Technische Künste und Wissenschaften

[164] 92. Zu dem Bestande der Kultur, der sich durch Tradition von einer Generation zur anderen fortpflanzt und innerhalb derselben weiter ausgebildet wird, gehören auch die materiellen Güter, die der Mensch gewonnen hat, und die technischen Handgriffe und Fertigkeiten, mit denen er sie herstellt oder, bei Naturobjekten, sich nutzbar macht. So unentbehrlich sie den Generationen erscheinen, die sie besitzen und an sie gewöhnt sind, so wenig diese sich eine Kultur ohne ihren Besitz vorstellen können, so gering ist tatsächlich ihre Bedeutung für die Erfassung der wahrhaft bedeutsamen Momente des Kulturlebens und der treibenden Kräfte seiner Entwicklung. Nur insofern sie die Möglichkeiten des Handelns, der Betätigung des Menschen bestimmen und erweitern, kommen sie für dieses in Betracht. Selbst in der Kriegführung ist die Verschiedenheit der Waffen nicht das Entscheidende – wie oft hat ein rohes Volk mit primitiven Waffen ein hochkultiviertes, ihm in der militärischen Technik weitaus überlegenes besiegt und niedergeworfen, ganz abgesehen davon, daß die technischen Erfindungen, wie z.B. die Feuerwaffen, sich rasch überallhin verbreiten und damit den äußeren Unterschied aufheben –, sondern der Kulturzustand der kämpfenden Völker, der Geist, der in ihnen lebt und die technischen Mittel zu seinen Zwecken verwertet. Auch bei den großen technischen Entdeckungen der modernen[164] Naturwissenschaft, welche neuerschlossene Naturkräfte dem menschlichen Willen dienstbar machen, ist die Änderung der äußeren Formen des Lebens an sich geschichtlich von geringer Bedeutung – da gehen sie mit erstaunlicher Schnelligkeit in den traditionellen, als selbstverständlich hingenommenen Kulturbesitz über –, wohl aber die Umwandlung, die manche von ihnen in den Bedingungen des geschichtlichen Daseins und der Wechselwirkung der Kulturvölker, andere in unserer wissenschaftlichen Auffassung der Natur und ihrer Gesetze hervorrufen. Dafür aber ist das wesentliche, daß die allgemeine Kultur so weit fortgeschritten ist, um solche Entdeckungen verwerten und in sich aufnehmen zu können; in anderen Zeiten, wo Zufälle oder auch die wissenschaftliche Arbeit eines isolierten Forschers auf ähnliche Entdeckungen geführt haben, sind sie spurlos vorübergegangen und zu dem Inventar toten Wissens gelegt worden. Diese Einwirkung der technischen Fortschritte ist aber schon bei der Besprechung der staatlichen und religiösen Entwicklung berücksichtigt und wir brauchen hier nicht nochmals darauf zurückzukommen.

93. Von der technischen Entwicklung der älteren Zeiten kennen wir am genauesten den Hausrat, die Geräte, Waffen und Schmucksachen, die sich in Gräbern und Überresten alter Ansiedlungen in großen Massen erhalten haben. Der populären Auffassung gelten sie daher als das eigentliche Hauptobjekt der Anthropologie. In Wirklichkeit ist es nicht allzuviel, was wir für die allgemeine Entwicklung des Menschen aus ihnen lernen. Denn daß die ältesten Werkzeuge aus roh behauenen Steinen, Knochen und Holz bestanden, daß man dann allmählich gelernt hat, sie sorgfältig zu schleifen und zu glätten und die schwierigsten Gefäße und Waffen aus Stein herzustellen, daß daneben einerseits die Nachbildung der Steingeräte in Ton, anderseits der Schmuck und für denselben die Bearbeitung von kostbaren Steinen, Gold und Silber aufkommt, daß dann mit der Entdeckung des Kupfers und vollends mit der seiner Verstärkung durch einen Zusatz von Zinn (Bronze) eine neue Epoche beginnt, in der die Geräte und Waffen zunächst [165] in Metall nachgebildet werden und dann eine selbständige, reich entwickelte Metallkultur entsteht, bis schließlich, schon im vollen Licht der Geschichte, das Eisen an seine Stelle tritt – das alles sind Tatsachen, die durch Funde bestätigt zu sehen sehr willkommen ist, die aber an sich nicht viel Neues lehren, sondern sich in der Hauptsache schon durch Rückschlüsse aus den ältesten uns bekannten Kulturstadien der Einzelvölker hätten gewinnen lassen. Viel bedeutsamer ist die Entwicklung der Ornamentik (§ 96), weil sich in ihr ein Stück des geistigen Lebens erkennen läßt. Aber der Hauptwert der »prähistorischen« Funde liegt viel weniger auf dem Gebiet der Anthropologie, als vielmehr darin, daß durch die energische und stets weiter vordringende Arbeit bedeutender Forscher es gelungen ist, die einzelnen Fundgruppen mit geschichtlich bekannten Kulturen und zum Teil auch schon mit einzelnen, individuell greifbaren Völkern in Verbindung zu setzen und so für deren Entwicklung neue Aufschlüsse zu gewinnen; so ist die sogenannte Prähistorie mehr und mehr für die Geschichte erobert worden, für die sie unser Quellenmaterial wesentlich erweitert hat.

94. Der technischen Entwicklung analog ist die Entwicklung derjenigen Künste und Erkenntnisse, durch die der Mensch die Bedingungen des physischen und sittlichen Lebens zu formulieren, zu ordnen, und seinen Bedürfnissen dienstbar zu machen sucht, und aus denen dann die Wissenschaften erwachsen sind, die Rechen- und Meßkunst, die Medizin, die Himmelskunde, die Anfänge der Naturkunde, die Ethik, die Rechtslehre, die Theologie und Spekulation. In ihren Anfängen stehen sie alle unter den Einflüssen des mythischen Denkens und der Religion. Auch die Magie gehört zu ihnen und gilt genau so gut als eine ernsthafte Wissenschaft wie die Medizin, die Sternkunde und alle anderen. Es ist bekannt, wie stark diese alle ursprünglich von mythischen Ideen, vom Zauber- und Geisterwesen durchsetzt gewesen sind. Mit der Steigerung der Religion und der Entwicklung einer religiösen Systematik steigern sich auch diese Einflüsse, in denen [166] der erste Versuch, einen allgemeinen Zusammenhang der Weltanschauung zu schaffen, zum Ausdruck kommt. Sie herrschen nicht nur in den empirischen, physischen Wissenschaften, sondern ebensosehr in der Ethik, wo das Ritual, die Beobachtung von Vorzeichen, die peinliche Rücksicht auf die Götter, die Tagewählerei u.ä. eine große Rolle spielen; auch in das Recht dringen sie ein (§ 16). Erst ganz allmählich gelingt es dem erwachenden wissenschaftlichen Denken, diese Einflüsse zurückzudrängen; nur die fortgeschrittensten Kulturen vermögen sich völlig von ihnen zu befreien. – Wie auch auf diesen Gebieten und ebenso auf dem der technischen Künste die individuellen und die traditionellen Faktoren sich kreuzen und in fortwährender Wechselwirkung stehen, bedarf keiner weiteren Ausführung.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 164-167.
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