt nämlich: in Sura, das in der Nähe Babels liegt, finden Wunder Gläubige; »wir aber wohnen fern von Sura«: ויה ארוס תבישיבו רצנדכובנ תיבו לבב תנידמל םיבורק םה יכ םבור הלא םירבד םשמ םיקוחר ונאו. Der Verf. war also nicht Gaon von Sura, d.h. nicht Samuel ben Chofni, sondern wie die Überschrift sagt, und wie Joseph Tob-Elem bezeugt, R. Haï. Folglich war R. Haï ein sehr entschiedener Gegner der Mystik.

Stammt dieses antimystische Responsum von R. Haï, so kann jenes, das im Kommentar zu den Agadoth (En Jacob zu Chagigah II. No. 10) ihm vindiziert wird, ihm durchaus nicht angehören, weil darin der Mystik das Wort geredet und das Entgegengesetzte behauptet wird, daß Gott auch durch fromme Männer Wunder geschehen lasse: אה ןותליאשדו .יאה וניברל לצא לבוקמ היה הז רבד יכ עדו – סדרפל וסנכנ 'ד ןנבר ונתד ידי לע תוארונ תותוא השוע אוה ךורב שודקה יכ םינושארה םיאיבנה ידי לע השוע אוהש ומכ םיקידצה. So widersprechen konnte sich R. Haï nicht, und diese zwei Responsen können unmöglich einen und denselben Autor haben. Die Unechtheit des letzten Responsum ist übrigens aus dem Inhalte selbst ersichtlich. Es wird darin die Ansicht des R. Samuel Gaon angeführt und widerlegt, der, weil er viele nichtjüdische Schriften gelesen, behauptet habe, nur durch Propheten tue Gott Wunder, aber nicht durch Fromme und Mystiker: 'ר רמ חמצשכו םירמואש םיוג ירפסב תארקל וברהש וב אצויכו ל"ז ןואג לאומש השעמ לכ םישיחכמו – םיאיבנל אלא תוארנ וללה תוארמה ןיא 'וכו הכלה הז ןיא יכ ורמאו םיקידצל סנ וב השע יכ רמאנש. Dieser Samuel Gaon, dessen Ansicht hier getadelt wird, soll offenbar Samuel ben Chofni sein. Nun ist es undenkbar, daß R. Haï von seinem Schwiegervater so wegwerfend gesprochen hat. Dann hat R. Haï das, was hier dem Gaon Samuel zum Vorwurf gemacht wird, sich selbst zu schulden kommen lassen. Er selbst hat nichtjüdische Schriften gelesen, sogar den Koran, und hat aus demselben und aus arabischen Traditionen die Erklärung schwieriger hebräischer Wörter geholt. Diese Tatsache bezeugen Mose Ibn-Esra (in seiner handschriftlichen Poetik) und Joseph Ibn-Aknin im handschriftlichen Kommentar zum Hohenlied: 'ר ןימלכתמלא אמטעו ןיהקפמלא אסור תיאר דא[350] (ןארקלאב) הב דהשתסי ןימלכתמלא ןמ םהריעו יאה 'רו הידעס האובנלא ןמ ץאתעמלא ךפ ילע ןיניעתרמ. »Du siehst wohl, daß die Hauptgesetzeslehrer und die bedeutenden Mutakallimun, Saadia und Haï, aus dem Koran Zeugnisse beigebracht haben, zur Lösung archaistischer Wörter in den Propheten.« So Mose Ibn-Esra (Poetik Bl. 119b). Ebenso Ibn-Aknin (127b): »Es brachte R. Haï Zeugnisse vom Koran und den Traditionen in der arabischen Sprache«. ןארקלאב יאה 'ר דהתשיו. היברעלא העללאב תידחלאו R. Haï war demnach gleich Saadia ein Mutakallim, d.h. ein Religionsphilosoph und rationalistischer Mutazilite. Aus einem Zeugnisse des Maimuni erfahren wir auch, daß er, wie Saadia, dessen Sohn, Samuel ben Chofni, Aaron Ibn-Sarǵadu und andere ein philosophisches Werk gegen die Annahme der Weltewigkeit geschrieben hat (More Nebuchim Original ed. Munk T. I., S. 462). R. Haï hat den Koran und arabische Traditionen gelesen, um aus deren Wortvorrat schwierige und alte Formen zu erklären. Geht schon daraus hervor, daß er als Mutakallim ein Gegner der Mystik, d.h. der Muschabbiha, war, so kann er noch weniger dem Gaon Samuel den Vorwurf gemacht haben, daß er in nichtjüdischen Schriften gelesen. Dieses ganze Responsum ist also sicherlich fingiert, und es ist geflissentlich R. Haï vindiziert, um an ihm eine Stütze für die Mystik zu haben.

