Die Chronologie

[233] 136. Alle Geschichtsschreibung ist Darstellung einer Folge von Begebenheiten; sie bedarf daher einer genauen und unzweideutigen Bestimmung ihres zeitlichen Verhältnisses zu [233] einander und zur Gegenwart, einer Ordnung durch die Chronologie. Alle Zeitrechnung geht aus von der durch die Umdrehung der Erde gegebenen Einteilung der unendlichen Zeit in stetig wiederkehrende Abschnitte. Der am tiefsten in das Leben eingreifende, durch die Erfahrung unmittelbar gegebene Abschnitt ist der Wechsel von Tag und Nacht; ihre Zusammenfassung zu der Einheit des bürgerlichen Tages bietet uns zugleich den Vorteil, daß, während (außer unter dem Äquator) die Länge von Tag und Nacht stetig wechselt, ihre Summe nahezu konstant ist. Eine zweite natürliche Einteilung der Zeit ist durch den Wechsel der Jahreszeiten gegeben. Daß dieser mit dem Stande der Sonne zusammenhängt, lehrt die Erfahrung, ebenso, daß er erkennbar ist an der regelmäßigen Verschiebung der Punkte am Horizont, hinter denen sie aufgeht und untergeht, und der Gestirne, die in der Dämmerung vor ihrem Aufgang und nach ihrem Untergang am Horizont sichtbar werden. Längere Beobachtung, wie sie bei Ackerbauvölkern durch die Notwendigkeit, den Zeitpunkt der Feldarbeiten vorherzuwissen, erfordert wird, ermöglicht, den Zeitraum von einem Jahrpunkt (der nördlichsten oder südlichsten Stellung, d.i. den Solstitien oder Wendepunkten, und dann auch der mittleren Stellung der Tag- und Nachtgleiche) bis zur Wiederkehr in dieselbe Stellung annähernd genau zu bestimmen: die Erkenntnis, daß das Sonnenjahr etwas länger ist als 365 Tage, ist von den einzelnen Kulturvölkern ziemlich früh gewonnen. Die genaue Bestimmung seiner Länge dagegen (gegenwärtig 365 Tage 5 Stunden 48 Minuten 46,43 Sekunden) hat sich erst durch sorgfältige wissenschaftliche Beobachtung vieler Jahrhunderte erreichen lassen; und was dabei besonders verhängnisvoll ist, sie ist durch die Länge des Tages eben nicht teilbar, sondern ergibt einen Überschuß (Bruch). Da nun der Tag die unabwendbar gegebene Einheit aller Zeitrechnung ist, läßt sich das Sonnenjahr in der Praxis immer nur annähernd verwerten, oder, was dasselbe besagt, wenn man nach Jahren rechnen will, muß man ein konventionelles Jahr erfinden, das sich [234] mit dem Sonnenjahr annähernd deckt. Das Ergebnis ist daher entweder, daß das bürgerliche Jahr, obwohl es mit dem Stande der Sonne und dem Wechsel der Jahreszeiten übereinstimmen und diesen erkennen lassen soll, tatsächlich nicht mit ihm übereinstimmt, sondern ein Wandeljahr wird – dies System ist am vollendetsten von den Aegyptern durchgeführt –, oder aber, daß man das bürgerliche Jahr von Zeit zu Zeit mit dem wahren Sonnenjahr durch Schaltungen ausgleichen muß, daß also das bürgerliche Jahr keine konstante Länge hat – so bei den meisten anderen Völkern und in unserem Kalender. Dieses System hat aber den weiteren schweren Nachteil, daß, so lange die astronomische Wissenschaft nicht eine genaue Bestimmung der wahren Länge des Sonnenjahres erreicht und zu allgemeiner praktischer Anerkennung gebracht hat, man auf ein empirisches Tasten angewiesen ist, das mit Notwendigkeit entweder zu einem unvollkommenen Schaltsystem führt, das seinen Zweck nicht erfüllen kann und daher schließlich doch nur ein Wandeljahr schafft – so z.B. die achtjährige Schaltperiode (Ennaëteris) und dann die verbesserte, von Meton begründete neunzehnjährige Schaltperiode, oder die vierjährige Tagesschaltung des julianischen Kalenders –, oder daß man bei einer rohen Empirie stehen bleibt, wie z.B. die Römer, und dadurch erst recht in volle Unsicherheit und Kalenderverwirrung gerät.


