9. Kapitel. Die Reform und das junge Israel. (1818-1830.)

[381] Die Abgeschlossenheit der Juden durch die Neuzeit aufgestört. Die Lage Abfall und Hartnäckigkeit. Jacobson und seine Reformen. Die Orgel und die deutsche Predigt. Die ersten Prediger. Die Anfänge des Hamburger Reformtempels. Beginnender Kampf. Verfall des Rabbinerwesens und der Talmudlehrhäuser. Die letzten altrabbinischen Größen: Benet, Jakob Lissa, Akiba Eger und Mose Sofer. Jacobsons Eifer. Der Täufling Eliëser Libermann, Aaron Chorin, Lazar Rießer. Die Gutachten zur Verketzerung der Tempelreform. Bresselaus hebräischsatirisches Sendschreiben für den Tempel. Der Leipziger Meßtempel. Die Gegenreformpartei. Isaak Bernays, Mannheimer, Reggio. Der Berliner Kulturverein: Gans, Moser und Zunz.


Überraschend schnell hat sich der Aufschwung der Juden selbst in Deutschland vollzogen, wenn man Mendelssohns Schüchternheit, an die religiösen und politischen Zustände der Christenheit auch nur anzustreifen, mit der Kühnheit Börnes und Heines vergleicht, die sie in ihrer nackten Gestalt zeigten. Und nun erst in Frankreich! Da waren die Juden Männer geworden, die es ohne Furcht mit jedem Gegner aufnahmen und eine Beschimpfung ihres Ursprunges mit dem Schwerte in der Hand zurückzuweisen wußten. Nicht so rasch wie die Juden, vermochte das Judentum die Knechtsgestalt abzustreifen. Fast zweitausend Jahre hatte es um sein Dasein gerungen, mit jedem neuen Volke und jedem neuen Geiste, die auf dem Schauplatze der Geschichte aufgetreten waren. Mit Griechen und Römern, Parthern und Neupersern, mit Goten und Slawen, mit Arabern und mittelalterlichen Eisenmännern, mit Mönchen aller Orden und mit glaubenswütenden Lutheranern hatte es stets von neuem heiße Kämpfe zu bestehen und es hätte nicht mit entstellenden Narben und häßlichem Staube bedeckt sein sollen? Um sich gegen die anprallende Gewalt so vieler feindlicher Mächte so lange zu schützen, hatte sich das Judentum mit einem undurchdringlichen Panzer umgeben, sich nach allen Seiten abschließen [381] und sich in ein enges Gehäuse zurückziehen müssen. An diesen schweren Harnisch hatte es sich so gewöhnt, daß es mit ihm verwachsen zu sein schien, als ob er zu seinem Wesen gehörte. Es mochte ihn auch deswegen nicht ablegen, weil es stets neuer Kämpfe gewärtig war. Auf sich selbst angewiesen, und von der Außenwelt abgestoßen, besonders seit dem Jahrhundert der Vertreibung seiner Bekenner aus Spanien und Portugal und seit der gleichzeitigen Ausweisung aus vielen deutschen Gebieten, hatte es sich in eine eigene Traumwelt eingesponnen und in sein Denken und seine Phantasie Zauberformeln aufgenommen, um die Schmerzensqualen, die seine Bekenner erdulden mußten, zu betäuben, leichter ertragen oder gar vergessen machen zu können. Plötzlich wurden seine Söhne durch einen stechenden Sonnenstrahl aus dem Traume geweckt und erblickten eine Wirklichkeit, die sie fremd anstarrte. Fester schlossen sie anfangs die Augen, um die angenehmen Traumbilder nicht zu verlieren. Sie konnten sich anfangs in der neuen Zeit und der neuen Lage nicht zurecht finden und fürchteten, daß dieses nur eine Versuchung oder eine neue Kampfesart sei, welche der alte Feind in anderer Weise gegen das Judentum anzuwenden gedächte.

Es war seinem Gedächtnis entschwunden, daß auf seiner langen Weltfahrt und in seiner Völkerschau das Judentum trotz seiner Abgeschlossenheit Verkehrtheiten angenommen und sie seinem Wesen so einverleibt und weiter ausgebildet hatte, als wenn sie ihm ursprünglich und ureigentümlich gewesen wären. Dein Gedächtnis war durch Verfolgung und Marter geschwächt worden; auch seine Denkkraft hatte durch die täglich zunehmenden Leiden ein wenig gelitten. Es konnte sich anfangs nicht sammeln, sich nicht prüfen, um das Fremde und Unangemessene vom Eigenen und Wesentlichen zu unterscheiden und auszuscheiden. Unter den deutschen Juden hatte das Judentum durch die Aufnahme des verwilderten, polnischen Wesens einen barbarischen Anstrich und unter den portugiesischen und italienischen Juden durch Isaak Lurja und Chajim Vital ein kabbalistisches Gepräge angenommen. Diese Entstellungen des Judentums traten ganz besonders bei allen Vorkommnissen des religiösen Lebens ans Licht, beim Gottesdienste, bei den Predigten, bei Hochzeiten, Leichenbegängnissen, kurz gerade bei den in die Augen fallenden Anlässen. Gerade die offiziellen Vertreter und Ausleger des Judentums, die Rabbinen und Pfleger des Gottesdienstes, erschienen meistens in abschreckender Knechtsgestalt, entweder als Halbwilde oder als Geisterseher. Die fremdartigen Ansätze und Auswüchse, den Schimmel, der sich um den Grundstock angesammelt hatte, betrachteten diese Hauptträger des Judentums als [382] sein ureigenes Wesen. Noch hatte die Zeit keine Männer gereift, die mit feinfühligem Verständnis für den Kern des Judentums, wie es sich in Bibel und Talmud ausgeprägt hat, mit weitem Blicke und klarer Einsicht die in der großen Wandlung der Zeiten eingetretenen Entstellungen hätten erkennen und vom Wesenhaften loslösen können. Die häßlichen Formen mit sanfter Hand durch allmähliche Übergänge, ohne die Gemüter zu verletzen, zu beseitigen, dazu wäre eine ganz besonders geistig veranlagte Persönlichkeit, ein Mose Maimuni oder ein Moses Mendelssohn mit mehr Tatkraft nötig gewesen. Ein solcher war aber nicht vorhanden. Es fehlte überhaupt in der Übergangszeit an Männern von klarem Bewußtsein und anerkanntem Ansehen. Auch eine Vertretung der Gesamtjudenheit gab es nicht. Es gab allerdings ein Organ, das eine Art offiziellen Charakters und eine gewisse Autorität besaß oder sich hätte erringen können, das französische Sanhedrin und Konsistorium. Aber seine Hauptträger, David Sinzheim, Abraham di Cologna und ihre Nachfolger hatten nicht die erforderliche Einsicht für die Verjüngung des Judentums. Sinzheim war im Grunde doch nur Stocktalmudist und di Cologna lediglich ein angenehmer Prediger. Diese notwendige Reform, nicht an Haupt und Gliedern – denn weder die Führer noch die einzelnen hatten durch die Entstellung des Judentums an Sittlichkeit eingebüßt – sondern nur zur Verschönerung der Außenseite und Beseitigung der Auswüchse, fand daher nicht die rechten Männer, sie in die Hand zu nehmen und einzuführen. Da die Männer fehlten, übernahm die Zeit diese Arbeit, und dadurch entstanden Kämpfe und Zuckungen. Es sollte dem Judentum nicht leicht werden, sich zu häuten.

Die Wandlung des Judentums, welche die Zeit herbeiführen sollte, ging wie die der Juden von Deutschland aus. Der deutschen Judenheit war, weil Mendelssohn aus ihrem Schoße hervorgegangen war, dieselbe Aufgabe zugefallen, welche früher die alexandrinischen und spanischen, zum Teil auch die provenzalischen Juden gelöst hatten, die Versöhnung des Judentums mit der Kultur zu vermitteln. Aber als diese Vermittlung in Angriff genommen wurde, war die Lage bereits verschoben, und die Art und Weise, wie sie ausgeführt wurde, hat die Lage noch schiefer gemacht. Durch die Kämpfe, welche die Juden in Deutschland um ihre bürgerliche Erhebung aus der Niedrigkeit zu bestehen hatten, als sie um jeden Fußbreit Befreiung die verzweifeltsten Anstrengungen machen mußten, auf jedem Schritte dem Hohn und der Zurücksetzung begegneten, immer wieder in ihre niedrige Stellung zurückgeworfen und an ihre Entwürdigung gemahnt wurden, [383] kamen gleich zwei unerfreuliche Erscheinungen zutage. Diejenigen, welche durch Schönheitssinn gehoben waren, schwammen mit dem Strom und entfremdeten sich dem Judentum; wenn sie sich nicht ganz und gar von ihm lossagten, so verachteten sie es gründlich, weil es ihrem bürgerlichen oder sozialen Fortkommen hinderlich war. Ihnen erschien das Judentum als eine Mumie, eine Versteinerung oder als ein Gespenst, das ruhe- und zwecklos durch die Jahrhunderte wandelte, ein Bild des Jammers, dem nicht zu helfen sei. Nur wenige dieser gebildeten Klasse waren so hellsehend, wie Heine in seinen lichten, von tollem Übermut nicht gestörten Augenblicken, in dieser Mumie einen Scheintoten zu erkennen, der eines Tages seinen Sargdeckel zu sprengen und starken Geistes mit lebendigen Mächten einen Kampf aufzunehmen imstande sein werde. Anderseits klammerte sich die Mehrzahl der Juden, die noch eine tiefe Liebe zu dieser runzelig gewordenen Mutter aller Religionen im Herzen trug, an die unwesentlichsten Formen, an die sie von Jugend auf gewöhnt war, um gerade, weil sie auf der andern Seite Verrat gewahrte, den Verrätern des Judentums nicht gleichgestellt zu sein. »Sie liebten die Steine und schätzten den Staub.« Es war nicht mehr die harmlose Frömmigkeit von ehemals, die kein Widerspiel vor Augen hatte, sondern eine aufgeregte, leidenschaftliche, ähnlich wie zur Zeit, als die nationalgesinnten Treuen mit den verräterischen Hellenisten in den Kampf traten. Bei der überhandnehmenden Schwächung des religiösen Sinnes im allgemeinen, bei der Lockerung des einigenden Bandes, bei der Wahrnehmung des Abfalls und des Hohns gegen den eigenen Ursprung wurden die Vertreter des Altherkömmlichen peinlich und argwöhnisch. Das Judentum erschien ihnen als ein aus lauter kleinen Würfeln zusammengesetztes Riesengebäude, die einander und das Ganze trugen und stützten. Sie fürchteten eine allgemeine Zertrümmerung desselben, sobald eine Lockerung dieser ineinander greifenden Fugen einträte. Sie hatten kein Vertrauen in die Dauerhaftigkeit des Gebäudes, für dessen Erhaltung sie ihr Leben zu opfern bereit waren. Nicht einmal das verwahrloste, allen Regeln spottende häßliche Sprachgemisch, die Unanständigkeit und das verwilderte Wesen bei gottesdienstlichen und rituellen Handlungen mochten sie fahren lassen. Jede Nachgiebigkeit oder jedes Nachlassen von der alten Ordnung erschien ihnen als Gemeinschaft mit den Verrätern am Judentume.

Eine Vermittelung der schroff einander gegenüberstehenden Gegensätze schien unmöglich. Dennoch wurde sie unternommen, aber ungeschickt und mit plumper Hand. Dadurch wurde die Veredelung des Judentums [384] auf lange Zeit hinaus verzögert. Israel Jacobson unternahm zuerst eine Art Reform des Judentumes. Seine Anhänglichkeit an dasselbe, seine Bewunderung für den Anstand und den äußeren Schimmer, seine Rührigkeit und Geschäftigkeit, sein Ansehen und seine Geldmittel machten ihn ganz besonders geeignet, Führer einer neuen Partei zu werden. Kaum war das westfälische Konsistorium ernannt und er an die Spitze desselben gestellt (o. S. 289), so trat er mit Neuerungen hervor, die zwei Seiten hatten. Aus der Synagoge, welche mit der für die Jugend in Cassel neuerrichteten Schule verbunden war, ließ er alles Häßliche, Anstößige, Lärmende, besonders den Singsang beim Gottesdienst entfernen. Das Predigen in deutscher Sprache verstand sich bei Jacobson von selbst, er führte auch neue, der Kirche entlehnte Formen und Weisen ein, deutsche Gebete neben hebräischen, neue, schale deutsche Lieder neben den inhaltsreichen, tiefen Psalmen, das Ablegen des Glaubensbekenntnisses (Konfirmation) für Knaben und Mädchen bei ihrem Eintritt in ein reiferes Alter, das im Judentume keine Wurzel hat. Für das Beschämende und Lächerliche, das darin lag, der ergrauten Mutter den schimmernden Plunder der Tochter umzuwerfen, der sie mehr entstellte, als zierte, dafür hatte Jacobson kein Gefühl. Was er in Cassel für das Allgemeine nicht einzuführen vermochte, brachte er auf einem anderen Wege in Aufnahme. Die Einweihung seines auf eigene Kosten erbauten geschmackvollen kleinen Tempels in Seesen1 geschah unter großer Feierlichkeit. Die Ankündigung derselben hatte viele Neugierige, noch mehr Christen als Juden, herbeigezogen. Die Kirchenglocken läuteten dazu. Die anwesende Menge wurde durch rauschende Orgeltöne überrascht. Die Orgel war die Krönung seines Reformgebäudes. In seinem Tempel konnte Jacobson den Hohenpriester spielen, feurig predigen, neue Schlagwörter vorbringen »Aufklärung, Zeitgeist, Fallen der Scheidewände zwischen Christen und Juden, Andachtserweckung«. Er hatte die Genugtuung, daß ein Domprediger aus Halberstadt diese Feier mit gutgemeinten Versen verherrlichte:


»Mit Roms und Augsburgs Glaubenssöhnen

Weilt Aarons Enkel Hand in Hand.«


Die Eitelkeit, sich zu zeigen, von sich reden zu machen und überhaupt eine Rolle zu spielen, und die Sucht, es in allem und jedem den Christen gleichzutun und ihren Beifall zu erhaschen, ließ ihn zu [385] verkehrten Mitteln greifen und ein bedenkliches Reformprogramm zur Versöhnung des Alten mit dem Neuen aufstellen.