Noch sicherer untergeschoben ist jenes antiphiloso phische Responsum, das R. Haï an Samuel Nagid erlassen haben soll gegen das Studium der Philosophie (im Auszuge in Nachmanis Sendschreiben an die französischen Gelehrten in En Jacob l.c. Minchat Kenaot Brief 89 Ende und 90 p. 166 und חריה רפס das. S. 128, und vollständig in םיניע תריאמ des Isaak aus Akko Ms.). Es wird darin empfohlen, sich mit nichts weiter als mit Mischnah und Talmud zu beschäftigen: denn die Philosophie führe von der Religion und der Gottesfurcht ab; die Philosophen vernachlässigen sogar das Beten. So kann R. Haï nicht gedacht haben, er, der nach dem Zeugnis Mose Ibn-Esras, eines jüngeren Zeitgenossen, gleich Saadia, zu den Mutakallimun gehörte, also selbst sich mit Philosophie beschäftigt hat. Schon der Eingang verrät es als eine Falsifikation. Samuel, der Wesir, der Mann der Wissenschaft, soll R. Haï angefragt haben, ob man diese Wissensfächer (תומכח) betreiben dürfe! Das Responsum ist offenbar erst im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts fabriziert worden, um Maimunis Bestrebungen zu verdächtigen. R. Haï war so wenig ein Gegner der Philosophie, ein Buchstabenknecht oder ein Anhänger der Mystik, daß er sogar der talmudischen Agada keine Autorität einräumte, sondern sie als individuelle Einfälle beurteilte (vgl. Ohel Josef zu Exod. Nr. 11 und Zofnat Paaneach Ms. p. 75 r.). 'ר אל הדגה ירבד יכ ולש הגיגח תכסמ שוריפב רמא ןואג יאה ןיגב ובל לע הלעש המ שרוד דחא לכ אלא ןה העומשכ הזכ ומכ בתכ הלאש תבושתב םג .ךותח רבד אלו (?)הרשפא. Auch von einer anderen Seite erfahren wir, daß R. Haï mit der Zeitphilosophie vertraut war und mit mohammedanischen Gelehrten disputierte (Einl. zur hebräischen Übersetzung der Logik des Marsilius von Inghen ed. Jellinek, Wien 1859, S. 7): יאה 'רל הרקש ומכ ינפמ ולהבנ יכ ותוא תונעל ולכי אלו לאעמשי ימכח םע ל"ז ויתויארב םחצנ יכ דוע ונע אלו ותא םלוכ וקתתשנו – ותמכח .ןכ השע אל ןויגהב םכח היהש אלולו

War nun R. Haï ein Anhänger der mutazilitischen Religionsphilosophie und ein entschiedener Gegner der Mystik, so sind natürlich alle die ihm vindizierten mystischen Responsen und Aussprüche als untergeschoben anzusehen. [351] Die Unechtheit derselben läßt sich auch aus anderen Momenten nachweisen. Zunächst gehört jenes Responsum, welches dem Anthropomorphismus des Schiur-Komah das Wort redet (in Respp. הבושת 'ש No. 122 und aus einer Bodlejanischen Handschr. in Sachs' Techija p. 41f.) gewiß nicht R. Haï an, sondern seinem Vater, wie die Überschrift im Bodl. Kodex lautet: לצאמ סאפ ירידא תלאש אבבד ונייד ונב לצאמו ארירש 'ר רמ וננודא. Weil