Das klassische Werk über die Chronologie ist L. IDELER, Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie, 1825, 2 Bde. In der technischen Chronologie der einzelnen Völker ist es natürlich durch die Fortschritte der Wissenschaft und die bedeutende Erweiterung des Materials vielfach überholt; aber die Grundlagen sind überall mit bewunderungswürdiger Klarheit und Akribie dargelegt, und auch im einzelnen bietet es durch sein gesundes Urteil noch immer einen zuverlässigen Wegweiser, dessen Angaben sich durch Einfügung der neugewonnenen Kenntnisse leicht ergänzen und berichtigen lassen. Durch das von GINZEL unter dem gleichen Titel (Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie, 1906, Bd. I) begonnene Werk wird es keineswegs ersetzt. – Zur Orientierung über die technischen Fragen ist WISLICENUS, Astronomische Chronologie, 1895, recht nützlich. Einzelne Hauptfragen habe ich in meiner aegyptischen Chronologie (Abh. Berl. [235] Ak. 1904) behandelt; über die Prinzipien der Rechnung nach Königsjahren u.a. vgl. Forschungen II 437ff. – Der Unterschied in der Länge der wahren Sonnentage, der durch den auf der »Zeitgleichung« beruhenden »mittleren Tag« ausgeglichen wird, kommt für die historische Chronologie kaum irgendwie in Betracht. – Im übrigen bemerke ich gleich hier, daß es ein angebliches Urjahr von 360 Tagen niemals gegeben hat; wo ein Jahr von 360 Tagen vorkommt, ist es lediglich eine zu bequemerer Rechnung eingeführte Rechnungseinheit, welche, unbekümmert um die wahre Länge der einzelnen Monate und des ganzen Jahres, das Jahr gleich 12 Monaten zu je 30 Tagen setzt. In diesem Sinne wird danach auch bei uns noch gerechnet, z.B. bei der Löhnung der Truppen. Analog ist es, wenn das römische Recht die Existenz des Schalttags prinzipiell ignoriert, und den dies sextus und bis sextus a.K. Mart. fiktiv als einen einzigen Tag behandelt. Aus dem gleichen Grunde sind mehrfach zehnmonatliche Jahre als Rechnungseinheit entstanden. – Für die Aegypter besteht das bürgerliche Jahr aus dem eigentlichen »Jahr« von 12 Monaten zu 30 Tagen = 360 Tagen plus den »daraufgesetzten« 5 Zusatztagen, die außerhalb der Monate und darum außerhalb des eigentlichen Jahres stehen.