Jacobson hatte so viel Gewalt über seine Genossen im westfälischen Konsistorium, daß sie, und unter ihnen selbst der greise Rabbiner Löb Berlin, diese Neuerungen stillschweigend hinnahmen. Er ging daher damit um, dieselben in sämtlichen Gemeinden des westfälischen Königreichs einzuführen unter Androhung, die Synagogen, welche sich seinen Anordnungen nicht fügen wollten, schließen zu lassen. Dieser ausgeübte Gewissenszwang regte aber die Gemüter der Altfrommen auf; ganz besonders war die Einführung der deutschen Sprache beim Gottesdienst vielen verhaßt. Ein sonst milder Rabbiner, Samuel Eger von Braunschweig (starb 1842), hatte den Mut, gegen die Eigenmächtigkeit des Konsistorialpräsidenten aufzutreten. Er sprach prophetisch seine Überzeugung aus, daß durch deutsche Gebete und Lieder die hebräische Sprache hintangesetzt werden und zuletzt aussterben werde, und mit ihr sich das Band lockern werde, welches die in alle Weltteile zerstreuten Juden einigt2. Jacobson scheint sich an diese Mahnungen und diesen Widerstand nicht gekehrt zu haben. Infolgedessen müssen die Unzufriedenen beim König Jerôme Beschwerden über ihn und seine Neuerungen geführt haben; denn der König verwies ihm seine eigenmächtigen Eingriffe in Gewissenssachen und seine Reformsucht. Auf Jacobsons Veranlassung scheint sein Konsistorialgenosse Mendel Steinhard die Rechtfertigung der von ihnen eingeführten Neuerungen nach talmudischen Gesetzen unternommen zu haben3.

Mit dem Kartenhause des westfälischen Königreichs zugleich schwand Jacobsons Herrlichkeit. Nach Berlin gezogen, richtete er hier (1815) einen Betsaal in seinem Hause ein, obwohl er früher gegen Privatsynagogen geeifert hatte, und führte den reformierten Gottesdienst mit deutschen Gebeten, Gesängen und Chor ein; für die Orgel war anfangs kein Raum. Später gab der Bankier Jakob Beer (Vater Meyerbeers) einen großen Saal dazu her (1817), in dem auch eine Orgel untergebracht werden konnte. Infolge der Siege der Deutschen über Napoleon war die Kirchlichkeit in Mode gekommen und steckte auch diejenigen an, welche früher nicht das geringste Bedürfnis nach Andacht empfunden hatten und gegen religiöses Tun überhaupt gleichgültig waren. Nur solche Halbbekehrte, aber nicht für das Judentum, [386] sondern für religiöse Empfindelei Eingenommene fanden sich zum Jacobsonschen Gottesdienst ein, um sich zu erbauen und sich Andacht zu verschaffen – das waren die neuen Phrasen. Die »Gesellschaft der Freunde«4 lieferte Mitglieder dazu. Das war der Ursprung der Reformpartei, einer winzigen Gemeinde in der Gemeinde, die aber durch ihre anfängliche Rührigkeit und infolge des abstoßenden Wesens des althergebrachten Gottesdienstes eine Zukunft hatte, wie sich leicht voraussehen ließ. Der Mittelpunkt dieses neuen Gottesdienstes war die deutsche Predigt, die Jacobson meistens selbst hielt. Sie übte den meisten Reiz aus, weil die sogenannten »gottesdienstlichen Vorträge« der Rabbiner und der polnischen oder mährischen Wanderprediger nach jeder Seite geschmacklos und anwidernd waren. Doch fand er es für ratsam, junge Männer heranzuziehen, die ein klangvolles Organ hatten, eine gewisse Zierlichkeit im Vortrage zeigten und zum Teil sich in der Kirche an Schleiermachers Beredsamkeit geschult hatten. Auf gründliche Kenntnisse in der jüdischen Theologie, auf warme Überzeugung für die angestammte Lehre, auf feste Gesinnung wurde weniger gesehen. Diese Jacob sonsche oder Beersche Privatsynagoge wurde eine Pflanzschule für angehende jüdische Prediger. Jakob Auerbach (starb in Berlin), Eduard Kley (starb in Hamburg) und C. S. Günsburg (starb in Breslau) waren die ersten, die sich in derselben praktisch herangebildet haben, Männer von mittelmäßiger Begabung und von mittelmäßigem Rednertalent, als sollte das Übermaß des talmudisch-zersetzenden Verstandes durch das Gegenmittel der Flachheit geheilt werden. In Deutschland unter den Neuerungssüchtigen und in Polen unter den Chaßidäern bildeten gleichzeitig die Prediger die Sendboten der neuen talmudfeindlichen Richtung.

Indessen wurde der Berliner Betsaal plötzlich von der preußischen Regierung auf Grund der Beschwerden einiger Altfrommen wegen Neuerung geschlossen. Der damalige König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., war allen Neuerungen, auch in jüdischen Kreisen, abhold und haßte sie als Umsturzversuche. Kley, ein Jünger Aaron Wolfssohns, von dem er jedoch die Liebe für die hebräische Literatur nicht gelernt hatte, begab sich hierauf nach Hamburg, zur Leitung einer dort von einigen reichen Familienvätern gegründeten Freischule. Hier regte er den Plan an, einen Reformtempel nach dem Muster des Jacobsonschen ins Leben zu rufen.

Auch hier war die Andächtelei und Kirchlichkeit in Schwung gekommen. Die verweltlichten Hamburger Juden schämten sich vor ihren [387] christlichen Geschäftsfreunden, so ganz und gar religionslos zu sein und griffen zu dem ihnen gebotenen Mittel, ohne Unbequemlichkeit und Entsagung gottesdienstliche Formen mit ansprechendem, der Kirche entlehntem Gepränge mitzumachen und hin und wieder in kirchlicher Haltung gesehen zu werden. Die Anregung zu einem Reformgottesdienste fand Anklang. Kley hatte ein fertiges Programm aus Jacobsons Betsaal mitgebracht, deutsche Gesänge und Gebete, Predigt und Orgel. Er selbst lieferte ein sogenanntes religiöses Gesangbuch in protestantisch-erbaulichem Geschmacke, inhaltsleer und fade, für ein Kindergeschlecht berechnet, als ob es keine Psalmen, diese Muster religiöser Andachtserweckung für die Seele, gäbe. Indessen gab es doch in Hamburg selbst einige, obwohl dem Neuen huldigende Männer, welche mit dem Judentume und seiner Vergangenheit nicht ganz brechen und namentlich die hebräische Sprache beim Gebete nicht missen mochten. Die Träger dieser Partei waren M. J. Bressesau, der selbst einen schönen hebräischen Stil schrieb, und Säckel Fränkel (starb in Hamburg 1833), ebenfalls Kenner des Hebräischen, der einige Apokryphen in die heilige Sprache zurückübersetzte. Diese beiden trafen eine Auswahl unter den vorhandenen hebräischen Gebetstücken, um sie mit den neu eingeführten deutschen Liedern und Gebeten zu verquicken, eine ungleichartige Mischung in Inhalt und Form, einem friedlichen Ausgleich unter streitenden Geschäftsleuten ähnlich. Ein rühriger Kaufmann, Cohn (man nannte ihn von seinem Geschäftsbetrieb den Zucker-Cohn), warb eifrig Anhänger und Beiträge für die Gemeinde. Etwa fünfzig Familien schlossen sich zusammen, und so entstand 1818 der Reform-Tempel-Verein in Hamburg. Diese Mischlingsgeburt ist ohne Liebe und Begeisterung in die Welt gesetzt worden. Die Mitglieder desselben waren so nüchternen Sinnes, daß der Erinnerungstag der Schlacht bei Leipzig zum Einweihungstermin gewählt wurde (18. Okt. 1813). Der Prediger Kley mußte, um nur einen vollen Stoff zu haben, an die deutschen Befreiungskriege anknüpfen, welche die Juden in Deutschland eher zurück als vorwärts gebracht hatten. Junge Mädchen sangen Lieder zur Einweihung des Tempels gemeinschaftlich mit Jünglingen, um einen Eindruck zu erzielen, den die Sache selbst nicht hervorbringen konnte – was anderseits großes Ärgernis gab5. Kley, ein mittelmäßiger Redner und mittelmäßiger [388] Kopf, wäre nicht imstande gewesen, die Tempelgemeinde dauernd zusammenzuhalten, wenn die Templer, wie sie genannt wurden, nicht an Gotthold Salomon (aus Dessau, starb 1862)6 einen gewandten Kanzelredner gefunden hätten, der, mit der biblischen und jüdischen Literatur mehr vertraut, und lebhafteren Geistes, die Nacktheit des neuen Kindes mit einer Hülle zu umgeben verstand. Aber wie er dem Tempel einen vollständig protestantischen Zuschnitt verlieh, so gab er durch seine Selbstgefälligkeit und geringe Demut ihm auch einen herausfordernden Charakter. Mit Salomon begann in der deutschen Judenheit der Einfluß der Prediger; die Kanzel nahm die Stelle des Lehrhauses ein, und von ihr herab erklang nicht selten das hohltönende Wort, das die Gedanken oder die Gedankenleere verbarg. Die rauschenden Orgeltöne riefen verschwommene, inhaltsleere Stimmungen hervor und verdrängten den vollen Ernst und den Gedankenreichtum der urjüdischen Lehre. Mit der Messiashoffnung hatte der Tempelverein offiziell gebrochen, ohne sich recht klar geworden zu sein, welche Stellung das Judentum ferner neben dem Christentum einnehmen sollte. Einige Reformeiferer dachten schon daran, eine vollständige Trennung herbeizuführen und sich von dem Beitrage zur Gesamtgemeinde loszusagen.

Tiefere Naturen, selbst solche, welche das praktische Judentum nicht mitmachten, fühlten sich aber von diesem sklavischen Nachahmen der kirchlichen Formen im Anzug der Prediger, im Ton und in der Haltung eher abgestoßen als angezogen. Das ewige »Gepredige«, zumal die Nachäffung des salbungsvollen geistlichen »Getues« war ihnen besonders zuwider. Sie prophezeiten dem Tempel keinen langen Bestand. Ein treffender Witz charakterisiert das geringe Vertrauen, welches selbst Gesinnungsgenossen in den Bestand des Tempels setzten: »Die Prediger in Hamburg werden reiche Leute und können am Ende, [389] wenn es schief geht, sich eine Gemeinde (Minjan) halten«7. – Indessen hegten die Unternehmer und Führer die anfangs berechtigte Täuschung, daß der Tempel die dem Judentume entfremdeten Söhne durch die neue, zusagende, gefällige und wenig Entsagung fordernde Gestalt mit ihm versöhnen und sie ihm wieder zuführen würde. Sie vermeinten durch Verabreichung verdünnter religiöser Speisen den Ekel überwinden zu können, welchen die verweltlichten Juden gegen alles, was jüdisch hieß, empfanden. Hin und wieder gelang es allerdings, einige mit dem Judentume Zerfallene von dem Überschreiten der Schwelle zur Kirche zurückzuhalten. Aber für die Dauer schlug das Mittel nicht an. Indessen ist das Verdienst des Hamburger Tempels, wie wenig glänzend auch sein Ursprung ist, nicht zu unterschätzen. Er hat den hochangesammelten Wust der Jahrhunderte mit einem Schlage, ohne viele Bedenken, aus dem Gotteshause entfernt, das heilige Spinngewebe, das niemand anzutasten gewagt hatte, in jugendlichem Ungestüm weggefegt und Sinn für geregeltes Wesen, für anständige Haltung beim Gottesdienste und für Geschmack und Einfachheit geweckt. Die Schäden, die er durch Nachäffung und Verwässerung dem Judentume zugefügt hat, kommen nicht ganz auf seine Rechnung.

Selbstverständlich erzeugte die Entstehung des Hamburger Tempels eine Entzweiung in der Judenheit. Bis dahin gab es nur »Altmodische« und »Neumodische«, wie sie einander nannten, aber keine Parteien mit einer Fahne, mit Stichwörtern und einem Bekenntnis. Nicht einmal die Altfrommen bildeten eine feste Partei. Denn obwohl die Anbeter des Herkömmlichen, die sich kein Jota abmäkeln ließen, eine so große Zahl ausmachten, daß sie selbst in Hamburg die Neuerer hätten erdrücken können, so traten sie doch nicht in Geschlossenheit auf. Man vernahm nur die seufzende, wimmernde Stimme einzelner über den Verfall des Judentums durch die Übertreter; diese öfter wiederholten Klagen hörten sich kläglich an. Die Alten hatten keine gebietenden Führer; das Ansehen der Rabbinen war schnell, in einem einzigen Menschenalter, geschwunden. Die häßlichen Raufereien für und gegen Jonathan Eibeschütz und die Satiren der hebräischen Stilisten in der Measfimzeit hatten deren Autorität völlig untergraben. Die großen deutschen Gemeinden ließen die leer gewordenen Rabbinenstühle unbesetzt. Von Polen mochten sie nicht mehr ihre Rabbiner beziehen, weil diese nicht die Landessprache kannten, und in Deutschland gab es noch keine rabbinischen Größen von anerkannter [390] Autorität. Berlin, wo der christelnde Friedländerische Kreis vermöge seiner Geldmittel die Oberhand hatte, ging mit dem Beispiel voran; ihm folgten die Gemeinde von Prag, seit dem Tode des klugen Ezechiel Landau, Hamburg seit Abdankung des Eiferers Raphael Kohen und Frankfurt am Main seit dem Tode des überfrommen chaßidäisch gesinnten Pinchas Hurwitz. Rabbinatsverweser traten an die Stelle der Rabbinen, Zwitterwesen, zu unselbständig, um eine eigene Meinung zu haben, und zu schwach zum Widerstande gegen die Zumutungen rücksichtsloser Gemeindevorsteher.

