Die Religionen im Perserreich

[157] Die nachhaltigsten Wirkungen des Perserreichs, die unmittelbar noch in unsere Gegenwart hineinragen, liegen auf religiösem Gebiet258. Eine tiefgreifende Umbildung der Religionen hat unter seiner Herrschaft begonnen. Daß die Könige die Religionen der Untertanen mit weitherzigem Entgegenkommen behandelten und zur Stütze ihrer Politik zu erheben versuchten, hat diese Entwicklung gefördert; aber folgenschwerer noch war die Tatsache der Existenz des weltumfassenden Achämenidenreichs an sich selbst.

In alter Zeit war die Religion der lebendigste Ausdruck des politischen Gemeinwesens. Durch die Götter lebte der Staat, behauptete sich im Kampf mit anderen Mächten, nahm zu an Macht und Wohlstand. Das war anders geworden, seit die nationalen Staaten der Reihe nach zum mindesten ihrer politischen Selbständigkeit beraubt, meist aber vernichtet waren, seit die Bevölkerung aller Kulturlande Vorderasiens sich hatte gewöhnen müssen, daß Fremde über ihr Geschick entschieden. Gelegentlich hat diese Erfahrung dazu geführt, daß man sich von der heimischen Gottheit abwandte, die sich so schwach und kraftlos er wiesen hatte, daß ihr Kult keinen Nutzen mehr bringen konnte. Aber so weit wir sehen können, sind es immer nur einzelne, die diese Konsequenz gezogen haben; in der Masse war der Glaube an die Realität der heimischen Gottheiten zu tief gewurzelt, als daß sie sich von ihnen hätte losreißen können. Der Ausweg, daß der Gott zürnte oder daß er der Sache der Gegner zum Siege verholfen hatte, weil sie die bessere war, stand immer offen; Kyros ist in Babylonien der von Marduk auserwählte echte König, Nabonid der abtrünnige [157] und verworfene. Den israelitischen Propheten ist der Sieg der Assyrer und der Chaldäer über ihr Volk das Werk des eigenen Nationalgottes, der es züchtigen, ja vernichten will, weil es sein wahres Wesen verkennt, der seine Macht nur um so glänzender erweist, indem er die Weltherrschaft eines Volks aufrichtet, das von ihm nichts weiß und wähnt, auch über ihn gesiegt zu haben. Andere mochten sich mit dem Gedanken trösten, durch den das Delphische Orakel sein Verhalten gegen Krösos zu rechtfertigen suchte: über dem Gott stehe eine noch stärkere Macht, der er sich fügen müsse, sei es ein unpersönlich gestaltetes unerbittliches Schicksal, der »Zwang« der Orphiker, sei es die Entscheidung eines höchsten Weltregenten. – Immer aber ist eine Umwandlung des alten Gottesbegriffs die notwendige Folge. Schon waren durch die theologische Weiterbildung des naiven Gottesglaubens überall die Volksgötter zugleich kosmische Mächte geworden, deren schaffende, belebende, erhaltende Tätigkeit Himmel und Erde umfaßt. Jetzt fällt mit der Vernichtung des nationalen Staats und dem Aufhören des staatlichen Lebens die politische Seite der Gottheit weg, und der allgemeine Begriff bleibt allein übrig. Die Sitten gleichen sich aus, die Völker mischen sich teils friedlich im Handelsverkehr, teils durch die Zwangsmaßregeln der Herrscher; vielfach verschwindet selbst die heimische Sprache vor den großen Kultursprachen. So zieht sich das Volkstum immer mehr auf die Religion zurück, d.h. auf die Verehrung der in der Heimat seßhaften Gottheiten und die peinliche Beobachtung ihrer Bräuche. Aber eben dadurch wird die einzelne Religion befähigt, über die alten nationalen Grenzen hinauszugreifen: die Verehrer einer jeden Gottheit sind nicht mehr die in ihren Dienst hineingeborenen Volksgenossen, die nur durch sie existieren, sondern es sind die, welche sich zu ihr bekennen und an ihr festhalten, seien sie Volksgenossen oder nicht. Dadurch wird die Religion zugleich individuell und universell. Nicht mehr das Gedeihen der politischen Gemeinde erwartet man von ihr, sondern ein jeder sein persönliches Gedeihen, seinen individuellen Vorteil. Darum kann der Fremde so gut zu ihr flehen, wie wer das Verhältnis zu ihr von seinen Vorfahren ererbt hat. So wird die Gottheit eine unabhängige, auf sich selbst ruhende [158] Macht, die aus der Kultusstätte wirkt und aller Welt Gnade und Segen bietet. Als solche betrachtet sie die Reichsregierung. Allen größeren Heiligtümern hat sie Privilegien und Schenkungen gewährt, an ihnen allen wird für das Wohlergehen des Königs geopfert und gebetet. Zunächst geschieht das, weil das Heiligtum bei den Untertanen in hohem Ansehen steht und man dadurch auf sie wirken will; sodann aber auch, weil man diese Gottheiten wirklich für mächtige Wesen hält, mit denen gut zu stehen nur von Vorteil sein kann.