137. Diese Schwierigkeiten sind nun bei allen Völkern noch weiter ganz wesentlich vermehrt worden durch die Erscheinungsformen des Mondes. Der Mondlauf mit seinen wechselnden Phasen faßt eine kleinere und daher leichter zu übersehende Gruppe von Tagen zu einer Einheit zusammen, und der Mond erscheint daher als ein natürlicher »Zeitmesser«. Zugleich aber erregt er die Aufmerksamkeit in so hohem Grade und gibt dem mythischen Denken so reichen Stoff, daß er ein wichtiges Objekt des Kultus und des Zauberwesens wird und daher tief in das Leben des Menschen eingreift. Man begleitet sein erstes Erscheinen, sein Anwachsen und die volle Erscheinung und sein Dahinsiechen mit Festen und Opfern (ebenso natürlich die Verfinsterungen von Sonne und Mond). So entsteht der Monat als eine von der Religion gegebene chronologische Einheit, die man von der ersten Erscheinung der Mondsichel am Abendhimmel, der νουηνία, Neumond, anrechnet – der sogenannte astronomische Neumond, d.h. der Moment der unsichtbaren Konjunktion von Sonne und Mond, hat für die praktische historische [236] Chronologie keine Bedeutung. Aber auch hier wiederholen sich alle die Übelstände, welche beim Sonnenjahre hervortreten. Denn die Länge des Mondmonats (29 Tage 12 Stunden 44 Minuten 2,98 Sekunden) ist gleichfalls durch die Einheit des Tages nicht teilbar, und auch hier ist man daher auf einen Ausgleich durch Schaltungen angewiesen. Konventionell rechnet man den Monat zu 30 Tagen; tatsächlich ist er bald 29 bald 30 Tage lang. Am besten zum Ziel führt hier die einfache Empirie, d.h. die Bestimmung des Anfangs des Monats nach der Beobachtung seines Wiedererscheinens am Abendhimmel, wie sie noch jetzt im Islam geübt wird; das hat aber den Nachteil, daß man dann nicht vorher weiß, ob der nächste Tag der letzte des alten oder der erste des neuen Monats sein wird. Jede Systematik dagegen führt, ehe die wissenschaftliche Astronomie ihre Vollendung erreicht hat, was immer erst nach vielhundertjähriger Beobachtung möglich war, notwendig zu Abweichungen von dem Naturphänomen und damit zur Konfusion – eventuell, wenn dann noch abergläubische Vorstellungen hinzukommen, wie bei den Römern der Glaube, daß die gerade Zahl Unheil bringe, und die Festsetzung des Monats abwechselnd auf 29 oder 31 Tage, zu innerlich absurden Systemen, die äußerst unbequem sind und doch jeden Zusammenhang mit den Erscheinungen verlieren, die in der Theorie ihre Grundlage bilden.

138. Dazu kommt nun weiter, daß der Mondlauf und der Sonnenlauf inkommensurabel sind, daß also ein voller Ausgleich zwischen einer Anzahl von Mondmonaten und einem auf den Wechsel der Jahreszeiten basierten Jahr niemals zu erreichen ist. Hier sind nur zwei Auswege möglich. Entweder man hält (aus religiösen Gründen, wie bei den Babyloniern, Israeliten, Griechen u.a., oder lediglich aus Konvention, wie bei den Römern) an dem Monat fest: dann ist die notwendige Folge eine ununterbrochene, sei es rein empirische, sei es durch ein System geregelte Schaltung, und daher ein Jahr, dessen Länge fortwährend zwischen 354 und [237] 384 Tagen hin und her schwankt, in dem weder der Anfangstermin noch die Lage der einzelnen Monate festliegt, sondern sich von jedem Jahr zum andern um 10 bis 19 Tage verschiebt. Ein solcher Kalender, wie z.B. der griechische (ebenso der babylonische und jüdische; bei uns ist er im Oster-und Pfingstfest erhalten), kann wohl, trotz seiner großen Unbequemlichkeiten, dem bürgerlichen Leben und der Staatsverwaltung