Infolge der Mißachtung des Rabbinenwesens gingen die talmudischen Lehrhäuser ein. Die begabte jüdische Jugend, deren Bildungsgang früher mit dem Talmud begonnen hatte, besuchte meistens Gymnasien und Universitäten und lernte Talmud und Judentum geringschätzen. Die bedeutenden talmudischen Lehrhäuser in Prag, Frankfurt, Altona-Hamburg, Fürth, Metz, Halberstadt, die früher mindestens einige hundert Jünger (Bachurim) zählten, gingen nach und nach ein8. Diese Verödung pflanzte sich bis nach Polen fort, da die dortigen Talmudjünger keine Hoffnung mehr hatten, in Deutschland und Frankreich ein Unterkommen zu finden. Sie wanderten wohl noch nach Deutschland, aber nur um sich auf die Wissen schaft (Chochmot) zu verlegen, oder sie wendeten sich, wenn sie in der Heimat blieben, der bestrickenden Mystik des Neu-Chaßidäertums zu. Nur vier Rabbinen des jüngeren Zeitalters genossen, vermöge ihrer tiefen Talmudkenntnisse und ihres lauteren, patriarchalischen Charakters eine ausgedehnte Autorität, Mardochaï Benet in Nikolsburg (starb in Karlsbad 1829), Jacob Lissa in Polnisch-Lissa (starb in Polen 1832), Akiba Eger (aus Güns in Ungarn, seit 1814 in Posen, starb 1838) und sein Schwiegersohn Mose Sßofer aus Frankfurt a.M. (starb in Preßburg 1840). Diese vier Rabbinen haben den Eifer für das Talmudstudium durch ihre scharfsinnige Methode erhalten. Der durch seinen erstaunlich haarscharfen Geist und durch hohe Tugenden, unter denen die Bescheidenheit obenan stand, ausgezeichnete Akiba Eger genoß bei den Tausenden von Jüngern, die aus seinem Lehrhause in Märkisch-Friedland und Posen hervorgegangen waren, eine an Vergötterung streifende Verehrung. Er war ein stiller Mann ohne Initiative und ein Feind alles Lärmschlagens. Dagegen war Mose Sßofer ein fanatischer Eiferer und rühriger Verketzerer. Er hatte Mut und Entschlossenheit, [391] die keinerlei Rücksicht kannten, und hätte einen entschiedenen Vorkämpfer abgeben können. Aber er wie seine Genossen waren von dem Mittelpunkte des Kampfes, der eröffnet werden sollte, zu sehr entfernt, als daß sie hätten eingreifen oder auch nur eine Fahne aufpflanzen können. Sie hatten nicht das geringste Verständnis für die neue Richtung, welche die Zeit und mit ihr die Judenheit eingeschlagen hatte, und so auch kein Bewußtsein von der Bedeutung der Sache, die sie vertraten. Sie kannten den Feind nicht, den sie angriffen, oder verachteten ihn zu sehr, als daß sie ihn hätten gefährden können. Trat eine ernste Frage, eine bedrohliche Lage ein, so waren sie ratlos, holten die alten, rostig gewordenen Waffen herbei und schadeten ihrer Sache nur noch mehr, weil sie ihre Blößen zeigten. Diese Unbeholfenheit gab ihnen das Gefühl der Schwäche und Abgelebtheit. So war die altfromme, orthodoxe – wie ihre Gegner sie mit falscher Entlehnung aus der Kirchensprache nannten – oder die konservative Parteihaupt- und kopflos, ohne Fahne, ohne Programm, ohne Zusammenhang, ohne Disziplin, ohne Bewußtsein ihrer eigenen Stärke. Ganz besonders mangelte ihr das unentbehrliche Mittel, das eindringende Wort, wodurch man auf die öffentliche Meinung einwirken, sie lenken und ihre Torheit und phrasenhafte Leerheit klarmachen kann. Der gänzliche Mangel an Bildung hat sich an den Altfrommen bitter gerächt.

Dagegen besaß die junge Gegenpartei, die Neuerungssüchtigen, die Partei Jacobsons, alles, was jener abging, einen mutigen Führer, Zusammenhang und ganz besonders einen Reichtum an Schlagwörtern und Phrasen, wodurch die Urteilsunfähigen leicht gewonnen werden, »Zeitgeist, Aufklärung«. Man konnte ihr Sieg und Herrschaft prophezeien. Sie hatte Jugendmut und Zuversicht, war keck und in den Mitteln nicht sehr wählerisch. Ihr Führer Jacobson verstand es, Ziele zu verfolgen und zu erreichen und auch zweckentsprechende Mittel anzuwenden. Er wußte recht gut, daß der Hamburger Tempel auf Schwierigkeiten stoßen und von den alten Rabbinen als ketzerisch verdammt werden würde. Er stand mit den Unternehmern in Verbindung, wußte, daß der Senat, von den Frommen gewonnen, gleich dem König von Preußen die Tempelneuerungen verbieten würde. Er wußte auch, daß viele Mitglieder der Hamburger Reformgemeinde zu lau waren, um gegen große Schwierigkeiten anzukämpfen. Darum sorgte Jacobson im voraus für die Heiligsprechung des Tempelritus. Unter den Rabbinen Deutschlands konnte er keine Stimme finden, welche den neuen Gottesdienst hätte anerkennen mögen. Er trat – und das wirft auf diese Sache kein günstiges Licht – mit einem gesinnungslosen Abenteurer [392] in Verbindung, der sich, wie es scheint, ihm verkauft hat. Eliëser Libermann aus Österreich, ein Spieler, wurde sein Sendbote für die Reform. Es genügt, ihn zu charakterisieren, daß er sich später taufen ließ9. Libermann machte im Auftrage der Reformpartei Reisen in Österreich; von ihm erfuhr sie, daß sich in Ungarn und Italien Rabbinen oder Halbrabbinen finden lassen würden, welche für den neuen Gottesdienst ein günstiges Gutachten abgeben würden. An sie ließ daher Jacobson Anfragen ergehen10 und sah seinen Wunsch erfüllt. Er legte ihnen keineswegs Punkte von großer Tragweite, z.B. die Ausmerzung der messianischen Stellen aus den Gebeten, sondern lediglich wenig verfängliche Fragen zur Begutachtung vor. Aaron Chorin (Choriner), Rabbiner in Arad (Ungarn), ein zweideutiger Charakter und ein langweiliger Schwätzer von angefirnißter Bildung und mittelmäßiger talmudischer Gelehrsamkeit, der imstande war, ein und dieselbe Albernheit dreimal zu wiederholen (in hebräischer Sprache, in deutscher und deutsch-jüdischer Schrift), war der erste, der sich von Libermann gebrauchen ließ. Er huldigte den neuen Bestrebungen, ohne ein geklärtes Urteil zu haben. Mose Kunitz, Rabbiner von Ofen, war zwar ein Mann vom alten Schlage, wollte aber aus eigener Querköpfigkeit oder Narrheit eine gesonderte Stellung neben seinen Standesgenossen einnehmen. Er war der zweite Fürsprecher für die Neuerung im Gottesdienst. Wohlhabend und von seiner Gemeinde unabhängig, konnte Kunitz seinen Grillen folgen. Einerseits hatte er närrische Gelehrsamkeit entfaltet, um den Beweis zu führen, daß das kabbalistische Grundbuch Sohar alt sei und von Simon ben Jochaï stamme, und auf der an dern Seite redete er Neuerungen das Wort, die nach der kabbalistischen Theorie geradezu zur Verdammnis führen. [393] – Zwei italienische Halbrabbiner, Schem-Tob Samun aus Livorno und Jakob Vita Recanati, sprachen sich ebenfalls zugunsten der Neuerung aus. Die Gutachten sämtlicher vier nicht ganz zurechnungsfähigen Männer lauteten, daß die Einführung der Orgel nicht gegen das rabbinische Gesetz verstoße. Chorin allein brachte noch für alles übrige, auch für deutsche Gebete Belegstellen herbei. Alle diese Gutachten brachte Libermann zusammen, bekräftigte sie durch seine eigene Scheingelehrsamkeit und fügte eine Lüge hinzu, daß nicht nur das ganze Rabbinat von Livorno, sondern auch das von Jerusalem den Gebrauch der Orgel im jüdischen Gottesdienste für unbedenklich erklärt hätte. Die Gutachten, durch den Druck verbreitet, sollten dazu dienen, dem Hamburger Reformtempel gleich bei seiner Geburt den Charakter der Unbescholtenheit zu verleihen und von ihm den Makel zu entfernen, den, wie vorauszusehen war, die Rabbinen der alten Schule ihm anheften würden.

Während die Reformpartei rührig war, um jeder Schwierigkeit im voraus zu begegnen, war die altfromme Partei träge und ließ die Gefahren für ihre Überzeugungen ratlos herankommen. Hamburg hatte damals, wie gesagt, keinen Rabbinen an der Spitze, sondern nur ein Kollegium von drei Rabbinatsverwesern (Dajjanim), die durchweg unbedeutend waren, Baruch Osers, Mose Jakob Jafa und Michael Speyer. Obwohl diese offiziellen Vertreter des Judentums in Hamburg fast die ganze Gemeinde hinter sich hatten, traten sie doch der Neuerung ohne besonderen Nachdruck entgegen. Das Kollegium ließ nur kurz nach der Eröffnung des Tempels eine schwächliche Bekanntmachung in den Synagogen anheften (26. Okt. 1818), daß kein Israelite von frommer Gesinnung sich des neuen Gebetbuches bedienen dürfe, weil darin gegen das Herkommen wesentliche Stellen weggelassen oder verändert seien. Aber auch diese Erklärung verlor ihre Wirkung, als der Gemeindevorstand, den die Verweser nicht einmal für ein tatkräftiges Vorgehen zu gewinnen gewußt hatten, sie wieder abnehmen ließ und gegen deren Urheber den Tadel aussprach, daß »sie sich eine unbefugte, nicht zu duldende Anmaßung hätten zu schulden kommen lassen«. Später ließ der Vorstand zwar auf Antrag des Kollegiums die Leiter des Tempels vorladen (8. Nov.) und eröffnete ihnen, daß sie ihr Gebetbuch außer Brauch setzen möchten, weil es nicht mit dem bei allen jüdischen Gemeinden eingeführten Ritus übereinstimme. Aber die Templer lachten diese Zumutung förmlich aus.

Der Tempelverein erhielt noch dazu von einer Seite, von der er es nicht erwarten konnte, eine moralische Unterstützung, die in Hamburg [394] selbst ein bedeutendes Gewicht in die Wagschale warf. Lazar Rießer (starb 1828), Vater des unermüdlichen Vorkämpfers für die Gleichstellung der Juden in Deutschland, wurde stets zu den Altfrommen gezählt. Schwiegersohn des Rabbiners Raphael Kohen und seine rechte Hand, wurzelte sein ganzes Wesen im Talmud. Rießer war durch die Verzichtleistung seines Schwiegervaters auf das Rabbinat brotlos geworden; die Hoffnung, die er gehegt zu haben schien, unter dessen Nachfolgern Sekretär des Rabbinatskollegiums zu bleiben oder gar Mitglied desselben zu werden, hatte sich nicht erfüllt. So mußte er Lotterieagent werden und hatte durch einen günstigen Zufall die Pacht der Lübecker Stadtlotterie erhalten. Er hatte eine hebräische Lebensbeschreibung von Raphael Kohen veröffentlicht, in welcher er nicht bloß ihn, sondern dessen ganze rabbinische Richtung verherrlichte und sich selbst als treuen Anhänger derselben erklärte. Wie erstaunt waren daher die Hamburger Juden beider Parteien, als mit einem Male von Rießer ein Sendschreiben »An meine Glaubensgenossen in Hamburg« (Dez. 1818) erschien, welches die Tempelneuerung billigte und die dagegen eifernden Hamburger Rabbinatsverweser mit derben Worten tadelte! Er nannte diese geradezu »Heuchler und Scheinheilige11«, wel che »die Zwietracht in Israel nähren und den Söhnen, welche zur Huld des Vaters zurückkehren wollen, den Weg versperren«. Er stellte die Andacht, die im Tempel herrschte, dem lärmenden Treiben in den Synagogen gegenüber als Muster auf. Ganz aufrichtig war diese Ermahnung und dieser Tadel nicht. Lazar Rießer war von einer gewissen Eitelkeit, zu deklamieren, wie hebräische und deutsche Phrasen zu drechseln, nicht ganz frei. Es scheint, daß er eine kleine Rache an den Hamburger Rabbinatsverwesern habe nehmen wollen, durch die er sich vielleicht zurückgesetzt glaubte12.

