Antrag für den Angeklagten Heß auf Untersuchung seines Geisteszustandes und seiner Verhandlungsfähigkeit durch einen neutralen Sachverständigen

[171] An den

Generalsekretär des

Internationalen Militärgerichtshofes

Nürnberg


Für den Angeklagten Heß beantrage ich als dessen Verteidiger:


I

A. Einen medizinischen Sachverständigen als gerichtlichen Gutachter mit der eingehenden Untersuchung des Angeklagten Heß und mit der Erstattung eines erschöpfenden Gutachtens über

a) dessen Zurechnungsfähigkeit

b) dessen Verhandlungsfähigkeit

zu beauftragen und ihn zur Hauptverhandlung gerichtlich laden.

Der Gutachter soll dem Hohen Gerichtshof durch die Medizinische Fakultät der Universität Zürich oder, falls diese über einen geeigneten Sachverständigen nicht verfügen sollte, durch die Medizinische Fakultät der Universität Lausanne benannt werden.

B. Sollte der Hohe Gerichtshof einen Gutachter bereits bestellt haben, – den unter I A beantragten und benannten Sachverständigen zusammen mit diesem gerichtlichen Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen und zur Hauptverhandlung zu laden.

C. Sollte der Hohe Gerichtshof die Erstattung eines Gutachtens durch ein Sachverständigen-Kollegium inzwischen angeordnet haben, – dieses Gremium durch einen weiteren, außer den unter I A benannten Sachverständigen zu ergänzen, der gleichfalls durch die Medizinische Fakultät der Universitäten Zürich oder Lausanne zu benennen ist.


[171] II

Begründung


zu I: Über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten Heß und seine Verhandlungsfähigkeit bestehen bei dem unterzeichneten Verteidiger auf Grund des von dem Angeklagten bei den mehrfachen Unterhaltungen gezeigten Verhaltens und auf Grund der in der ausländischen und deutschen Presse früher und jetzt erfolgten Veröffentlichungen aus Anlaß des »Falles Heß« starke Bedenken.

Der Angeklagte ist nicht in der Lage, seinem Verteidiger irgendwelche Informationen hinsichtlich der ihm in der Anklage zur Last gelegten Verbrechen zu geben. Sein Gesichtsausdruck ist leblos und sein Verhalten im Hinblick auf das bevorstehende Verfahren und gegenüber seinem Verteidiger jeder natürlichen Einstellung eines sonstigen Angeklagten widersprechend.

Der Angeklagte gibt an, seit einer längeren, von ihm nicht mehr feststellbaren Zeit das Erinnerungsvermögen vollkommen verloren zu haben... Die von dem deutschen Propaganda-Ministerium gegebene parteiamtliche Erklärung vom 12. Mai 1941 spricht sogar von »einer seit Jahren fortschreitenden Krankheit« und von »Spuren geistiger Zerrüttung«.

... Diese Tatsachen sind für die Behauptung einer Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit erheblich, und für die Begründung des Beweisantrages zu I ausreichend.

Diese Tatsachen rechtfertigen gleichzeitig die Nachprüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten. Die Hinzuziehung mehrerer, von der Verteidigung beantragter Sachverständiger für den Fall, daß der Hohe Gerichtshof von sich aus ein Gremium von Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens schon beauftragt hat, dürfte gegenüber dem Angeklagten der Billigkeit entsprechen.


Unterschrift: VON ROHRSCHEIDT

Anwalt

Nürnberg, 7. November 1945.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 171-173.
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