So werden Universalismus und Individualismus die charakteristischen Züge aller Religionen und aller Kulte. Jeder Kultus beansprucht der höchste, womöglich der einzig berechtigte, jede Gottheit eine große kosmische Macht zu sein, und sie alle wenden sich nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich an eine Volksgemeinschaft, sondern in erster Linie an jeden Einzelnen, ihm versprechen sie jeglichen Gewinn auf Erden wie im Jenseits, sicherer als irgendein anderer Gott. Nicht mit einem Schlage ist die Umwandlung fertig geworden: aber sie beginnt in der Perserzeit. Die große Konkurrenz der Religionen bereitet sich vor, welche die späteren Jahrhunderte des Altertums erfüllt. Jetzt ist es auch möglich geworden, eine Gottheit fern von ihrem Wohnsitz zu verehren, losgelöst von dem Heimatsboden und dem eigenen Volke: das Band, welches Gott und Verehrer verbindet, ist nicht mehr national und politisch, sondern persönlich und daher unzerreißbar. Sklaven, Kaufleute, Handwerker, die ihrer Heimat dauernd entfremdet werden, nehmen ihre Gottheit mit sich, gründen ihr Heiligtümer, gewinnen ihr in der Fremde Anhänger, so gut wie der Fremde, der an eine Kultusstätte kommt, der Gottheit seine Verehrung zollt und dauernd für ihren Dienst gewonnen werden kann. Daher beginnen alle Kulte eifrig Propaganda zu machen, sei es, daß sie sich bemühen, den Kreis der Verehrer des Heiligtums zu erweitern, sein Ansehen und seinen Einfluß zu steigern weit über die Nachbargebiete hinaus, sei es, daß sie die Ideen und Riten ihrer Religion zu maßgebender Bedeutung zu erheben suchen. So verbreiten die babylonischen und die ägyptischen Priester ihre Weisheit überallhin; die Priester der Göttermutter von Pessinus [159] und ähnlicher kleinasiatischer und syrischer Kulte werben aus aller Welt einen Kreis fanatischer Anhänger, die bereit sind, sich im Dienst der Gottheit zu kastrieren und als Bettelmönche die Welt zu durchziehen. Alle diese Dienste bekämpfen die Kulte der übrigen Götter nicht geradezu, sie stellen sie nur als minderwertig hin oder verlangen zum mindesten neben ihnen einen anerkannten Platz. Es gibt aber auch Religionen, welche die Berechtigung fremder Dienste überhaupt nicht anerkennen, wie der Parsismus, oder sie gar als schwersten Frevel an dem eigenen Gott verdammen, wie das Judentum. Diese suchen dann um so eifriger Anhänger unter den Fremden zu gewinnen, welche durch Annahme der Offenbarung sich aus dem Verderben erretten und zugleich für die Macht des allein wahren Gottes unter den Völkern zeugen und dadurch die Stellung seiner Verehrer in den Augen der Welt heben. Die Lehre Zarathustras, die Religion des herrschenden Volks, hat sich von ihrem Ursprung an an alle Menschen gewandt und daher niemals einen exklusiv nationalen Charakter gehabt; die Jahwereligion hat diesen durch die Schicksale, die das Volk trafen, zwar nicht verloren, aber umgeprägt, und von da an um so eifriger begonnen Proselyten zu werben.

