Eigentum und Erbrecht

[45] 18. Wie aller geistige, so vollzieht sich aller materielle Fortschritt des menschlichen Lebens innerhalb der sozialen Verbände, die Erfindung und Ausbildung der Werkzeuge und der Waffen, die Gewinnung und Nutzbarmachung des Feuers, die Zähmung und Züchtung der Haustiere, die Entwicklung von Kleidung und Schmuck, Wohnstätten und Hausrat, die Zubereitung der Nahrung, der Anbau von Kulturpflanzen. Mit diesen Errungenschaften tritt ein neues Element in die menschliche Entwicklung, das Eigentum. In seinen Ursprüngen ist es auch der Tierwelt nicht fremd: auch das Tier verteidigt seine [45] Nahrung oder seine Lagerstätte, sein Nest, seine Höhle gegen jeden Eindringling, ebenso Weibchen und Junge, und beansprucht es damit als einen wenigstens zeitweilig ihm allein zustehenden Besitz. Aber zu voller Ausbildung gelangt das Eigentum erst in der menschlichen Kultur: an Stelle der vorübergehenden ausschließlichen Benutzung tritt der Anspruch auf ein dauerndes Verfügungsrecht über ein Naturobjekt, das durch Besitzergreifung erworben oder durch eigene Arbeit geschaffen ist. Der soziale Verband erkennt diesen Anspruch an und schirmt ihn, er erhebt ihn zu gültigem Recht. Uralt ist nicht nur das Eigentum an leblosen Gegenständen und Vieh, sondern auch an Menschen, die Sklaverei. Sie entsteht teils durch Krieg und Raub, teils dadurch, daß schwache oder besitzlose Personen sich den Mächtigeren zu eigen geben, durch die Dienste, die sie ihnen leisten, sich Lebensunterhalt und Schutz gegen fremde Gewalt verschaffen. Weit jünger und erst mit der Entwicklung von Seßhaftigkeit, Rinderzucht und Cerealienbau entstanden ist dagegen das Sondereigentum des Einzelnen an Grund und Boden. Aus dem Eigentum erwächst der Eigentumstausch, der Kauf und Verkauf, und das führt weiter, wenn auch in noch so beschränktem Maße, zu einer Produktion für den Kauf: man vermehrt den Bestand an bestimmten Gütern über den eigenen Bedarf hinaus, um dafür andere einzutauschen, die man bedarf, aber nicht selbst erzeugen kann, die oft nur aus fremden Ländern durch wandernde Händler herbeigeführt werden. Zugleich aber steigert das Eigentum die natürliche Ungleichheit der Mitglieder des sozialen Verbands, die bereits durch die psychischen und physischen Eigenschaften jedes Individuums und seinen darauf beruhenden Einfluß gegeben ist. Denn der Besitz kann sich (auch wo er im wesentlichen durchaus homogen ist, wie bei einem Volk von Viehzüchtern) niemals überall gleichmäßig entwickeln, äußere Zufälligkeiten so gut wie die Geschicklichkeit des Besitzers vermehren die Unterschiede ständig; der Gegensatz von Reichen und Armen und der dadurch gesteigerte Unterschied in Einfluß und Macht des Einzelnen fehlt in keinem Stamm, auch [46] da nicht, wo das Recht ihn ignoriert und die volle rechtliche Gleichheit aller Genossen des Verbandes postuliert.