zu Grunde gelegt werden, die sich dann damit abhelfen müssen, so gut es gehen mag. Gänzlich unbrauchbar ist er dagegen für alle Tätigkeiten, die an die von den Jahreszeiten gegebenen Bedingungen gebunden sind, wie Ackerbau, Schiffahrt, Kriegführung, und daher auch für die Geschichtsschreibung. Hier bedarf man notwendig fester Daten; und so entsteht ein »Bauernkalender«, der seine Zeitpunkte den Naturvorgängen und den astronomischen Erscheinungen entlehnt – eben der Kalender, den Thukydides seiner Geschichtserzählung zu Grunde gelegt hat. – Der andere Ausweg ist, daß man sich entschließt, den Monat für den Kalender und die Jahrform gänzlich aufzugeben (für die Festfeiern, die an den Mond anknüpfen, mag er natürlich daneben bestehen bleiben). Diesen Schritt haben, bereits im Jahre 4241 v. Chr., die Aegypter getan, und darin liegt ihre grundlegende, alle anderen Völker überragende Bedeutung für die Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders. Sie haben versucht, das wahre Sonnenjahr zu erreichen; aber indem sie es auf genau 365 Tage festsetzten, haben sie allerdings doch nur ein Wandeljahr geschaffen. Seine Verschiebung gegen den Stand der Jahreszeiten tritt freilich so langsam ein (erst in 1461 bürgerlichen Jahren durchläuft sein Anfangstag den ganzen Kreis des wahren Sonnenjahres), daß man sich der Gefahr, durch Schaltungen aufs neue in Kalenderverwirrung zu geraten, um dessenwillen nicht aussetzen wollte, sondern es Jahrtausende lang beibehalten hat. Eine Einteilung in kleinere Abschnitte erfordert das Jahr allerdings schon zur Tagesbezeichnung, da man unmöglich alle Tage von 1 bis 365 durchzählen kann; für diese Unterabteilungen (bei den [238] Aegyptern zu 30 Tagen, bei uns infolge der Einwirkung des altrömischen Kalenders von sehr unpraktischer ungleicher Länge) wird der Name Monat beibehalten, hat aber mit dem Monde und seinem Lauf nichts mehr zu tun. – Als Hilfsmittel zur Korrektur und Ergänzung der Sonnenbeobachtungen sind in der Chronologie auch andere Sterne verwendet worden, Planeten (so in Mexiko die Venus) wie Fixsterne. Für uns ist davon nur die theoretische Festlegung des Jahresanfangs auf den Frühaufgang (d.h. das erste Wiedererscheinen in der Morgendämmerung) des Sirius bei den Aegyptern von Bedeutung. Auf den absurden Gedanken, die Länge des Jahres lediglich nach dem Monde zu bestimmen, d.h. eine bestimmte Zahl (12) von wahren Monaten als Jahr zusammenzufassen, ohne jede Berücksichtigung des Sonnenlaufs, ist kein Volk verfallen; nur Mohammed hat, als er den Arabischen Kalender regulierte, infolge seiner Unwissenheit diesen Ausweg gegriffen und so die Ungeheuerlichkeit des islamischen reinen Mondjahrs von abwechselnd 354 und 355 Tagen geschaffen.


Weitere, zunächst an den Monat anknüpfende Unterabteilungen wie die Woche von 7, 8 oder 10 Tagen, die dann gleichfalls eine selbständige, von ihrer Grundlage losgelöste Entwicklung durchmachen, kommen für die antike Chronologie praktisch nicht weiter in Betracht. Ebensowenig ist es nötig, an dieser Stelle auf die verschiedene Festsetzung des Jahresanfangs, des Tagesanfangs u.ä. einzugehen.