Auch innerlich beginnen die Religionen sich einander anzugleichen. Wie in Ägypten die Lokalkulte der Gaue sich eigentlich nur noch im Namen und in allerlei Detail des Rituals unterscheiden, im Wesen aber einander gleich sind – alle Götter sind Sonnengötter, alle Göttinnen Himmelsgöttinnen geworden –, und sich trotzdem nur um so eifriger bekämpfen und Konkurrenz machen, so ist es jetzt allen Kulten des Orients gegangen. Geistig, politisch, sozial ist das Niveau, auf dem die Religionen erwachsen, immer gleichartiger geworden; und so bilden sich gleichartige religiöse Gemeinvorstellungen, die in den Einzelkulten und -religionen nur differenziert sind. Nirgends genügt mehr die alte Anschauung, daß die Gottheit, die man verehrt, eine lokale, in einem bestimmten irdischen Kreise wirkende Macht ist; überall wird sie als Erscheinungsform einer universellen kosmischen Macht gedacht, die zugleich die Erde beherrscht und die Geschicke der Menschen lenkt – wenn sie männlich ist, als Sonnen- oder Himmelsgott, wenn [160] weiblich, als Göttin der Zeugung und des Naturlebens. Daher kommt bei den Syrern und Phönikern der »Himmelsherr« Be'elšamîn zu immer größerem Ansehen, der »gute und belohnende Gott«, wie er später inschriftlich heißt, zugleich der höchste Donnerer; auch ohne Namen wird die Gottheit angerufen, so auf den palmyrenischen Altären in hellenistischer Zeit als »der, dessen Name gepriesen ist in Ewigkeit, der Gnädige und Barmherzige«259. Daneben dringt aus Babylonien Bêl, der »Lenker des Geschicks«, ein. Man empfindet, wie nahe sich die einzelnen Götter gekommen sind, wie jeder gewissermaßen nur eine Erscheinungsform der andern ist. Nicht als Jahwe bezeichnen die Juden den Fremden gegenüber ihren Gott, sondern als den »Himmelsgott von Jerusalem«; sie stellen ihn dadurch ihren persischen Herrn als dem Ahuramazda ebenbürtig vor. Wenn in einer um 460 geschriebenen jüdischen Mahnrede Jahwe sagt: »Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ist mein Name groß unter den Völkern, und überall bringt man meinem Namen reine Opfergaben«, so kann das kaum anders erklärt werden, als daß der überall verehrte Himmelsgott und Weltregent für identisch mit Jahwe gilt260. Die Erhebung des Hauptgottes hat zur Folge, daß er von Scharen von Dienern umgeben ist, die seinen Willen ausführen, seine Befehle auf die Erde hinabtragen und ihm von allem sichere Kunde bringen: der Himmelskönig und Weltenherr wird nach dem Bilde des irdischen Königs gedacht. Die Vorstellungen wandern und mischen sich, die babylonischen und ägyptischen Erzählungen von den Göttern und ihren Taten können sich an semitische, kleinasiatische und persische Gottheiten ansetzen; die nationalen Schranken, welche einem derartigen Austausch früher hemmend entgegenstanden, sind gefallen. Die chaldäische Anschauung von den Schicksalsmächten, die sich in den Planeten und Sternen offenbaren, der Glaube, daß alles eine bestimmte und berechenbare [161] »Zeit« hat, wird zum Gemeingut aller Völker. In der jüdischen Religion wurzelt der Hofstaat, der Jahwe umgibt, zwar in alten einheimischen Anschauungen, hat sich aber ausgestaltet nach babylonischem Muster; immer größer wird die Bedeutung, welche seine »Boten«, die Engel, erhalten, immer mehr glaubt die populäre Anschauung über sie zu wissen. Dem entspricht es, daß auch die entgegenstehenden Mächte ausgestaltet wer den, daß man von dem Kampf und dem Sieg über sie erzählt.