19. Wie der Einzelne erwirbt auch jeder Verband Eigentum, über das die Gesamtheit in ihrem Interesse verfügt. Das private Eigentumsrecht ist ein persönliches Recht seines Inhabers; aber es erlischt nicht mit diesem, sondern besteht weiter, da das Eigentum selbst einen neuen Herrn verlangt. So fällt es nach dem Tode seines bisherigen Trägers der engsten unter den Gruppen zu, innerhalb deren er stand. Wie diese darüber verfügt, hängt von ihrer Organisation ab, deren mannigfach verschiedene Gestaltung wir früher kennen gelernt haben (§ 9ff.). Wo die Abstammung von der Mutter allein den Geschlechtszusammenhang bestimmt und Kinder eines Mannes daher rechtlich nicht vorhanden sind, fällt seine Hinterlassenschaft den Kindern seiner Schwestern oder seinen Brüdern oder mütterlichen Oheimen zu; wo die Brüder einen gemeinsamen Haushalt führen und in Polyandrie leben, tritt jetzt der jüngere Bruder als Hausherr an Stelle des älteren, und dann erst tritt die nächste Generation als Erbe ein; wo die patriarchalische Familie sich entwickelt hat, erben die Söhne (entweder zu gleichen Teilen, oder der älteste oder auch der jüngste hat ein Vorrecht oder selbst alleinigen Erbanspruch), wenn keine vorhanden sind, ist der nächste Verwandte (oder ein vom Häuptling bestimmter Blutsverwandter) verpflichtet, von der Erbtochter den Erben zu zeugen und so dem Erbgut einen neuen Herrn zu schaffen, damit nicht eine Verminderung der Zahl der im Verbande vorhandenen Besitzer eintrete. Durch das Erbrecht wird das Eigentum zu einem dauernden Faktor im Leben des Verbandes, das an tiefgreifender Wirkung vielleicht alle anderen überragt. Es steigert und verewigt die Gegensätze in der Lebensstellung der Individuen, indem es sie von Generation zu Generation fortpflanzt; es schafft den sozialen Unterschied der Stände, der nicht nur in der äußeren Lebenshaltung der Individuen, der Art, wie sie ihren Lebenserwerb gewinnen, sondern noch viel stärker in ihrer Denkweise und ihren Ansprüchen an die Gesamtheit zu Tage [47] tritt und sich in der Rechtsordnung dauernd fixiert; es scheidet auch die einzelnen Gruppenverbände innerhalb des Stammes, deren Ansehen und Einfluß sich abstuft je nach der Größe ihres Bestandes und dem Besitz, der ihnen insgesamt oder als Eigentum ihrer Mitglieder angehört. Für den Einzelnen wirkt das Eigentum zunächst individualisierend; es tritt damit zu den in ihm beschlossenen Kräften ein mit seiner Persönlichkeit verknüpftes Machtmittel hinzu, von dem seine Leistungsfähigkeit und seine Geltung ganz wesentlich abhängen. Aber ebensosehr wird dadurch die Verkettung der Generationen vorwärts und rückwärts gesteigert, die bereits in seiner Einordnung in die Verbände, als deren Glied er geboren ist, enthalten ist (§ 9): das durch das Erbrecht aus einer Hand in die andere übergehende Eigentum ist das dauernde, er selbst nur der vorübergehende Besitzer und Nutznießer desselben. Von dieser Seite aus betrachtet hemmt gerade das Eigentum die Bedeutung seiner Individualität: ob er selbst oder sein Erbe Träger des Eigentumsrechts ist, ist dem Verbande an sich gleichgültig, das Wesentliche ist, daß der Besitzstand dauernd gewahrt wird. Daher beschränkt vielfach nicht nur die Sitte, sondern oft genug das Recht die freie Verfügung des zeitweiligen Besitzers über das Eigentum zu Gunsten der Familie oder des Geschlechts, ebenso wie es in den Erbgang entscheidend eingreift. Je größer der Besitz ist, je stärker seine entscheidende Einwirkung empfunden wird, desto größer ist das Interesse der Gesamtheit, ihn geschlossen für die zukünftigen Generationen zu erhalten – soweit nicht etwa entgegengesetzte Erwägungen dazu führen, durch das Recht einem übermäßigen und die anderen Genossen des Verbandes erdrückenden Anwachsen des Einzelbesitzes Schranken zu setzen. Zu voller Entwicklung gelangt diese Auffassung, daß nicht der gegenwärtige Besitzer, sondern die Familie, die er zeitweilig vertritt, der wahre Träger des Eigentumsrechts ist, wenn die Leistungen für den Verband, vor allem der Waffendienst, an einen bestimmten Besitz gebunden sind, gewöhnlich im Zusammenhang mit der Entwicklung des Grundbesitzes [48] und des Erbguts. Alsdann gelangen auch die Rechtsbestimmungen über die Erbtöchter zu voller, oft bis ins kleinste durchgeführter Ausbildung.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 45-49.
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