Die altfromme Partei in Hamburg, welche geglaubt hatte, daß sich von den Rabbinen in ganz Europa nicht ein einziger zugunsten der Neuerung aussprechen würde, war bitter enttäuscht. Durch die [395] Geschäftigkeit Jacobsons und Libermanns hatte das jüdische Publikum erfahren, daß mehrere Rabbinen von weit her ihr das Wort geredet; nur ein einziger, Akiba Eger II., Rabbiner der Nachbargemeinde Altona, hatte sie verdammt. Die alten Rabbinen hatten sich dabei nämlich so schläfrig und lässig gezeigt, daß sie zweimal aufgefordert werden mußten, ehe sie ihr Urteil gegen den Tempelabgaben. Das Hamburger Rabbinat hatte außerdem in der ersten Aufwallung die Unklugheit begangen, auch das Unschuldige und Löbliche, das im Tempel eingeführt worden war, zu brandmarken, z.B. die portugiesische Aussprache des Hebräischen, das Unterlassen des Singsangs bei den Vorlesungen aus der Bibel. Um diese seine Fehler wieder gut zu machen, beschränkte das Kollegium seinen Einspruch später auf drei Punkte, indem es sich gegen die Kürzung des Gebetes, namentlich gegen die Unterlassung der Messiashoffnung, gegen die Gebete in deutscher Sprache und endlich gegen die Einführung der Orgel wandte. Dazu erlangte es endlich die Zustimmung von angesehenen Rabbinen und Rabbinaten; vier deutschen (Fürth, Mainz, Breslau, Hanau), fünf italienischen (Triest, Modena, Padua, Mantua, Livorno), drei preußisch-polnischen (Posen, Lissa, Rawitsch) und zwei mährischen (Nikolsburg und Trietsch). Das Prager Rabbinat, Mose Sßofer in Preßburg, der deutsche Rabbiner in Amsterdam und die französischen Großrabbinen des Konsistoriums von Wintzenheim begutachteten in demselben Sinne. Sie alle erklärten die Neuerung im Tempel für entschiedene Ketzerei, für Abfall vom Judentume. Libermanns Betrügerei war dabei an den Tag gekommen, daß das Rabbinat von Livorno sich keineswegs zugunsten der Orgel ausgesprochen hatte. Der angebliche Rabbiner Samun von Livorno und Chorin von Arad widerriefen, wahrscheinlich infolge moralischer Zwangsmittel, ihr früher abgegebenes Gutachten. Am eifrigsten hatten sich zur Verdammung des Tempels Sßofer von Preßburg und Benet von Nikolsburg bewiesen; sie verketzerten auch die geringste Abweichung vom Herkömmlichen. Aber der Eindruck, den sich die Urheber von ihrem Auftreten versprochen hatten, erfolgte nicht. Sie hatten zu lange gezögert, es waren bereits mehr als sieben Monate verstrichen, ehe die Verketzerungsgutachten bekannt wurden; indessen hatte sich der Tempelverein befestigt. Achtzehn verurteilende Rabbinate (40 Rabbiner), das war nicht viel; das angesehenste Rabbinat, das Zentralkonsistorium von Frankreich, hatte geschwiegen. Die Herausgeber erklärten zwar, es wären noch mehr Gutachten eingelaufen; aber diese nachträgliche Erklärung zog nicht. Die Gründe, welche die Rabbinen gegen den Tempelgottesdienst geltend gemacht hatten, [396] waren meistens nicht stichhaltig, einige geradezu kindisch. Der Buchstabe sprach gegen sie. Die Mannigfaltigkeit der rabbinischen Autoritäten aus so verschiedenen Zeiten und Ländern gestattete immer Scheinbeweise für oder gegen eine Frage anzuführen. Die Rabbinen hätten sagen müssen, wenn auch der Buchstabe für die Neuerung spricht, so muß doch der Geist des talmudischen Judentums sie verdammen. Aber auf dieser Höhe standen sie nicht und gaben sich, weil sie auch den Buchstaben günstig für ihre Ansicht deuten wollten, manche Blöße.

Diese Blöße deckte schonungslos einer der Urheber der Hamburger Reform, M. J. Bresselau, in einem hebräischen Sendschreiben auf (1819). In einem so prächtigen biblischen Stil, in so musterhaften, bilderreichen, biblischen Versen ist es gehalten, daß es schien, als wenn Propheten und Psalmisten die Verblendung der Stockrabbinen gegeißelt hätten. Bresselau behandelte sie bald wie unwissende Knaben, bald wie Lügenpropheten, besonders aber als Friedensstörer. Jeder Satz in diesem scheinbar ernsten, aber ätzend satirischen Sendschreiben ist ein Dolchstoß gegen die alten Unsitten und ihre Verteidiger13. Die Neuerer erhielten auch von Polen aus Verstärkung. Zwei gewandte hebräische Stilisten, David Caro (starb 1839) aus Posen, ein Genosse der Measfimschule, und Jehuda Löb Mises aus Lemberg, behandelten in einer gemeinschaftlichen14 Schrift die gegnerischen Rabbinen wie dummköpfige Schüler, welche die Rute verdienten. – Ganz besonders geißelte der letztere in schöner hebräischer Darstellung die Rabbinen Polens in der Schrift »Beschaffenheit der Rabbinen, oder die Rabbinen, wie sie waren, sind und sein sollen.« Freilich haben beide, Caro und Mises, nicht gewagt, ihren Namen dabei zu nennen15. Die [397] Alten dagegen hatten nicht einmal einen hebräischen Kämpfer aufzustellen, der ihre Sache zu verfechten und ihre Gegner zu bekämpfen imstande gewesen wäre. Der hebräische Stil, dessen sich die begutachtenden Rabbinen bedient hatten, war holprig und unschön. Das Hamburger Dajjanat hatte zwar die Gutachten teilweise ins Deutsche übersetzen lassen – ein Zugeständnis, welches die Schwäche ihrer Sache verriet – aber der deutsche Ausdruck war nicht geeignet, Eindruck zu machen. Sie mußten sich dazu eines Überläufers, Schalom Kohen, bedienen, der früher selbst zu den Neuerern gehört hatte16. Kurz, die Stockfrommen hatten Unglück, weil sie ungeschickt und unklug waren.

Es kam noch dazu, daß der Beginn des Streites für und gegen den Tempel in das Jahr des Hep-Hep-Sturmes fiel, der auch in Hamburg spielte. Dadurch wurden auch die reichen und verweltlichten Juden auf ihre eigene Genossenschaft hingewiesen und nahmen eifrig Partei für die einmal entfaltete Fahne. Die Hamburger jüdischen Kaufleute, Mitglieder des Tempelvereins, welche die Leipziger Messe gerade zu den Hauptfeiertagen im Frühjahr und Herbst zu besuchen pflegten, errichteten im Verein mit gleichgesinnten Berliner Kaufleuten [398] eine Tochtersynagoge daselbst (seit 20. Sept. 1820), für deren Eröffnungsfeier Meyerbeer die Gesänge komponiert hatte. Sie stellten dazu einen sogenannten Meßprediger an, Jakob Auerbach, und gaben dadurch an diesem Sammelpunkte so vieler Juden aus allen Ländern der Neuerung eine größere Tragweite. Die Hamburger Reform fand dadurch hier und da Nachahmung; auch da, wo das ganze Programm nicht ausgeführt werden konnte, in Karlsruhe, Königsberg, Breslau, wurde wenigstens eine Nachäffung, die Konfirmation, eingeführt.

Der erste Ansatz zu einer Gegenpartei, welche der überschäumenden Flut der Reform einen Damm entgegensetzen sollte, damit sie sich in ein ruhiges Bett verlaufen könne, wurde gerade infolge der Tempelneuerungen gemacht. Diese Gegenpartei wurde von einem Manne ins Leben gerufen, der zwar selbst mit einem Fuße aus dem rabbinischen Judentum herausgetreten war, aber doch die Befestigung und Rechtfertigung desselben anstrebte, in der richtigen Erkenntnis, daß die Entwicklung auf dem eigenen Boden, mit Berücksichtigung des geschichtlich gewordenen Bestandes und der eigenartig ausgeprägten Gebilde, und ganz besonders ohne Nachäffung fremder kirchlicher Formen geschehen müsse. Isaak Bernays (geb. in Mainz 1792, starb in Hamburg 1849)17 war der Mann, welcher eine nicht blinde, sondern bewußte Gegenrichtung gegen die Verflachung der aufklärerischen Reform bildete. In Süddeutschland hatte sich überhaupt gegenüber dem norddeutschen Formelwesen, welches aus dem engen Gesichtskreis des handgreiflich Verständigen nicht herauskam, eine mystisch-philosophische Schule gebildet, welche eine Art Geisterseherei trieb. Sie erblickte in allem, im kleinsten wie im größten, in Natur und Geschichte, in Gruppierung, Zahl, Farben und Namen lauter Gedankenreihen, Ideenkeime, zerschlagene Trümmer eines Riesenspiegels, welcher den Urgedanken in unübersehbarer Größe zurückwerfe. Diese grübelnde süddeutsche Schule der Kreuzer, Kanne, Oken, zu denen auch noch Schelling gehörte, vertiefte sich in den Ursprung der Religionen und Sprachen, ebenso in die indische, ägyptische und griechisch-römische Mythologie, in den Kultus der Urreligionen und deren Symbole und Mysterien. Sie entdeckte da gegliederten Zusammenhang, wo der eingeengte Verstand nur Zufall und Spielerei wahrnahm. In dieser Schule hatte [399] sich Isaak Bernays gebildet. Seinem Auge offenbarte sich das Judentum in seiner Literatur und seinem Geschichtsgange in einer bis dahin noch nicht gesehenen Gestaltung. Bernays' Geist, von übersprudelndem Gedankenreichtum erfüllt, fand in allen Erscheinungen harmonische Gliederung und Entfaltung eines Urgedankens, der zur organischen Auseinanderlegung seines Inhaltes in die Zeitform, in die Geschichtsentwicklung eingegangen sei, und sich vom Urbeginn der Schöpfung bis auf die jüngste Weltgestaltung fortgesponnen habe. Bernays war der erste, der, viel tiefer als Mendelssohn, das Judentum in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung erkannte und dessen Literaturumfang mit weitem Blicke überschaute. Sein Fehler war vielleicht, daß er zu viel Gedanken hatte, daß er dadurch zu viel suchte und fand, und besonders, daß er dem Gedanken nicht die angemessene Form und Worthülle zu geben vermochte. In seinem Reichtum blickte er verächtlich mitleidig auf die Gedankenarmut der jüdischen Reformgründer herab, welche den Riesengeist des Judentums, von dem sie keine Ahnung hatten, in den engen Rahmen eines Katechismus für große und kleine Kinder einspannen und einengen wollten. Die »Friedländerianer« waren für ihn der Inbegriff aller Flachheit und Beschränktheit. Weil diese in einigen Spiegeltrümmern das Bild des Judentums in verkehrter Stellung erblickten, oder vielmehr, weil sich ihr eigenes Bild darin abspiegelte, glaubten sie das Judentum umgestalten zu müssen und zu können. Sie machten auf Bernays den Eindruck eines Gesindels, das in einem Pyramidentempel haust und ihn sich bequem für kleinliche häusliche Bedürfnisse einrichtet. »Sie (die Jünger Mendelssohns), ihres Altertums sich schämend, ziehen es vor, als Findelkinder der Gegenwart, losgebunden und wild, über die unmodischen Schranken des Gesetzes galant zu hüpfen, als in der Schule ihrer Stammesbildung aufzuhorchen, was zu dieser Zeit der Gott gewirkt«18. »In der Modesucht liegt auch der wahre Grund der so üppigen Produktivität der modernsten jüdisch-literarischen Pflanze, jüdische Katechetik genannt, welche Kate chisme großenteils eher die Tendenz verraten, eine bequeme Einigungs-, ja Übergangsbrücke zum Protestantismus, d.h. zur reinen Begriffsreligion auf die gemeinmoralischen Pfeiler biblischer Stellen zu schlagen.«. ... »Bei der Ignoranz seiner selbst, worin großenteils den Juden die barbarische Acht stürzte, mit der man ihm in den letzten Jahrhunderten alle Geistesquellen untersagte und ihn eben dadurch desto lüsterner nach dem kühlen [400] Modegewässer machte, mußte sich der unhistorische Wahn seiner bemächtigen, daß, wenn auch er den Kieselfels des mosaischen Buchstabens erklommen, von dieser kahlen Höhe aus, dem Talmud, der ihn durch das Mittelalter fast mirakulös leitete, jetzt tapfer den Gehorsam aufkünden würde, er eben sie durch seine geistige Großjährigkeit ... dokumentieren dürfte.«

Bernays' Gedankengang, mit dem er das Judentum in seinem Kopfe aus dessen Urkunden und aus dessen Geschichte wie aus Trümmermassen wieder aufbaute, ist uns nur halb erschlossen. Er liebte mehr mündliche als schriftliche Belehrung und hatte eine Scheu davor, seine Gedanken auf Blättern hinausflattern zu lassen. Der »Bibelsche Orient«19, den man ihm zuschrieb, enthält nur den Grundriß einer Vorhalle, welche in den Ehrfurcht gebietenden Tempel führen sollte. Diese in der Form barocke, aber durch Tiefe und Ursprünglichkeit ausgezeichnete Schrift geht von dem Gedanken aus, daß das Judentum die Aufgabe habe, den von Gott abgefallenen, gottähnlichen Menschen zu ihm wieder zurückzuführen, und daß das jüdische Volk dem Menschengeschlecht als Vorbild diene, wie die verloren gegangene Gottähnlichkeit des Menschen und der innige Zusammenhang desselben mit Gott wieder zu gewinnen seien. Ganz besonders solle durch diesen Volksstamm, seine Lehre und seine Geschichte der abhanden gekommene Gedanke von der göttlichen Einheit und der allgegenwärtigen Vorsehung für die Menschen wieder lebendig werden. Das Judentum sei als erste Reformation aufzufassen, als Gegensatz zu dem durch den Abfall des Menschen überhand genommene Götzentum, entstanden durch die Zerklüftung der göttlichen Eigenschaften in selbständige Wesen und Verbildlichung der Gottheit. Die Spuren dieses Prozesses, wie die göttliche Einheit in die Vielheit der Götter auseinanderging, zeigen sich noch in der hebräischen Sprache, die, ein Kind des heidnischen Geistes, sich nach und nach monotheistisch läuterte, ohne die Spuren ihres Ursprunges ganz aufgegeben zu haben. »Sie (die Israeliten) wurden ihrer chitäischen Mutter und ihrem emoritischen Vater gewaltig, ja tyrannisch entrissen, und ihr Geist in eigentümlicher Nationalbildung geformt«20. Der »Bibelsche Orient« wollte damit den Grund zu einem tieferen Verständnisse der Bibelsprache legen, als es die Mendelssohnsche Schule getan hatte, welche sie bloß von der poetischen Seite betrachtet und ihren tiefsinnigen, oder richtiger, den Kampf [401] zweier Weltanschauungen miteinander abspiegelnden Charakter verkannt hatte. Damit glaubte Bernays diese Schule samt ihrem Stifter von ihrer erträumten Höhe herunterzubringen, daß Mendelssohn selbst durch die oberflächliche Behandlung des hebräischen Sprachgutes den Grund zur Verflachung des Judentums gelegt habe. Ja, er verstieg sich noch höher hinauf, bis zu Maimuni, dem Urahn und Liebling der jüdischen Vernünftler, um auch ihn vom Throne zu stürzen, und zwei andere Denker oder Gemütsanempfinder, den dichterischen Philosophen Jehuda Halevi und den verständigen Mystiker Nachmani, daraufzusetzen, beide, weil sie seinem Gedankengange mehr zusagten.

