Philosophie und Wissenschaft

[161] 90. Aber in den fortgeschrittensten Gestaltungen der Kultur ist die Religion nicht mehr die Macht, welche alle Gebiete des geistigen Lebens allein beherrscht und zu einer Einheit zusammenfaßt. Neben ihr beginnt sich ein selbständiges Denken zu bilden, welches ihre Ansprüche nicht mehr anerkennt. Dieses wissenschaftliche Denken, die Philosophie, ist zum ersten Male in Griechenland in der ionischen Kultur des 6. Jahrhunderts entstanden, und hat sich rasch ausgebildet und für alle Zeiten seine Unabhängigkeit begründet, so oft auch die Religion versucht und zeit weilig erreicht hat, es ihren absoluten, über den Bedingungen menschlicher Erkenntnis stehenden Offenbarungen unterzuordnen und die Philosophie zur Magd der Theologie zu machen. Beide behandeln dieselben Probleme, sie können oft genug auch zu den gleichen oder sehr ähnlichen Ergebnissen gelangen; der Unterschied besteht darin, daß Philosophie und Wissenschaft prinzipiell – in der Praxis können oft genug andere Momente einwirken – lediglich die Denknotwendigkeiten des Verstandes anerkennen und mit ihnen die gegebenen Erscheinungen der physischen und sittlichen Welt zu begreifen suchen, während Religion und Theologie in diesen die Wirkung einer selbständigen Willensmacht sehen, die der Mensch aus eigener Kraft nicht erkennen kann, die ihm aber durch direkte oder in der Tradition überlieferte Offenbarung einen Teil ihres Wesens enthüllt. Im Grunde ist es der alte Gegensatz zwischen den spontan und willkürlich wirkenden, in den Formen des mythischen Denkens erfaßten Willenskräften und der Idee der Gesetzmäßigkeit, der in dem Gottesbegriff selbst enthalten ist, ein Gegensatz, der ursprünglich auf religiösem Gebiet ausgefochten wurde, während sich jetzt die Idee der Gesetzmäßigkeit von dem Gottesbegriff loslöst und ein eigenes Gebiet schafft, auf dem sie unbehindert von Autoritäten, die sie nicht anerkennen kann, sich durchzubilden vermag. Diese Idee [162] der Gesetzmäßigkeit, des notwendigen Zusammenhangs aller Erscheinungen und Vorgänge der sinnlichen und der intellektuellen Welt, fällt zusammen mit der Freiheit des menschlichen Geistes, seines Denkens und Forschens, während die religiöse Auffassung, indem sie hinter der Welt der Erscheinungen ein frei waltendes Willenprinzip annimmt, dadurch der freien Bewegung des Menschengeistes Schranken setzt und ihm eine höhere, außerweltliche, aber in dieser Welt seinem Denken die Richtung anweisende Macht überordnet.

91. Wie sich dieses selbständige Denken des Menschen ausgebildet, wie es aus und innerhalb der Einheit der philosophischen Weltanschauung die einzelnen Wissenschaften entwickelt, wie es den Kampf mit den entgegenstehenden religiösen und theologischen Tendenzen aufgenommen und in mannigfachen Schwankungen, bald siegreich, bald unterliegend durchgeführt hat, haben wir hier nicht mehr zu verfolgen: das gehört der Geschichte an. Nur das äußere Moment bedarf noch der Erwähnung, daß wie die Entwicklung der Wissenschaft von ihrer Entstehung an der der Religion parallel läuft, so auch ihre äußere Gestaltung gleichartige Züge aufweist. Auch hier sind bedeutende Individualitäten die Bahnbrecher und Führer; auch hier aber tritt ihre Lehre auf in der Form eines geschlossenen Systems, das von ihren Nachfolgern immer weiter ins einzelne ausgebaut und oft zu sinnlosen Formeln ausgesponnen wird; auch hier tritt an Stelle der individuellen Freiheit der geistigen Bewegung die orthodoxe Lehre, die Unterwerfung unter ihre Sätze fordert und sich mit der Autorität des Meisters deckt, so weit sie tatsächlich von seinen Gedanken abweichen und unter das Joch der Tradition sich beugen mag; und auch sie ist vertreten durch einen Stand, eine Gelehrtenzunft, in der oft genug die praktischen, materiellen Interessen nicht minder mächtig werden, als in der Priesterschaft. Auch hier erhebt sich dann aufs neue die Spontaneität des menschlichen Denkens und die Forderung der freien Forschung gegen die traditionelle, brüchig und sinnlos gewordene Lehre, um in erbittertem geistigem [163] Ringen sich durchzusetzen. Nur den gewaltigen Vorteil hat die Wissenschaft, daß sie ihrem Wesen nach mit den Mächten des Bestehenden und der äußeren Gewalt nicht verbunden sein kann; und wenn es ihren Vertretern ja einmal gelingt, diese für sich aufzurufen, so ist doch diese widersinnige Verbindung niemals von Dauer und Erfolg. Denn die Wissenschaft ist auf das Prinzip der Freiheit der geistigen Bewegung gegründet; wenn sie dieses aufgibt, spricht sie sich damit selbst das Urteil und bereitet sich den Untergang.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 161-164.
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