139. Das Jahr, wie es auch im einzelnen gestaltet sein möge, bildet die große Einheit für alle Zeitrechnung. Um den Zeitabstand einzelner Ereignisse von einander bestimmen zu können – zunächst für die Bedürfnisse des praktischen Lebens, dann auch in der Geschichtsüberlieferung –, ist es daher erforderlich, die einzelnen Jahre bestimmt zu bezeichnen, ihnen wie den Menschen einen Eigennamen zu geben, der sie von allen anderen individuell unterscheidet. Die Lösung dieser Aufgabe ist allen Völkern ungeheuer schwer gefallen. Wie naiv man in primitiven Verhältnissen darüber denkt, tritt vielleicht nirgends deutlicher hervor als in [239] einer alten elischen Urkunde, dem Vertrag zwischen Eliern und Heraeern über eine Waffenbrüderschaft auf 100 Jahre. Hier heißt es einfach: »den Anfang soll das laufende Jahr machen« (ἄρχοι δέ κα τοΐ, IGA. 11), ohne jeglichen Zusatz, eine Bestimmung, die den Vertragschließenden selbst völlig klar war, mit der aber schon nach wenigen Jahren kein Mensch mehr etwas anfangen konnte. In den alten Kulturstaaten Aegypten und Babylonien ist man in der Tat dazu geschritten, jedem Jahre offiziell einen Eigennamen zu geben, nach einem Götterfest, Krieg u.ä., wo dann eventuell die folgenden Jahre eine Zeitlang von diesem aus weitergezählt werden (im 2., 3. Jahr nach dem betreffenden Ereignis), bis dann wieder ein neuer Jahrname verkündet wird. Ähnliches findet sich auch sonst; und auf denselben Ausweg sind die griechischen Chronographen (z.B. Eratosthenes) mit ihren Epochenjahren (z.B. Zug des Xerxes oder Übergang Alexanders nach Asien) gekommen, von denen aus sie dann weiterzählen. Allmählich ist in den meisten monarchischen Staaten des Orients (in Aegypten ziemlich früh, in Babylonien erst unter den Kossaeern) die Zählung nach Königsjahren aufgekommen, die sich in den modernen Kulturstaaten in den beiden konservativsten, England und der päpstlichen Kurie, bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Diese Datierung bietet für die Gegenwart feste Daten, hat aber die große Unbequemlichkeit, daß der Anfangstag ihrer Jahre, der Tag der Thronbesteigung, mit dem bürgerlichen Neujahr nicht zusammenfällt und unter jeder Regierung ein anderer ist. Will man daher einen längeren Zeitraum übersehen, so muß man die genaue Länge der einzelnen Regierungen in Jahren, Monaten und Tagen kennen und diese Zahlen zusammenaddieren. Das führt zu Schwierigkeiten und Verwirrung, die, zumal wenn Doppelregierungen, Usurpationen und Bürgerkriege eintreten, einen sehr hohen Grad erreichen kann. Wenigstens den Übelstand des schwankenden Anfangstages hat man in Babylonien dadurch beseitigt, daß man das erste Jahr eines Königs erst von dem nächsten bürgerlichen Neujahr nach seiner Thronbesteigung [240] an zählte, während man zeitweilig in Aegypten und gelegentlich auch sonst von diesem Neujahrstage an sein zweites Jahr rechnete, mithin zu seinem ersten Kalenderjahre die überschüssigen letzten Monate und Tage seines Vorgängers hinzuschlug. Nach demselben System verfahren in der Regel auch die Chronographen (z.B. Eusebius), ohne es indessen voll durchführen zu können. Es führt vor allem zu dem Übelstand, daß ein Herrscher, der nur wenige Monate innerhalb eines einzigen Kalenderjahres regiert hat, dann überhaupt ganz ausfällt; aber auch sonst sind bei derartiger Rechnung Irrtümer und Verwirrungen kaum vermeidlich. – Bei anderen Völkern, in Monarchien (so bei den Assyrern, Spartanern, Sabaeern) wie vor allem in Republiken, hat man die Jahre nach hohen, jährlich wechselnden »eponymen« Beamten benannt. Das gibt eine sehr sichere Bezeichnung, macht es aber nötig, lange Listen von an sich völlig gleichgültigen Namen aufzuzeichnen und bei jedem Versuch, ein früheres Ereignis zeitlich zu bestimmen, abzuzählen, sei es, daß man sie im Gedächtnis hat, sei es, daß man sie mühselig nachschlagen muß.

140. Auf den scheinbar so nahe liegenden Gedanken, die Jahre von irgend einem beliebigen, wenn auch durch äußere Anlässe bestimmten Vorfall aus fortlaufend in alle Zukunft weiter zu zählen, ist man überall erst sehr spät gekommen. Als König Seleukos I. im Jahre 281 ermordet wurde, hat man in seinem Reich nicht eine neue Zählung nach Jahren seines Sohnes begonnen (wohl einfach aus dem äußerlichen Grunde, daß dieser schon seit langem Mitregent seines Vaters gewesen war), sondern die Jahre des Seleukos weiter gezählt. So ist die erste Aera, die Seleukidenaera, entstanden, die mit dem Jahre 312/311 v. Chr. (je nach der Jahrform der Einzelgebiete, in der sie gebraucht wird) beginnt. Später sind ihr dann, namentlich in Republiken und in römischen Provinzen, vereinzelt auch in Monarchien, zahlreiche gleichartige Aeren, Zählungen von einem bestimmten Ereignis an, zur Seite getreten. Die sogenannte Olympiadenaera dagegen ist keine [241] wirkliche Aera und im praktischen Leben niemals im Gebrauch gewesen, sondern nur ein Notbehelf der Historiker, die, um die mühselige Jahrbezeichnung nach Archonten, Ephoren, Strategen u.ä. zu vermeiden, auf den allerdings sehr unbeholfenen Ausweg kamen, je vier solcher Jahre zu einer chronologischen Einheit zusammenzufassen und nach der Feier der olympischen Spiele zu bezeichnen. Noch weniger ist die Zählung nach Jahren der Stadt Rom eine wirkliche Aera; sie hat nicht einmal einen festen Ausgangspunkt, und wird von den Schriftstellern nur ganz gelegentlich zu rascher Orientierung als Ergänzung der korrekten Jahresbezeichnung nach Consuln verwandt. Es ist widersinnig, wenn moderne philologische Historiker sich noch immer einbilden, daß die Datierung nach diesen Pseudoaeren, die als Notbehelf bei chronologischen Untersuchungen manchmal nicht zu vermeiden ist, ihren Werken einen wissenschaftlichen Charakter wahre, während sie doch lediglich dazu dient, dem Benutzer das Verständnis unmöglich zu machen. Andere derartige in der Literatur entstandene Aeren sind z.B. die Rechnung nach Jahren Abrahams bei Eusebius oder die julianische Periode Scaligers, sodann die Aeren nach Jahren der Welt (mit verschiedenen Ausgangspunkten) und nach Christi Geburt, von denen die beiden letzteren dann schließlich auch im praktischen Leben zur Herrschaft gelangt sind. Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist dann der äußerst praktische Gedanke durchgedrungen, die christliche Aera mit Rückwärtszählung auch für die vorchristliche Zeit zu verwenden und so den Zeitabstand jedes Datums von der Gegenwart unmittelbar ins Bewußtsein zu führen. Der Ausgangspunkt ist dabei ein an sich völlig gleichgültiger Zeitmoment, bei Zugrundelegung unseres Kalenders die Mitternacht vom 31. Dezember 1 v. Chr. zum 1. Januar 1 n. Chr.; von diesem Zeitpunkt aus werden dann die Jahre vorwärts und rückwärts bezeichnet. Die Astronomen haben statt dessen, um der Bequemlichkeit der Rechnung willen, ein ganzes Jahr zum Ausgang genommen, das Jahr 1 v. Chr., das sie als Jahr 0 bezeichnen; [242] daher wird von ihnen z.B. das Jahr 323 v. Chr. durch – 322 bezeichnet.

141. Die Aufgabe der historischen Chronologie ist die Prüfung aller überlieferten Daten und ihre Reduktion auf einen bestimmte Kalender und eine bestimmten Aera, in der womöglich jedes Ereignis der Vergangenheit seinen Platz erhält. Als Kalender und Jahrform verwendet jeder Historiker, wenn nicht besondere Anlässe zur Abweichung vorliegen (wie sie bei den Griechen sowohl durch die große Zahl, wie durch die praktische Unbrauchbarkeit der lokalen Kalender gegeben waren), den ihm und seiner Zeit geläufigen. Bei uns aber herrschen in der Geschichte zwei verschiedene Kalender. Die Grundlage bildet der von Caesar im Jahre 46 v. Chr. im Anschluß an den aegyptischen eingeführte julianische Kalender mit einem Jahr von 365 1/4 Tagen, d.h. einem Schalttag in jedem vierten Jahr. Da dieses aber größer ist als das wahre Sonnenjahr, hat man bekanntlich seit dem 16. Jahrhundert den verbesserten gregorianischen Kalender eingeführt, der gegen den julianischen in vier Jahrhunderten um nahezu drei Tage (genauer in 128 Jahren nahezu einen Tag) zurückbleibt. Aus religiösen Gründen wurde zugleich das Verhältnis der Monate und des Neujahrstages zu den Jahreszeiten auf den Stand des Konzils von Nicaea, 325 n. Chr., zurückgeführt. Von diesem Zeitpunkt an liegen also die gregorianischen Daten den julianischen voran (z.B. der 1. März 1907 n. Chr. julianisch ist = 14. März 1907 gregorianisch), vorher dagegen bleiben sie umgekehrt hinter ihnen zurück (z.B. der 19. Juli 1321 v. Chr. julianisch ist = 7. Juli 1321 gregorianisch). Für die letzten Jahrhunderte wird fast immer nach gregorianischem Kalender gerechnet, für die ältere Zeit, und so für das gesamte Altertum, dagegen ausnahmslos julianisch, einmal weil die Umrechnung sich nicht lohnt, vor allem aber weil die Rechnung mit dem julianischen Jahre von Die Chronologie Tagen sehr viel bequemer ist als die mit dem gregorianischen Jahr; daher werden alle Daten, vor allem die astronomischen, zunächst [243] julianisch berechnet und dann eventuell in gregorianische umgerechnet. Man darf nie außer Acht lassen, daß infolgedessen alle in modernen Geschichtswerken für das Altertum gegebenen Kalenderdaten einen Stand der Jahreszeiten voraussetzen, der von dem uns geläufigen mehr oder minder abweicht. Für die am genauesten bekannten Zeiten des Altertums ist diese Abweichung allerdings gering; doch beträgt sie für die Zeit des peloponnesischen Kriegs schon sechs, für die Hesiods schon acht Tage, und in den ältesten Zeiten der aegyptischen Geschichte wächst sie allmählich bis zum Betrage eines vollen Monats.

142. Die Untersuchung und Reduktion der einzelnen Daten und die Ausgleichung der Chronologien der verschiedenen Völker in einem einheitlichen System ist Aufgabe der Einzelforschung. In vielen Fällen reicht unser Material zu genaueren Bestimmungen nicht aus. Wir kennen vielleicht das relative Verhältnis der einzelnen Ereignisse einer Epoche hinlänglich, ja vermögen innerhalb derselben ihren Abstand oft ganz genau zu fixieren; aber ihre absolute Chronologie, d.h. ihr Verhältnis zu anderen Epochen und zu unserer Aera ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln. Vielfach müssen wir uns daher, namentlich in der älteren Zeit, mit aproximativen Abschätzungen begnügen, die manchmal einen Spielraum von Jahrhunderten lassen können. Doch ist es gerade in den letzten Jahren gelungen, sowohl in der aegyptischen wie in der babylonischen Chronologie diese Unsicherheit ganz wesentlich zu vermindern. – Ein unschätzbares Hilfsmittel besitzen wir, wenn die Überlieferung ein Ereignis oder Datum mit einem astronomischen Vorgang in Verbindung setzt, der sich mit völliger Exaktheit berechnen läßt. Derartige Nachrichten, vor allem Angaben über Finsternisse, ferner die aegyptischen Angaben über den Aufgang des Sirius, geben uns absolute Daten, die ganz unabhängig von aller Geschichte durch die Astronomie festgelegt sind, und von denen aus wir die übrigen, relativen Daten kontrollieren und dem feststehenden Gerippe sicherer Daten einordnen können.


[244] Die Haupthilfsmittel für die astronomischen Daten des Altertums sind: J. ZECH, Astronomische Untersuchungen über die wichtigeren Finsternisse, welche von den Schriftstellern des klassischen Altertums erwähnt werden, in den Preisschriften der Jablonowskischen Gesellschaft 1853 (derselbe ebenda 1851 über die Mondfinsternisse des Almagest) und vor allem F. K. GINZEL, Spezieller Kanon der Sonnen- und Mondfinsternisse für den Zeitraum von 900 v. Chr. bis 600 n. Chr., 1899.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 233-245.
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