Die Thessaler

[263] Das Vordringen der Gebirgsstämme gegen die Kulturgebiete hat auch in der nördlichsten griechischen Landschaft eine Umwälzung herbeigeführt. Aus den epirotischen Bergen brachen die Thessaler in das Peneostal ein und gewannen die Herrschaft über das ganze nach ihnen Thessalien benannte Kesselland. Die Sagengeschichte läßt sie von hier die Böoter vertreiben, die nach Süden in das Kadmeerland wandern, und muß infolgedessen den Einbruch der Thessaler in sehr frühe Zeit setzen. Das Epos, in dem die Landschaft eine so große Rolle spielt, erwähnt den Namen des Volkes nie, die Verhältnisse Thessaliens sind beim Beginn der historischen Zeit offenbar noch im Fluß, das Vordringen der Thessaler ist noch nicht zum Abschluß gelangt. Die Hauptmasse hat sich in der oberen thessalischen Ebene niedergelassen, dem Gebiet der zahlreichen Zuflüsse des Peneos; das ist die Landschaft Thessaliotis mit den Orten Pharsalos, Kierion, Pelinnaion. Sodann wurde das pelasgische Argos, die fruchtbare Ebene des unteren Peneos, und das Dotische Gefilde am Fuß des Pelion unterworfen. Die Städte Krannon, Larisa, Gyrton, Pherä, Pagasä werden zu Sitzen des thessalischen Adels und Zwingburgen der Untertanen, die einheimische Bevölkerung wird leibeigen (Penesten) und hat wie auf Kreta und im Peloponnes ihrem Herrn vom Ertrage des Bodens eine feste Abgabe zu entrichten429.

In den weiten Ebenen Thessaliens hat sich der thessalische Gebirgsstamm, der anders als die Dorier die Sprache der unterworfenen [264] Bevölkerung annahm, zu einem Reiter- und Rittervolk entwickelt430. An seiner Spitze stehen große Adelsgeschlechter, die im Besitze weiter Ländereien und zahlreicher Penesten sind und vor allem in den Städten der Pelasgiotis ihren Sitz haben, die Aleuaden in Larisa431, die Skopaden in Krannon und, wie es scheint, auch in Pharsalos432. Aus ihnen geht der mit königlicher Gewalt ausgestattete Heerführer (ταγός, bei Herodot V 63 und Thuk. I 111 βασιλεύς) hervor, den die Thessaler erwählen, wenn Krieg ausbricht oder sonst die politischen Verhältnisse oder das Geschick und der Einfluß eines Einzelnen eine vorübergehende Einigung des gesamten Volkes herbeiführen. Sonst fallen die einzelnen Distrikte und Gemeinden auseinander, nur notdürftig wird durch eine in besonderen Fällen berufene gemeinsame Tagsatzung (vgl. Thuk. IV 78) die Einheit gewahrt. Die Aleuaden führen ihren Stammbaum auf Herakles zurück, doch wohl nur, weil sie ihren Ahnen Aleuas als Nachkommen des Thessalos betrachten und dieser den Dichtern als Stammvater der Herakliden von Kos gilt. Der Eponymos Aleuas »der Rotkopf«, den man sehr mit Unrecht für eine geschichtliche Persönlichkeit hält433, gilt als der Organisator des Landes und der Satzungen des Thessalischen Bundes, namentlich auch der Festsetzung der Kontingente von 40 Reitern und 80 Schildkämpfern (Peltasten), die jede Gemeinde zu stellen hatte434.

Von der Ebene aus sind die Thessaler gegen die sie rings umgebenden Gebirgsstämme, die Perrhäber im Norden, die Magneten im Osten, die phthiotischen Achäer im Süden vorgedrungen. Zu der Zeit, da der pyläische Amphiktionenbund geschlossen wurde, standen diese Stämme noch selbständig neben den Thessalern. [265] Später sind sie zu Periöken geworden, die zwar ihre kommunale Selbständigkeit bewahren, aber den Thessalern Heeresfolge leisten und Tribut zahlen. Freilich ist dies Verhältnis immer ein unsicheres geblieben. Vielfach haben sich die Achäer, Perrhäber, Magneten gegen die Thessaler empört und auch die Penesten zu Aufständen mit fortgerissen435. Andrerseits scheinen auch die Doloper, Änianen und Malier zeitweilig in Abhängigkeit von den Thessalern gewesen zu sein. An weiterem Vordringen nach Süden hinderten diese die Phoker, welche ihnen manche Schlappe beibrachten und Mittelgriechenland durch eine Mauer, die den Thermopylenpaß sperrte, deckten. Die Feindschaft zwischen Phokern und Thessalern pflanzt sich durch die ganze griechische Geschichte fort436. – Im Gebiet der Achäer und Perrhäber scheinen sich die Thessaler zum Teil angesiedelt zu haben. Der Thessalische Bund zerfällt daher in vier Distrikte (Tetrarchien), Thessaliotis und Pelasgiotis im Zentrum, die Hauptsitze des herrschenden Stammes, Hestiäotis im Nordosten und Phthiotis im Süden, an deren Spitze im 4. Jahrhundert Polemarchen stehen437. Die übrigen »Bundesgenossen«, wie auch hier der offizielle Ausdruck lautet, d.h. vor allem die Magneten und Perrhäber, sind dagegen nur dem Gesamtvolk, nicht einzelnen Gemeinden oder Dynasten untertan, und so gelangt die Suprematie der Thessaler nur dann zu voller Durchführung, [266] wenn ein Herzog ernannt und die Kraft des Volkes geeint ist (Xen. Hell. VI 1, 9. 19). Auch die Tetrarchieneinteilung führt Aristoteles (fr. 497 R.) auf Aleuas zurück, während Charax sie dem Thessalos zuschreibt (Steph. Byz. Δώριον) und Xenophon berichtet, bei der Erhebung des Iason zur Herzogswürde sei den Periöken derselbe Tribut auferlegt worden, der zur Zeit des Skopas festgesetzt war (Hell. VI 1, 19). Es ist sehr wahrscheinlich, daß unter diesem Skopas der alte Eponym des Geschlechts, nicht der geschichtliche Herrscher von Krannon aus dem 5. Jahrhundert zu verstehen ist438.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 263-267.
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