R. Haï damals, obwohl noch jung, als Oberrichter fungierte, wurde sein Name beim Gutachten mitgenannt, und daher schrieben es einige ihm, andere R. Scherira zu (vgl. Sachs das. 43f.). R. Haï hatte aber an diesem mystischen Responsum ebensowenig Anteil wie an dem historischen, das Scherira selbstständig erließ, die Überschrift aber Vater und Sohn als Autoren nennt. Das mystische Responsum, welches verbietet, auch nur den Zipfel des Schleiers von den Mysterien zu lüften (das. Nr. 99), trägt die Unechtheit an der Stirne. R. Haï soll darin angegeben haben, daß Anfragen von allen Seiten an ihn ergehen: יכ םיעדוי םתאו םיחלושו ל"ת הנשויל הרותה ריזחהל םבלב סנכנ תונפ עבראב זנכשאו שוכ ץראמו ןופצמו חרזמו ןמיתמ תוצראח לכמ םהיחולש ןינעב ונינפל םידמועו תוצראה יוצקמו אימפסאו תפרצו םהיתולאש; während Abraham Ibn-Daud, der zuverlässige Chronograph gerade von Scheriras und Haïs Zeit, berichtet, daß durch die vier gelehrten Gefangenen die Einnahmen der babylonischen Lehrhäuser eingingen, weil die gutachtlichen Anfragen nicht mehr an das Gaonat gerichtet zu werden brauchten: םדוק) ןכל םדוקו תאמ הבס התיה (יאה 'רו ארירש 'ר ימיב ג"ר היקזח 'ר תומ ץראמ םהילא ךלוה היהש תובישיה לש םקח תרכנש ה"בקה ויהש תולאשה לכו – – 'וכו איקירפאו ברעמה ץראב דרפס (הבוטרוקב השמ 'ר ןמ) ונממ ולאש תובישיה ןמ םילאוש. Das Responsum in betreff der zehn Sefirot, das R. Haïs Namen trägt, verrät sich als ein plumpes Falsum durch seinen Anachronismus. Man denke, der Gaon Paltoj (um 850) fragte R. Haï (1000-1038) an über das Verhältnis der 10 Sefirot zu den 13 Middot! ןואגהו יכ ןואג יאה 'ר םימכחה ןודאל ולאש ל"ז ותבישי ימכחו יוטלפ 'ר תודמ ג"י םה םאו תוריפס רשע הנומ הריצי רפסב – Schem-Tob Emunot IV. 4. p. 28 b). – Ebenso gewiß unecht sind die R. Haï zugeschriebenen Aussprüche über die zehn Sefirot, die eben im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts aufkamen (das. S. 34a, 38b, 47a). Unrecht sind ferner die Responsen in הבושת 'ש (Nr. 5 und 14), aus welchen David Luria das hohe Alter der Kabbala beweisen wollte. Das erstere Responsum gehört gar nicht R. Haï, sondern Alfâßi an, und das mystische Beiwerk ist eine spätere Interpolation. Unecht ist endlich das von Botarel als R. Haïs Wert ausgegebene kabbalistische הצימקה רפס. Die Kabbala, welche ein unruhiges Gewissen wegen ihrer Jugend hatte, brauchte alte Autoritäten für ihre Theorie und fingierte sich alte Zeugnisse. Das Resultat, daß R. Haï kein Mystiker war, ist meines Dafürhaltens unerschütterlich.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1896], Band 6, S. 349-353.
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