Wie die Sprache, so sei, nach Bernays' Ansicht, auch der hebräische Kultus anders als der heidnische geartet und im Gegensatz zu demselben gestaltet. Das Götzentum habe sich in bildlicher (plastischer), das Judentum in handelnder (ritualer) Symbolik ausgeprägt. Damit sollte gerade diejenige Seite des Judentums gerettet werden, welche die Reformpartei, als unangemessen und unwürdig, nicht gründlich genug beseitigen zu müssen trachtete. Alles, was sich im Verlauf der Geschichte des jüdischen Volkes eingelebt und ausgebildet hat, solle, nach Bernays, zu sei nem Rechte kommen, gehöre als notwendiges Glied zum Ganzen, selbst der Talmudismus und die Kabbala. In eigentümlichen sphinxartigen Sprachwendungen legt der »Bibelsche Orient« die Phasen und Knotenpunkte der jüdischen Geschichte auseinander, wie sie alle nur Entwicklung eines vielseitigen Gedankens seien. Bernays war damals kühn genug, manche Erscheinung in derselben, wie hoch sie auch in der Verehrung der Stockfrommen stand, als eine niedrige Stufe zu bezeichnen. Die ecclesia magna – große Versammlung – unternahm »das Seil der Liebe, woran der Herr sein Volk aus Ägypten nach Kanaan hinleitete, zu einem knotigen Stricke umzuflechten, der es an den kanaanitischen Boden isoliert, fest und unablösbar knüpfen sollte. Ja, wessen Geist war der neu eingehauchte? War er deß, der über den Cherubim thronte? Nein! Menschengeist war es, die Reflexion!«21. Ein Rabbiner alten Schlages hätte den »Bibelschen Orient«, wenn er den Inhalt hätte verstehen können, unfehlbar noch mehr verketzert, als Mendelssohns und Wesselys Schriften. Er enthält allerdings viel Unreifes, Barockes und manches, was ans Lächerliche streift. Aber wenn der Verfasser auch nur den einen Gedanken angeregt hätte, daß das Judentum eine weltgeschichtliche Aufgabe, ein Apostelamt für die Völker habe, so würde dieses eine [402] schon hinreichen, ihm einen Ehrenplatz in den Jahrbüchern der jüdischen Geschichte anzuweisen. Dieser Gedanke ist zwar nicht neu von ihm entdeckt worden; die Grundschrift des Judentums betont ihn scharf genug. Bei den Propheten erscheint er als der Kern ihrer Verkündigungen. In der Geschichte hatte er sich bewährt, die europäischen und asiatischen Völker wurden durch das vom Judentum erborgte Licht ihrer Finsternis entrissen. Aber die gehäuften Leiden der Juden und die Knechtsgestalt des Judentums hatten diesen Gedanken so vollständig in Vergessenheit gebracht, daß die eigenen Söhne keine Ahnung mehr davon hatten. Das Verdienst dessen, der diesen Gedanken gewissermaßen wieder entdeckt hat, ist daher nicht gering anzuschlagen.

Bernays' außergewöhnliche Begabung und urwüchsige Anschauung hatten die Aufmerksamkeit der jüdischen Kreise auf ihn gelenkt. Er hat zwar später die Vaterschaft des »Bibelschen Orients« abgeleugnet; aber wenn Bernays ihn nicht verfaßt haben sollte, so hätte er ihn verfassen können, es ist Fleisch von seinem Fleische oder Geist von seinem Geiste.

Die Hamburger Gemeinde, welche eine Gegenkraft gegen den Tempelverein vermißte, wählte ihn infolge seiner Bedeutung zu ihrem geistigen Führer. Es war ein guter Griff und von nicht geringer Tragweite. Dem Kampfe, den die beiden berechtigten Prinzipien miteinander führten, die Erhaltung des Judentums in seiner Eigenart einerseits, und die Annäherung der Juden an die europäische Kultur anderseits, waren die Rabbinen des alten Schlages nicht gewachsen. Ihre Waffen waren rostig und beschädigten die Verteidiger mehr noch als die Gegner. Junge Kräfte mußten dazu angeworben werden, welche, mit der Zeitbildung vertraut, sie zur Würdigung und Läuterung des Judentums verwerten konnten. Die Wahl Bernays' zur Besetzung des Hamburger Rabbinats (Nov. 1821) machte Aufsehen; er war der erste wissenschaftlich geschulte Rabbiner. Ein Zeichen der Zeit war es, daß er diesen Titel ablehnte und sich lieber Chacham, wie es unter den portugiesischen Juden üblich war, nennen ließ; die Unbeliebtheit des Namens »Rabbiner« sollte nicht ein Hindernis für seine Tätigkeit sein. Treu seinem Widerwillen gegen Nachäfferei, vermied er die geistliche Mummerei, auf welche die Reformprediger auf der Kanzel in Tracht und Gebärdenspiel so viel Wert legten. Bernays gab sich nicht als Seelsorger, sondern als Lehrer seiner Gemeinde aus. Er predigte auch, aber in Inhalt und Form und bis auf Äußerlichkeiten grundverschieden von der Weise, welche die Jacobsonsche Schule eingeführt hatte. Seine Predigten waren natürlich in der ersten Zeit [403] sehr besucht; die Neugierde hatte auch viele von der Reformpartei herbeigezogen. Sie wurden zwar, vermöge seines eigenartigen Gedankenganges von der Menge nicht verstanden; aber denkende Zuhörer sprachen ihm wenigstens Originalität zu, welche gegen die Flachheit der Tempelprediger abstach. Als Heine, der sich damals noch praktisch für das Judentum interessierte, in Hamburg war, trieb es ihn, Bernays' Predigt anzuhören, um einen Vergleichanstellen zu können. Er verstand sich auf Gedankengehalt und Form, oder wie Zunz von ihm sagte: »Unser Heine hat in einem Finger mehr Geist und Sinn, als alle aufgeklärten Minjonim (Betgemeindchen) Hamburgs«22. Das Urteil des lyrischen Spötters war: »Bernays habe ich predigen gehört ... keiner von den Juden versteht ihn, er will nichts und wird auch nie eine andere Rolle spielen; aber er ist doch ein geistreicher Mann und hat mehr Spiritus in sich als Kley, Salomon, Auerbach I und II.«23. Heine geriet wegen seiner scheinbaren Parteinahme für Bernays, weil er ihn über die Reformprediger stellte, in einen Streit mit dem rührigsten Mitgliede des Tempelvereins, das ihn deswegen bei seinem Oheim anschwärzte24. Die Parteisache war zu einer kleinlichen Personenfrage herabgedrückt.

Bernays wußte sich durch geräuschloses Wirken nicht bloß die Achtung der Gemeinde zu erhalten, sondern auch die der stockfrommen Juden auswärts zu gewinnen. Ihre argwöhnische Natur fand nichts an dem religiösen Tun und Lassen des Chacham auszusetzen. Dadurch erlangten die von ihm eingeführten Veränderungen, im eigentlichen Sinne doch Reformen, auch in frommen Gemeinden Beifall und Nachahmung. Mehr noch wirkte er durch seine tiefeingehende und geistvolle Belehrung für Erwachsene, denen er die damals wenig bekannten, gehaltvollen jüdischen Literaturschätze zugänglich machte. Dadurch hat er seinen Jüngern freudige Anhänglichkeit an das Judentum eingeflößt. Von Schriftstellerei war er, wie schon gesagt, kein Freund. Wenn sein Mut mit seinem Wissen und Gedankenreichtum gleichen Schritt gehalten hätte, so würde seine Tätigkeit mehr Spuren in der neueren jüdischen Geschichte hinterlassen haben.

Nach einer anderen Seite wirkte ebenso wohltätig und erhebend eine ganz anders geartete Persönlichkeit, ursprünglich ein Jünger der Jacobsonschen Schule, der aber durch Milderung der Schroffheiten[404] die mißliebige Läuterung des Gottesdienstes beliebt machte und die rechte Norm dafür fand. Isaak Noa Mannheimer (geb. in Kopenhagen 1793, starb in Wien 1864)25 könnte man die verkörperte Veredelung der Juden nennen. Er war ein ganzer Mann. In ihm war der kernhafte Gehalt des Urjüdischen mit der ansprechenden Form europäischer Kultur harmonisch geeint, wie er denn überhaupt eine harmonische Natur war. Inneres und Äußeres, Gemüt und Witz, Begeisterung und Klugheit, ideales Leben und praktische Sicherheit, poetische Anlage und nüchterner Sinn, kindliche Milde und treffender Spott, sprudelnde Beredsamkeit und ernstliche Tätigkeit, Liebe für das Judentum und Vorliebe für Neugestaltung waren in seinem Wesen im schönsten Einklange. Diese scharfkantigen Eigenschaften, verbunden mit Seelenadel und einer Uneigennützigkeit, die an Selbstlosigkeit streifte, mit Hingebung an die gewonnene Überzeugung, mit Gewissenhaftigkeit innerhalb und außerhalb seiner Amtspflichten, mit Zartgefühl, feinem Takt, Widerwillen gegen das Gemeine und Nachsicht gegen die Gemeinen, diese Eigenschaften nahmen auf den ersten Blick für ihn ein, fesselten die Edlen, flößten selbst den Unedlen Ehrerbietung für ihn ein und erleichterten dadurch seine Wirksamkeit. Geboren und erzogen unter der milden dänischen Regierung, welche frühzeitig den Juden die Gleichstellung einräumte und sie nicht mehr zurücknahm oder beschränkte, lernte Mannheimer von seiner Kindheit an, sein Haupt hochzutragen und auch in dem Lande furchtlos seine Glaubensgenossen und seine Überzeugung zu vertreten, wo der knechtische Sinn des Bürger- und Bauernstandes und noch mehr der Juden lange Zeit heimisch war. Er besaß zwar keine originellen Gedanken und keine tiefe Vertrautheit mit dem Umfange des jüdischen Schrifttums; aber er hatte Verständnis und Empfänglichkeit für ureigene Überzeugungen, die er hegte und nicht als einen toten Schatz in sich vergrub, sondern rührig zu verwirklichen strebte. Diesen Mann der Tat und des Wortes stellte die geschichtliche Fügung auf einen Posten, wo seine kernhafte Natur und Eigenart am wirksamsten eingreifen und weite Kreise veredeln konnten. Hinterher muß jeder, der die österreichischen Zustände von damals und den Aufschwung der österreichischen Juden von heute kennt, sich sagen, Mannheimer war für die österreichische Hauptstadt, an der Grenze der halbbarbarischen Länder, so recht vorher bestimmt, um die dortigen Juden aus der [405] sittlichen Gesunkenheit zu heben, in die sie Josephs II. Aufklärungstyrannei nicht minder als die Judenfeindlichkeit seiner Mutter gestürzt hatten, und die Schäden wieder auszubessern, welche die Herz Homburg, die Peter Beer und die ganze Schar der sogenannten »Normallehrer« und offiziellen Religionslehrer angerichtet hatten.

Ein Häuptling, welcher mit einer Schar halbwilder Menschen inmitten der widerwärtigsten Kämpfe und Gefahren eine Kolonie gründet, sie veredelt und zu einem musterhaften Gemeinwesen umbildet, hat kein größeres Verdienst, als sich Mannheimer um die Gründung der Wiener Gemeinde erworben. Das Feldlager Metternichs und Franz I., obwohl diese auf dem Wiener Kongresse den Juden völlige Gleichstellung verheißen hatten, duldete sie eigentlich nicht in sei nem Gebiete; nur ausnahmsweise wurden einige reiche Familien mit ihren Anhängseln unter den wunderlichsten Titeln toleriert. Diese Tolerierten waren aus den verschiedensten Ländern eingewandert und hatten keinen urwüchsigen Zusammenhang untereinander, kein Gemeinderecht, durften keine Synagoge besitzen, keinen Rabbiner anstellen, kurz, gesetzlich war ihnen als Religionsgenossenschaft so gut wie alles verboten. Nichtsdestoweniger empfanden einige abenteuerliche Glieder ein Gelüste, einen deutschen Gottesdienst nach dem Muster des Hamburger Tempels einzuführen, und wurden darin von der Regierung das eine Mal ermutigt, das andere Mal entmutigt. Während diese Wiener Aufgeklärten auf vielen Umwegen den Bau eines Tempels unternahmen, erwarben sie Mannheimer zum Prediger desselben (seit Juni 1825), waren aber genötigt, ihm, unter Umgehung der beschränkenden Gesetze, einen dem Klange nach niedrigen Titel zum Zwecke des Heimatsrechts für ihn in Wien zu verschaffen.

Obwohl Mannheimer mit den grundsätzlichen Zertrümmerern des alten Judentums, mit David Friedländer, Jacobson und den jungen Stürmern befreundet war und in den Reformsynagogen in Berlin, Hamburg und Leipzig zeitweise gepredigt hatte, so hatte er sich doch dieser Richtung nicht so hingegeben, um ihre Grundfehler nicht zu erkennen. Sein erstes Wort in seinem neuen Wirkungskreise wie sein letztes war, keine Spaltung in der Judenheit hervorzurufen, keine Sektiererei zu fördern, die Altfrommen nicht durch kühne Sprünge zu verletzen und abzustoßen, sie vielmehr für die neuen Formen allmählich zu gewinnen. In diesem Sinne setzte er eine gemäßigte Tempelordnung gegen den Mann, Lazar Michael Biedermann, durch, der ihn zu seinem Amte befördert hat. Nur die häßlichen Auswüchse entfernte Mannheimer aus dem neuen Gotteshause, [406] machte es würdevoll, belebte es durch sein ausdrucksvolles Wort, behielt aber die hebräische Sprache, das starke Bindemittel, bei und gab, zum Leidwesen seiner ehemaligen Reformgenossen, Orgel und deutsche Lieder preis. Mehr noch als Isaak Bernays hat Isaak Mannheimer die Versöhnung des Alten mit dem Neuen durchgeführt.

Auch in seiner Kanzelberedsamkeit, die von jüdischen und christlichen Sachkundigen als höchst bedeutend anerkannt war, zeigte sich diese harmonische Verschmelzung der beiden scheinbar feindlichen Elemente. Mannheimer hatte in der jüdischen Literatur einen edlen Schatz entdeckt und reichlich ausgebeutet. In der talmudisch-haggadischen Literatur, einer reichen Fundgrube von Kernsprüchen, Parabeln, Gnomen, beziehungsreichen Wendungen und witzreichen Anspielungen, machte er sich heimisch, suchte die Goldkörner aus, oder richtiger, wußte dem Unscheinbarsten darin eine gefällige Seite abzugewinnen, es als bedeutend hervortreten zu lassen, und machte dergestalt Aussprüche der alten Haggadisten zu Dolmetschern neuer Anschauungen und Gedanken. Seine Predigtweise, worin er Gotthold Salomon weit übertraf, erhielt durch Benutzung der haggadischen Elemente einen eigenen Schlifs und übte eine starke Anziehung auf die frommen Juden und auf das heranwachsende Geschlecht aus. Auch portugiesische (fränkische) Juden, welche aus der Türkei sich in Wien angesiedelt hatten, hörten gern den lebhaften und geistvollen Prediger. In Mannheimer wie in dem neuen Tempel in Wien (eingeweiht April 1826) umarmte sich Morgen- und Abendland. Als wären der Wiener Tempel und die Gemeinde von Anfang an dazu bestimmt gewesen, das Versöhnungswerk zwischen den alten und neuen Formen zu vollziehen, hatte sich für dieselben ein Sangeskünstler gefunden, der mit seinen reichen Stimmitteln den hebräischen Gebeten einen fast zauberhaften Ausdruck verlieh und den alten verschnörkelten Synagogengesang in schmelzende Melodien umschuf. Diese Melodien machten die betäubenden Orgeltöne überflüssig und ließen sie als störend erkennen. In den sanften und schwellenden Chorälen und Solopartien des Wiener Tempels zeigte sich wie in Mannheimers Predigten, daß das alt Überkommene nicht so unbrauchbar sei, wie es die Reformstürmer verlästerten, vielmehr nur einer Läuterung bedürfe, um verjüngungsfähig zu werden und Eindruck zu machen. Kanzel und Chor, gleichgestimmt, erzeugten daher eine eigene Stimmung in der anwachsenden Wiener Gemeinde, deren Grundton Liebe zum angestammten Judentume war, zugleich das jüdische Altertum mit Ehrfurcht zu betrachten und dem Bedürfnis der neuen Zeit zu genügen. [407] Mannheimers Persönlichkeit gab dieser Stimmung vollen Nachdruck. Auf der Kanzel wie in seiner Häuslichkeit und im Weltverkehr erschien er nicht als Seelsorger, Geistlicher, Priester, – er war ein Todfeind des salbungsvollen, himmelnden Wesens – sondern betätigte sich als milder Vater, Freund, Berater und Helfer. Da er es nicht an Tadel fehlen ließ, um die alten Unarten und die neuen Untugenden von ihrer schädlichen Seite zu zeigen, so erzog er sich durch Wort und Beispiel eine Gemeinde, welche wahrhaft Muster geworden ist, in welcher jedes Glied vor allem bestrebt ist, den Frieden zu erhalten und Spaltungen im Keime zu ersticken.

In Wien verwandelte sich zuerst trotz des politischen Druckes, der sich bis zum Revolutionsjahr erhielt, die Selbstverachtung der europäisch gestimmten Juden in Selbstachtung. Der Widerwille der polnisch verwilderten Juden gegen Gesittung verlor sich allmählich und machte einer Neigung zur Selbstveredlung Platz. Die Wiener Gemeinde erlangte dadurch eine geschichtliche Bedeutung. Der Ton, der von der Kanzel und dem Chor erscholl und in den Gemütern der Gemeindeglieder nachklang, erweckte einen mächtigen Widerhall in nahen und entfernten österreichischen Gemeinden. Pest, Prag und kleinere Gemeinden in Ungarn und Böhmen folgten dem von Wien gegebenen Anstoß durch die versöhnliche Art, wie hier der »geregelte Gottesdienst« auftrat. Bis nach Galizien wirkte die von Wien gegebene Anregung. Nach und nach fand die Wahl des Chacham Bernays für die Hamburger Gemeinde und Mannheimers Tätigkeit für die gottesdienstliche Ordnung in der Wiener Synagoge auch in deutschen Gemeinden Nachahmung. Gebildete Rabbiner wurden vorgezogen, und diese gaben den Synagogen ihre lang vermißte Würde wieder. Die deutsche Judenheit machte ihren Einfluß wiederum auf Frankreich und Italien geltend. Die französisch-jüdischen Konsistorien, welche die günstige Zeit von Frankreichs Übergewicht versäumt hatten, mußten empfangen, weil sie sich nicht zur Selbsttat erhoben hatten, um spenden zu können. Italien, wenigstens die Gemeinden, die zu Österreich gehörten, folgten ebenfalls der von Deutschland ausgegangenen Anregung, obwohl hier von jeher von der Kanzel in der Landessprache oder spanisch gesprochen wurde, und der Gottesdienst äußerlich nicht den Charakter der Verwilderung an sich trug. In Italien verdarb übrigens manches ein Mann, der es sehr gut meinte, Isaak Samuel Reggio in Görz (geb. 1784, starb 1855), durch seine Schrullen und seine Flachheit. Er hat durch die Art seines Auftretens die Erhebung der israelitischen Gemeinden zum Selbstgefühl und [408] zur Erkenntnis eher gehindert als gefördert. Reggio schrieb viel und in einem nicht unschönen hebräischen Stile; aber er verflachte alles, was er in die Hand nahm.

Wie viel selbst bedeutende Persönlichkeiten durch Verschrobenheit oder nebelhafte Verschwommenheit schaden, oder wie sehr sie wenigstens ihre eigenen Bestrebungen vereiteln können, zeigte sich an einem beredten Beispiel in Berlin, wo der Gegensatz zu den Erfolgen in Wien recht auffallend erscheint. Zur Zeit, als der gelehrte deutsche Pöbel Steine mit Hep-Hep-Gebrüll auf die Juden schleuderte, traten drei jüdische junge Männer zusammen, um eine Art Verschwörung gegen den unduldsamen christlichen Staat anzuzetteln, alle drei von ernstem, idealem Streben erfüllt. Sie dachten reiflich über die Mittel nach, die ergriffen werden müßten, um den tiefeingewurzelten Judenhaß der Deutschen zu vertilgen. Diese drei waren Leopold Zunz (geb. in Detmold 1794, gest. in Berlin 1886), ferner der Fahnenträger und Apostel der Hegelschen Philosophie und Stürmer der alten Juristerei, Eduard Gans (starb 1839), und endlich ein Buchhalter, der in der Bücherwelt lebte, Moses Moser, Heines vertrautester Freund, den dieser »die Prachtausgabe eines wirklichen Menschen, den Epilog von Nathan dem Weisen« nannte. Sie vereinigten sich (27. Nov. 1819) zu dem Zwecke, einen Verein »Für Kultur und Wissenschaft der Juden« zu gründen26. Gans, eine quecksilberne Natur, der einen Revolutionsführer hätte abgeben können, wenn es gegolten hätte, Gleichgesinnte anzuwerben, eine Fahne aufzupflanzen, Rollen zu verteilen, feurige Reden zu halten, Gans war der Führer derselben. Diesen drei jungen Männern schlossen sich zwei Gleichgesinnte an, welche für Wissenschaft, Freiheit und Idealismus schwärmten, Immanuel Wohlwill (früher Wolf genannt) und der körperlich kleine, aber geistig bedeutende Ludwig Markus, den Heine zugleich gehänselt und verherrlicht hat27. Auch die beiden versteinerten Mendelssohnianer, Bendavid und David Friedländer, traten dem Vereine bei. Jacobson fehlte nicht, wo es galt, mitzuraten und mitzutaten. Im ganzen zählte der Verein in Berlin etwa 50 Mitglieder, in Hamburg aus Mitgliedern des Tempelvereins etwa 20 und noch hier und da einige Teilnehmer. Wie schon erzählt, trat ihm auch Heine später bei und machte für ihn Propaganda.

[409] Die erste Ordensbedingung der Gründer war, treu bei dem Judentume auszuharren, den Verlockungen der Kirche tapfer zu widerstehen und so dem jungen Geschlechte ein leuchtendes Beispiel von Standhaftigkeit und Selbständigkeit zu geben. Wäre der Verein diesem Programme treu geblieben, so hätte er, da die meisten Mitglieder auf der Höhe der Zeitbildung standen und geistvoll waren, schon durch diese Tatsache segensreich für das Judentum wirken können. Aber er ging von einer falschen Voraussetzung aus, steckte sich zu ausgedehnte Ziele und vergriff sich in den Mitteln. Es fehlte dem Vereine ein praktischer Kopf. Die falsche Voraussetzung war, daß, wenn die Juden sich gediegene Bildung aneignen, sich auf Künste und Wissenschaften verlegen, statt des Handels Ackerbau und Handwerke treiben würden, der deutsche Judenhaß mit einem Schlage schwinden würde, die Söhne Teuts die Söhne Jakobs brüderlich umarmen würden, und der Staat ihnen die Gleichstellung nicht versagen würde. Darum wollte der Verein – es klingt komisch, was er alles wollte – Schulen, Seminarien und sogar Akademien für die Juden gründen, Gewerbe, Künste, Ackerbau und wissenschaftliche Leistungen befördern, die Juden sogar zu einem feinen Gesellschaftston erziehen28. Aus den Akademien wurde aber nur eine Art Privatschule, worin die gebildeten Mitglieder des Vereins armen Jünglingen, die noch immer aus der Fremde, namentlich aus Polen, nach Berlin zugewandert kamen, Talmudjüngern, die den Folianten entlaufen waren, um »Weisheit« zu lernen, Unterricht erteilten oder sie unterrichten ließen. Bald genug gewahrten die Stifter des Vereins, daß sie Luftschlösser gebaut hatten, und der »Kulturverein« eben wegen seines chimärischen Charakters keinen Anklang fand. Sie stimmten daher den hohen Ton herab und wollten sich auf Anregung beschränken und namentlich die Wissenschaft des Judentums fördern, was allerdings ein sehr lobenswertes Unternehmen und ein dringendes Bedürfnis war. Sie beschlossen daher, untereinander wissenschaftliche Vorträge zu halten und eine Zeitschrift für die »Wissenschaft des Judentums« zu gründen. Aber die Führer selbst wußten nicht recht, was darunter zu verstehen sei, was sie anbauen und befruchten sollten.

Hegel, der tiefe Denker und große Sophist, der Hof- und Kirchenphilosoph, hatte die für Wahrheit erglühenden jungen Juden in das Labyrinth seines Formelwesens eingeführt und sie halb wirr und irre gemacht. Die durch tiefe Beobachtung gewonnene Theorie, daß sich in der Erscheinungswelt dieselben Prozesse wiederholen, welche in [410] dem menschlichen Geiste vorgehen, wendete er auf die Natur, Rechtswissenschaft, Kunst, Staatsbildung, Religionsentwicklung und die Geschichte überhaupt an. Aber den Verlauf der Geschichte legte sich Hegel mit Klügelei und Willkür zurecht und ging dabei noch weiter als Fichte, man weiß nicht, ob von der ehrlichen oder erheuchelten Voraussetzung aus, daß das Christentum die Blüte aller Religionen, und Deutschland, besonders Preußen, das Muster aller Staaten sei und den Abschluß der Weltgeschichte bilde. Das freie und glückliche England stände weit, weit hinter Deutschland zurück. Die Weltgeschichte sei die Entwicklung des Begriffes der Freiheit; aber die Freiheit verlange, daß sich alle Individuen dem Staatswillen, d.h. dem Machtgebot der Fürsten und ihrer Kreaturen, unterwürfen. Über das Judentum und die großen Züge seiner Geschichte hatte Hegel einige abgerissene Gedanken aufgestellt, die meistens sehr albern klingen. Die jüdische Geschichte behandelte er wunderlicherweise nur als Anhängsel zu Persien. Dem Judentum sei zwar das Bewußtsein vom »Geiste« aufgegangen, welcher der Natur gegenüberstehe; aber dieser Geist sei auch als geistlos gesetzt. Die Gedanken von Sittlichkeit und Recht seien zwar zuerst im Judentum aufgeblüht; aber der einzelne Mensch, das Subjekt, habe im Judentum (das doch zuerst die Gottebenbildlichkeit des Menschen betont hat!) keine Freiheit für sich, komme nie zum Bewußtsein seiner Selbständigkeit. Daher finde sich bei dem Juden nicht der Glaube an Unsterblichkeit der Seele. Nur die Familie habe da große Bedeutung, aber der Staat bleibe der Gesetzgebung fern29. »Der Tempel Zions ist zerstört, das Gott dienende Volk ist zerstäubt und auf den Standpunkt des Schmerzes der menschlichen Natur in ihr selbst zurückgeworfen.« Die jüdische Empfindung bildet das Verneinte in sich selbst, weshalb sie wesentlich in sich den unendlichen Schmerz empfindet30. Es ist das alte Lied, daß das Judentum sich nach Versöhnung sehne und sie nicht finden könne. In dem Christentum habe sich diese Versöhnung vollzogen; hier sei die Gebrochenheit und Entzweiung von Natur und Geist geheilt: »Es erschien ein Mensch, der Gott ist, und Gott, der Mensch ist.« – »Diese Einheit darf nicht so aufgefaßt werden, als ob Gott nur Mensch und der Mensch ebenso Gott sei, sondern der Mensch ist nur insofern Gott, als er die Natürlichkeit und Endlichkeit seines Geistes aufhebt und sich zu Gott erhebt«31. Ein vernünftiger Knabe muß gegenwärtig über diese hohle [411] Weisheit, wie Hegel sich die Weltgeschichte zurecht legte, und mit welchem Ernst er Gedankenseifenblasen bildete, lächeln. Heine hat sie daher bei reiferem Bewußtsein weidlich belacht.

Das junge Israel, die Stifter des Kulturvereins, lauschte aber anfangs den Aussprüchen dieses philosophischen Seiltänzers, als wären sie Orakel, nicht bloß seine Schleppenträger Gans und Wohlwill, sondern auch der Buchhalter Moser, der kleine Markus, fast alle. Sie lallten ihm nach, das Judentum sei die Religion des Geistes, die den Geist aufgegeben, und das Christentum habe die ganze alte Geschichte verschlungen, um sie erneuert und veredelt aus sich zu setzen. Sie gewöhnten sich auch daran, wie ihr Meister, auf Stelzen zu gehen. Die einfachsten Gedanken gaben sie in verschnörkelten Formeln wieder, als wollten sie nicht verstanden werden. Woher sollte ihnen auch das Herz für das Judentum kommen? Eduard Gans sprach allerdings stets von dem »ungestillten Judenschmerz«, dachte aber dabei an sich, daß er in Preußen keine Anstellung finden könne. Was sollte das Ziel der Wissenschaft des Judentums sein, die der Kulturverein fördern wollte? Gans sprach es in so hohlen Phrasen in Hegelianischem Kauderwelsch so barock aus, daß man daraus erkennt, er selbst, der Fahnenträger, wußte nicht, wofür die Schar der ihm Folgenden eintreten sollte: »Die Juden können weder untergehen, noch kann sich das Judentum auflösen. Aber in der großen Bewegung des Ganzen soll es untergegangen scheinen und dennoch fortleben, wie der Strom fortlebt in dem Ozean« ... Sie wollten die Scheidewand einreißen helfen, die den Juden vom Christen und die jüdische Welt von der europäischen getrennt hat. Sie wollten jeder schroffen Besonderheit ihre Richtung gegen das Allgemeine anweisen. Sie wollten, was Jahrtausende nebeneinander einherging, ohne sich zu berühren, versöhnt in einander verschmelzen ... »Keine Feuersäule gibt es jetzt mehr in Israel bei Nacht, aber Wolken in Menge am Tage. Zerstreuen wir diese Wolken ... Wir huldigen dem reinsten Gedanken, ohne die Mittel, ihn zu entehren. Auf denn! Alle, die die hundertfache Fessel und ihre Einschnitte nicht zu Gefesselten machen konnten, auf, die ihr Wissenschaft und Liebe zu den Seinen und Wohlwollen über alles setzt, auf! und schließt euch an diesen edlen Verein, und ich sehe in der festen Verbrüderung solcher Guten die messianische Zeit herangebrochen, von der die Propheten sprachen, und die nur des Geschlechts jederzeitige Verderbtheit zur Fabel gemacht!« Viel Qualm und kein Lichtfunke! Das junge Israel wußte nicht, was das Judentum, welches in die Weltgeschichte so tief eingegriffen und sie mit umgestaltet [412] hat, zu bedeuten hat. Seine prahlerische Weisheit war Verblendung.

Von der Verschwommenheit und Nebelhaftigkeit des Ziels legten die Hefte der »Zeitschrift« des Kulturvereins Zeugnis ab32. Die darin enthaltenen Artikel enthalten zumeist unverdauliches Hegelianisches Kauderwelsch oder Gelehrtenkram, der nur für einen sehr, sehr kleinen Kreis als Handlangerarbeit einigen Nutzen hat. Lesenswert ist allenfalls darin Gans' Abhandlung »Gesetzgebung über die Juden in Rom« und einige Grundrisse zur Geschichte des jüdischen Schrifttums (Literaturgeschichte)33. Heine, der kein Blatt vor den Mund nahm, erklärte es auch dem Leiter der Zeitschrift rund heraus: »Der größte Teil (der Zeitschrift) ist ungenießbar wegen der verwahrlosten Form.« »Wüßte ich zufällig nicht, was Ludwig Markus und Doktor Gans wollen, so würde ich gar nichts von ihnen verstehen ... Dringen Sie doch bei den Mitarbeitern auf Kultur des Stiles. Ohne diese kann die andere Kultur nicht gefördert werden«34. Und mit diesem Krimskrams wollte der Verein nicht bloß die Juden, sondern auch das Judentum veredeln und war ungehalten darüber, daß die ersteren von seinen Bestrebungen keine Kenntnis nahmen. Gans klagte in einem Rechenschaftsbericht, daß die Stifter nicht verstanden würden: »Und wenn ich auch zugeben will, daß der Gedanke des Vereins, eben weil er ein Gedanke ist, sich nicht dazu eignet, von der Menge begriffen zu werden, die nur das Gedankenlose faßt, so möchte ich abermals fragen: ›Haben die, so sich die Besseren und Tüchtigeren nennen, tätige Beweise ihres Verständnisses gegeben?‹« Wie Gans aber diesen so hoch angeschlagenen »Gedanken« des Vereins klarmachen wollte, verfiel er wieder in Nebelhaftigkeit. Die Aufgabe des Judentums sei, es zum Bewußtsein zu bringen, die jüdische Welt sich selbst vorstellig zu machen. Was er den Juden im allgemeinen zum Vorwurf machte, das war ganz besonders vom Kulturverein wahr: »Die Begeisterung für Religion, die Gediegenheit der alten Verhältnisse ist geschwunden, aber es ist keine neue Begeisterung hereingebrochen, es hat sich kein neues Verhältnis erbaut. Es ist bei jener verneinenden Aufklärung geblieben, die in der Verachtung und Schmähung des Vorgefundenen bestand, ohne daß man sich die Mühe gegeben hätte, jener leeren Abstraktion einen anderen Inhalt zu geben.«

[413] Dieses Wunder vermochte der Kulturverein am allerwenigsten zu vollbringen, weil er die dreifache Gottesstimme, welche zu ihm aus der jüdischen Geschichte, aus der jüdischen Lehre in ihrer Ursprünglichkeit und aus dem Diamantkern des jüdischen Volkes sprach, nicht vernahm. Er umarmte eine Wolke statt einer Göttin, und weil sie ihn unangenehm durchnäßte, statt ihn zu entzücken, wurde er mürrisch, bitter, zänkisch, beschwerte sich über alle Welt und erging sich in weltschmerzlichen Elegien. Zunächst goß Gans, sein Hauptträger, die Galle seines Unmuts über die Reichen in Israel aus, weil diese keine Teilnahme für seine weltbewegenden Träume gezeigt hatten. Gans berichtete in der Zeitschrift schwärmerisch von der Verfügung des Kaisers Alexander von Rußland, welche die Gemeindevorstände (Kahals) aufhob35 und dafür die gewissenhafte Verwaltung russischer Beamten einsetzte! Gans brach in Freude darüber aus und knüpfte daran hochtrabende Betrachtungen, die Rabbinen hätten im Mittelalter dasselbe starre Prinzip wie die Kirche vertreten, denen gegenüber die jüdischen Reichen, das Geld, den jüdischen Adel, gebildet und sich an die Spitze gestellt hätten. Weit verderblicher und erschlaffender als der seichteste und roheste Rabbinismus sei die Herrschaft des Geldes, weil jener nur unwissend mache, dieses aber niedrig, und es wäre zu wünschen, daß die Sinnigkeit, mit der hier ein geistreicher Fürst eine bisher wenig beachtete Quelle der Unbildung verstopfe, auch im deutschen Vaterlande Nachahmung und ein genaues Beachten der jüdischen Gemeindeverfassung nach sich zöge«36. Die hohe Tugend, welche die Juden ziert, und welche die jüdischen Reichen stets so opferwillig ausüben, die Barmherzigkeit, die aus der eigenen Mitte, bei beschränkten Mitteln, Armenhäuser, Siechenhäuser, Wohltätigkeitsanstalten aller Art geschaffen hat, verlachte Gans und seine Gesellschaft. »Die Mitleidigkeit ist die Tugend, zu deren Fahnen sie (die Reichen) geschworen haben, weil es eben die sinnlichste Tugend ist. Wo man sie angreift, ist es diese Tugend, die sich ins Mittel legen muß, und wenn man ihnen vorwirft, daß sie keine öffentlichen Schulen und keine Verdienste um geistige Bildung haben, so ist es das öffentliche Lazarett, welches die Verteidigung übernehmen soll«37. – Auch Zunz spöttelte in demselben Sinne. »Alles ist ein Brei von Beten, Mark Banco und Rachmones [414] (Mildtätigkeitssinn) nebst Brocken von Aufklärung und Chilluk (talmudischer Dialektik)«38.

In ihrem Unmute über das Fehlschlagen ihrer nebelhaften Pläne griffen die Träger des Kulturvereins sogar den Hamburger Tempelverein, ihren Verbündeten, an: »Dahin bin ich gekommen,« sprach sich derselbe Mitstifter unmutig aus, »an eine Judenreformation nimmermehr zu glauben; der Stein muß auf dieses Gespenst geworfen und dasselbe verscheucht werden. Die guten Juden, das sind Asiaten oder (ihrer unbewußt) die Christen ... Die Juden und das Judentum, das wir rekonstruieren wollten, ist zerrissen und die Beute der Barbaren, Narren, Geldwechsler, Idioten und Parnassim (Gemeindevorsteher)«39. – Moser machte ebenfalls seinem Zorne durch Geringschätzung des Reformvereins Luft: »Die Hamburger täuschen sich gewaltig, wenn sie ihren Tempelbestrebungen eine universelle Bedeutung beilegen; aber es ist eine Täuschung, die man ihnen lassen kann. Was brauchen sie zu wissen, daß sie selbst im Übergange sind?« ... »An einem ausgestopften Rabbi im zoologischen Museum wäre noch mehr Judentum zu studieren, als an den lebenden Tempelpredigern«40.

Der Verdruß der Gründer des Kulturvereins war groß. Die Teilnahme für ihn nahm eher ab, als zu. Die Zeitschrift in ihrer wunderlichen Turmbausprache fand keine Leser, Geldbeiträge fehlten, ja die eigenen Mitglieder wurden fahnenflüchtig und traten trotz des stillen Eides zum Christentum über (Daniel Lessmann, Kirschbaum und manche andere). Eduard Gans dachte selbst im Stillen daran, sich durch das Taufwasser auf das Katheder heben zu lassen. Die Zerfahrenheit unter den deutschen Juden, der wegwerfende Ton, mit dem die Söhne des Judentums über dasselbe sprachen, die vielen Beispiele von Judentaufen – so z.B. sind bis 1823 in Berlin 1236, die Hälfte der Gemeinde, und auswärts in Preußen 1382 vorgekommen41 – und der stockkirchliche Sinn des preußischen Hofes ließen in Berlin eine Gesellschaft »Zur Beförderung des Christentums unter den Juden« entstehen, welche die Hoffnung hegte, sämtliche Juden in die Kirche eintreten zu sehen. Rühs' Ermahnungen fanden eine [415] Stätte. Um diese Hoffnungen zu verwirklichen, legte die preußische Regierung den Juden allerlei Hindernisse in den Weg. Veredelung des Gottesdienstes, die sie Neuerung und Ketzerei nannte, durfte nicht vorgenommen werden – als wenn es ihr zukäme, über die Rechtgläubigkeit unter den Juden zu wachen. Anstellung begabter Juden zu Lehrfächern wurde streng abgewiesen. Vergebens hatte sich der Minister Hardenberg für Gans verwendet, ihn zum Katheder für die historische Rechtswissenschaft, worin er Meisterschaft bekundete, zu befördern. Gans faßte daher, während er noch im Kulturverein lange Reden hielt, die Möglichkeit ins Auge, sich taufen zu lassen42. Der auf diese Weise in Auflösung übergehende Verein starb zuletzt still, unbeweint und unbeachtet. Es war sehr klug von einem der Hauptträger geraten, eine geräuschvolle Auflösung desselben zu hintertreiben; es wäre als Eitelkeit ausgelegt worden und hätte an die Fabel des berstenden Frosches erinnert und einen lächerlichen Eindruck gemacht43. Der Fahnenträger und Hauptwühler des Vereins, Gans, der bemittelt genug war, seinem Gelübde treu bleiben zu können, vermehrte das Christentum um einen Zweifler und Ungläubigen mehr. Darum war Heine so entrüstet über ihn und konnte es ihm, obwohl selbst getauft, zwei Jahrzehnte später, noch über das Grab hinaus, nicht verzeihen: »Sein (Gans') Abfall war um so widerwärtiger, da er die Rolle eines Agitators gespielt und bestimmte Präsidialpflichten übernommen hatte. Es ist hergebrachte Pflicht, daß der Kapitän einer der letzten sei, der das Schiff verläßt, wenn dasselbe scheitert. Gans aber rettete sich selbst zuerst44

Moser, der zweite des Triumvirats des Kulturvereins, blieb zwar standhafter, aber er verzweifelte an der Möglichkeit der Rettung des Judentums und verkündete die Massentaufen der Juden. »Die Juden, die Juden!« rief er in tragischem Schmerze aus. »Es macht mich traurig, an sie zu denken. Es gibt keinen bittereren Kampf der Liebe und des Hasses in einer und derselben Sache, als diesen. Ich sehe aber die nahende Notwendigkeit, daß ihre Besseren als erklärte Apostel des Christentums das Werk werden vollbringen müssen ... [416] Der Verein hat es versucht, den harten Übergang in die Sphäre des freien Bewußtseins zu ziehen; aber er wurde nicht verstanden, noch viel weniger unterstützt ... Was wir in Wahrheit gewollt haben, wollen wir auch jetzt noch und könnten wir wollen, wenn wir alle getauft wären ... das Judentum hört notwendig da auf, wo das Volk anfängt, sein Bewußtsein von sich als Gottesvolk zu verlieren und zu vergessen«45. Er wußte nicht, daß die Verzweiflungsklage über die Erstorbenheit der Juden, die er an den Ufern der Spree erhob, an den Ufern des Euphrat schon einmal vor beinahe dreiundzwanzig Jahrhunderten fast mit denselben Worten ausgestoßen worden war: »Das Haus Israel spricht: ›Vertrocknet sind unsere Gebeine, aufgegeben ist unsere Hoffnung, wir sind dahin‹«46. Aber ein unsterbliches Volk stirbt eben nicht, wenn ihm auch kurzsichtige und verzweifelte Schwarzseher den Totenschein ausstellen. Der dritte im Triumvirate des Kulturvereins, Zunz, war der stärkste. Er harrte allein treu aus. Er zweifelte zwar auch, aber verzweifelte nicht an der Besserung. Er deutete an, womit die Heilung oder die Vollendung der Verjüngung beginnen müsse. »Was allein aus diesem Mabbul (Sintflut) unvergänglich auftaucht, das ist die Wissenschaft des Judentums; denn sie lebt, auch wenn jahrhundertelang sich kein Finger für sie regte. Ich gestehe, daß, nächst der Ergebung in das Gericht Gottes, die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft mein Trost und Halt ist. Auf mich selbst sollen jene Stürme und Erfahrungen keinen Einfluß haben, der mich mit mir selbst in Zwiespalt bringen könnte. Ich habe getan, was ich zu tun für meine Pflicht hielt. Weil ich gesehen, daß ich in der Wüste predigte, habe ich aufgehört, zu predigen, doch nicht um dem Inhalt meiner Worte treulos zu werden. Nichts bleibt den Mitgliedern, als, treu sich selber, in ihren beschränkten Kreisen zu wirken und Gott das Weitere zu überlassen«47.

Und wenn der Kulturverein, der so hochstrebend begann und so kläglich endete, auch nur dieses eine bewirkt hätte, die Liebe zur Wissenschaft des Judentums zu erwecken, so ist sein Träumen und Treiben doch nicht vergeblich gewesen. In der Geschichte geht kein Körnchen zugrunde. Freilich in dem von den Friedländer und Jacobson versandeten Berliner Boden konnte es nicht aufsprießen. Als wenn ein Fluch darauf lastete, konnte in dem Orte, wo Mendelssohn so zukunftsverheißend [417] begann, seit seinem Tode nichts für die Verjüngung des Judentums gedeihen. Eine Rabbinenbildungsstätte, welche der damalige Rabbi natsverweser von Berlin im Verein mit guten Kräften ins Leben rufen wollte, erblickte nicht einmal das Licht der Welt. Von einer andern Seite her, von der aus man es gar nicht erwartete, ging, wenn auch nicht das vollendete Heil aus, aber doch die Aussicht auf seinen Eintritt.


Fußnoten

1 Am 17. Juli 1810; vgl. o. S. 289.


2 Auerbach, Geschichte der israelitischen Gemeinde Halberstadt, S. 210 bis 221. d.d. Nissan 1809 und Schebat 1810.


3 תרגא ירבד, herausgegeben von Wolf Heidenheim, 1812.


4 S. oben S. 153.


5 Quellen über die Entstehung des Tempels bilden die Streitschriften: קדצ הגנ und הגנ רוא (herausgegeben von Libermann 1818), Gutachten für, und ירבד הלא תירבה, Gutachten gegen den Tempel 1819; L. S. Rießer, Sendschreiben an meine Religionsgenossen 1819; Bresselau (anonym) תירב םקנ תמקנ ברח 1819; S. Fränkel, Theol. Gutachten über das Gebetbuch ... des Tempelvereins 1842; Offenes Sendschreiben an Geiger über den Hamburger Tempelstreit, Zeitg. des Judentums, Jahrg. 1842, S. 236. Salomon, Geschichte des Tempels 1844 enthält nur bekannte Tatsachen.


6 Über die Meinung, welche selbst die Gesinnungsgenossen über Salomon Kley und andere Begründer des Tempels hatten, vgl. H. Heine, Briefe I, S. 103, 127. Wie diese Prediger und der Vorstand gegeneinander Anklagen schleuderten, zeigt Orient, Jahrg. 1845, S. 29 f. Salomons Biographie ist vortrefflich, jedoch ein wenig zu optimistisch dargestellt von Dr. Phöbus Philippson in seinen biographischen Skizzen III.– Eine besonnene Stimme eines für Reform eingenommenen Mannes über den Leipziger Tempel, den Ableger des Hamburger, ließ sich vernehmen in Geigers Zeitschrift II, S. 495.


7 Heines Briefe I, S. 266


8 D. Friedländer, Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen (Berlin 1819), S. 11 und S. 32. Note.


9 Über Libermann s.G. Wolf, J. N. Mannheimer, eine biographische Skizze, S. 10, daß er später zum Katholizismus übertrat. Der Polizeichef Sedlnitzky berichtete über ihn an die Hofkanzlei: »daß Libermann als Emissär der Reformpartei in Österreich reise und ein Journal ›Syonia‹ gründen wolle« (am 28 Juli 1819.) Ob er identisch ist mit dem Abbé Liberman, talmudiste distingué, welcher neben Drach und Ratisbonne, den Konvertiten, genannt wird? S. Archives Israélites, Jahrg. 1840, p. 213 Note. Daß Libermann ein Lotterer war, geht aus תירבה ירבד הלא Nr. 19 hervor.


10 Die von Libermann in הגנ רוא veröffentlichten Gut achten, die kurz vor der Eröffnung des Tempels erschienen sind, beantworten Anfragen, die angeblich von einem »Manne« vorgelegt worden waren. Man erkennt Jacobson in diesem Manne. Und doch sind sie entschieden zugunsten des Hamburger Tempels gesammelt. Es geht daraus hervor, daß Jacobson mit den Hamburgern unter einer Decke steckte.


11 [Als »Heuchler und Scheinheilige« werden (S. 15) vielmehr diejenigen bezeichnet, die »ihnen [den Rabbinatsverwesern] falsche Berichte zutragen von Handlungen, die da [im Tempel] vorgehen«. Man wird übrigens zu einem milderen Urteil über L. Rießer gelangen, wenn man Islers Mitteilungen (Gabr. Rießers ges. Schriften I, S. 2, 9, 22 und 30-61) berücksichtigt.]


12 Die Aufzählung seiner Verdienste und seiner Bescheidenheit, daß er zur Rabbinatsfunktion berufen worden sei und abgelehnt habe, S. 19 f. in hebräischen Phrasen, dokumentiert seine gekränkte Eitelkeit. Auch sein Stil in קידצ רכז zeugt von Koketterie und Geziertheit.


13 Drastisch ist z.B. folgender Passus in Bresselaus תמקונ ברח (S. 7) und zeugt zugleich von feinem Stile: ,הפסא םהל ושעיו... ינא 'הל רמאי הז הבר הערו לבה הז םג היל ןיחיתפ ןיוכו ,ברעהו םכשה דחא תיבב םישנא הרשע ,םירמח הרשע ףסא טיעממה ,םהיתורצחבו וגג לע שיא היתיליעב תחת רובעי רשא לכ ,ןאצו רקב ,תאטחל דחא םיזע ריעשו ואבי ריחמב ערל בוט ןיב רקבי אל שדוק היהי ירישעה ,טבשה ריעשו החנמה תולעב ותבשב תבש ידמו םכשה רקבב ומוקיו .שרד שורד תאטחה


14 [Vgl. die folgende Anm.]


15 Das Buch םינברה תנוכת erschien pseudonym als Anhang zu תמא תירב von קדציחא עדיבא ןב יתמא, angeblich Konstantinopel 1820, aber in Dessau gedruckt. Der erste Teil, drei Stücke: תירב םקנ ,לא תיב תירב, und םיחא תירב in Briefstil, ist von David Caro. Der zweite Teil הנוהכה תירב oder םינברה תנוכת hat Jehuda Mises zum Verfasser, was er selbst in einer spätern Schrift angibt. [Der einzige und alleinige Verfasser des ganzen Buches, einschließlich der Abt. םינברה תנוכת, ist vielmehr David Caro, wie dieser selbst im 1. Jahrg. d. Allg. Ztg. des Judentums, (1837) S. 370, Anm. 12 ausdrücklich öffentlich erklärt hat. Vgl. auch Dr. N. Lippmann, Leben und Wirken des am 25. Dez. 1839 in Posen verstorbenen jüdischen Literaten David Caro, S. 21 und die daselbst mitgeteilten Auszüge aus Briefen Jacobsons (vom Adar 577 = April 1817) und David Friedländer (vom 23. Oktober 1820).]


16 David Caro spielt in der genannten Polemik (S. 43) darauf an, daß der Übersetzer der antireformistischen Gutachten ein hebräischer Dichter und Grammatiker gewesen. S. Sachs teilt (in הנוי יפנכ, p. 42) mit, daß Schalom Kohen dahinter gesteckt habe. Er veröffentlichte ein von ihm verfaßtes, sehr gelungenes, in elegischem Tone gehaltenes hebräisches Gedicht (p. 37) gegen die Reform oder vielmehr für die hebräische Sprache. Es sind 13 Strophen, der Anfang lautet:


!יתב יתב יוה

,הלעמ הלעמ תילע הכ יכה

,םורכ םדא ינבל תלוז ךמא בושחל

,הלפנ ימא הלפנ רמאל

?םוק ףיסות אל הדי לאל ןיא


Der junge S. D. Luzzatto war bei der Nachricht von der Hamburger Reform tief bewegt, wie er im Alter erzählte, und dichtete ebenfalls eine Elegie gegen die Impietät der Tochter, welche die alte Mutter verspottete und die hebräische Sprache als veraltet verbannt wissen wollte.


17 Seine Biographie ist nirgends gegeben. Die Data verdanke ich der Gefälligkeit des Herrn J. L. Adler in Hamburg. J. Bernays' Ideenkreis ist teils aus mündlichen Gesprächen und Vorlesungen bekannt, teils aus dem »Bibelschen Orient«, dessen Vaterschaft er zwar in Abrede stellte, der aber doch seinen Geist getreu wiedergibt.


18 Bibelscher Orient II, S. 54 ff.


19 Der Titel lautet Der Bibelsche Orient. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften. Zwei Hefte, München 1821, 8.


20 Bibl. Or., I S. 25 f.


21 Bibl. Or. II, S. 4.


22 Bei Strodtmann, »Heinrich Heines Leben und Werke«, Bd. I, S. 266.


23 Heines Brief an Moser vom Aug. 1823. Briefe, Bd. I, S. 103.


24 Strodtmann das. I, S. 298.


25 Über Mannheimer und Wien s.G. Wolf, Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde Wien, 1861; J. N. Mannheimer, eine biographische Skizze, das. 1863 und andere Schriften.


26 Die ersten Quellen für die Entstehung und Tätigkeit des Kulturvereins hat Strodtmann in »Heines Leben und Werke« I, S. 245 f. aus wenig zugänglichen Schriften und Privatmitteilungen zusammengestellt.


27 Heine, Ges. Schr. XIV, S. 183 f.


28 Einleitung zu den Statuten des Kulturvereins, Januar 1822.


29 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 2. Aufl., S. 241.


30 Das. S. 392.


31 Das. S. 394, 399 f.


32 Die Zeitschrift erschien zuerst Juni 1823.


33 Zunz, Raschi und Grundlinien zu einer künftigen Statistik der Juden.


34 Heines Briefe I, S. 98.


35 Ukas vom 1. Januar 1822. Zeitschrift des Kulturvereins S. 533, Warschauer Zeitung vom 18. Febr. 1822, Nr. 28.


36 Zeitschrift, S. 539.


37 Dritter Bericht des Kulturvereins vom Jahre 1823, angeführt von Strodtmann I, S. 273.


38 Zunz in einem Briefe an Wohlwill vom Sommer 1824 bei Strodtmann a.a.O. I, S. 275.


39 Das. S. 274.


40 Das. S. 277, 283.


41 Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg S. 132, Note 2. Die Gesellschaft zur Beförderung der Bekehrung unter den Juden erhielt die königl. Bestätigung 9. Febr. 1822. [Vgl. hierzu Note 7.]


42 Heine sagte es bestimmt voraus, daß Gans sich taufen lassen würde, er muß also bei ihm die Neigung wahrgenommen haben. Briefe an Moser I, S. 231. »Ich sehe mit Spannung Gans' Rückkunft entgegen. Er wird als Christ im wäßrigen Sinne des Wortes von Paris zurückkehren. Ich fürchte, Zucker-Cohn wird sein ›Karl Sand‹.«


43 Bei Strodtmann a.a.O. S. 275.


44 Heine, Denkwort an L. Markus 1844, Ges. Schr. Bd. XIV, S. 192.


45 Strodtmann das. I, S. 283.


46 Ezekiel 37, 11.


47 Strodtmann das. S. 275.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. 419.
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