So steigert sich überall die Frömmigkeit oder zum wenigsten der Kultus. Daß Götterbilder und -namen auf den Münzen immer häufiger werden, ist dafür bezeichnend. Der Glaube wird allgemein, daß man, um sich die Gnade der Gottheit wirklich zu sichern, irgend etwas Besonderes tun müsse; die Bräuche der Reinigung und Sühnung, die Fernhaltung von allem Befleckenden, sowohl im ethischen wie vor allem im physischen Sinne, gewinnen immer größere Bedeutung. Daher erhalten, wo die Götter einander so wesensgleich geworden sind, die Unterschiede des Rituals, das früher naturwüchsige und untergeordnete Detail des Dienstes immer steigende Wichtigkeit – in ihm fast allein tritt ja der Unterschied dieser speziellen Gottheit vor jeder anderen hervor. So kommt es, daß alte, längst absurd gewordene Bräuche und Anschauungen, wie der Tierdienst bei den Ägyptern oder die Beschneidung und die Enthaltung von Schweinefleisch und ähnlichen Dingen bei den Juden und anderen Völkern, jetzt von ausschlaggebender Bedeutung werden und für die Masse fast allein den Inhalt ihrer Religion bilden, daß, je mehr sich die Religionen tatsächlich ausgleichen, desto exklusiver ihr Verhalten gegeneinander wird. Die Ägypter haben schon seit Jahrhunderten mit keinem Fremden zusammen gegessen und kein »unreines« Werkzeug berührt; jetzt fangen die Juden und andere Semiten an, es ebenso zu machen. Wer besonders fromm ist, sperrt sich von der Welt ab261 – solche »Eingesperrte« finden wir beim Tempel von Jerusalem (Nehem. 6, 10) und in der Ptolemäerzeit und gewiß schon früher bei den Apisgräbern von Memphis, und nur ein Schritt weiter ist es, wenn die Diener der Atargatis oder der großen Mutter [162] von Pessinus und von Ida sich entmannen. Auch besondere Kräfte kann man durch derartige Kasteiungen, namentlich aber durch die richtige Erkenntnis des Wesens der Gottheit, ihres Namens, ihrer geheimnisvollen Geschichte erlangen; der Versuch, das »Wissen« zu Zauberzwecken zu verwerten, wie er in Ägypten seit Jahrtausenden geübt wurde, wird ganz allgemein. Vor allem jedoch soll die Gottheit eine ruhige und selige Existenz im Jenseits gewähren. Auch hier wie in Griechenland führt die Individualisierung der Religion zur Entwicklung der Unsterblichkeitslehre. Schließlich beginnt dieselbe langsam in Religionen einzudringen, welchen früher derartige Vorstellungen ganz fern gelegen haben, zuletzt, doch erst in nachpersischer Zeit, sogar ins Judentum. Damit verbindet sich eine zweite Vorstellung. Den vollen Segen, den man erhofft, gewährt die Gottheit in der Gegenwart ihren Verehrern nicht: denn dann müßten diese über alle Gegner triumphieren, alle Völker den Vorrang ihres Gottes anerkennen. Erst in Zukunft wird sich also die volle Macht der Gottheit offenbaren, gegenwärtig steht sie noch im Kampf. Der Prozeß der Weltbildung ist noch nicht zu Ende, der Idealzustand ist noch nicht erreicht, die Gegner sind noch nicht vernichtet. Es ist ganz natürlich, daß bei Völkern und Kulten, die in sehr gedrückter Lage sind, die eschatologischen Hoffnungen am lebendigsten ausgestaltet werden: von den Propheten Judas sind sie schon seit Jesaja entwickelt worden. Aber auch die Lehre Zarathustras faßt das Leben als einen Kampf der beiden großen Mächte, an dessen Ausgang der Sieg Ahuramazdas stehen wird. Man denkt sich den Kampf nach Art der großen Götterkämpfe bei der Weltschöpfung, die noch nicht zum vollen Abschluß gelangt sind; so wird die Eschatologie eine Wiederholung und Umbildung der Schöpfungsmythen. Gerade hier hat der babylonische Mythus den größten Einfluß geübt und ist die Grundlage einer Allgemeinvorstellung geworden, die in die verschiedensten Religionen Eingang gefunden hat.

Bei den meisten Religionen müssen wir den Prozeß, dessen Umrisse hier gezeichnet sind, aus dem Zustand erschließen, in dem sie uns nachher in der griechischen Zeit entgegentreten. Nur für die wichtigste und folgenschwerste all dieser Bildungen, das Judentum, [163] liegt uns reicheres Material vor, das uns ermöglicht, das Zusammenwirken der allgemeinen Tendenzen der Zeit mit der Eigenart der einzelnen Religion und der schaffenden und gestaltenden Tätigkeit der maßgebenden Persönlichkeiten genauer zu erkennen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 157-164.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon