Die Angriffsplanung.

[209] Das in erbeuteten Dokumenten enthaltene Beweismaterial hat gezeigt, daß Hitler vier geheime Konferenzen abgehalten hat, auf die sich der Gerichtshof im besonderen zu beziehen beabsichtigt, da sie auf die Frage des gemeinsamen Angriffsplanes ein besonderes Licht werfen.

Diese Besprechungen fanden am 5. November 1937, 23. Mai 1939, 22. August 1939 und 23. November 1939 statt.

Bei diesen Besprechungen gab Hitler bedeutsame Erklärungen über seine Ziele ab, die in ihrer Ausdrucksweise völlig unmißverständlich sind. Die Dokumente, die festhalten, was bei diesen Besprechungen geschah, wurden durch die Verteidigung einer gewissen Kritik unterzogen.

Dabei wird nicht geleugnet, daß sie im wesentlichen echt seien, aber es wird z.B. gesagt, daß sie nicht wörtliche Protokolle der aufgezeichneten Reden darstellen sollten, daß das Dokument, das die Besprechung am 5. November 1937 behandelt, ein um fünf Tage späteres Datum trägt und daß die beiden Dokumente, die die Besprechung am 22. August 1939 behandeln, voneinander abweichen und keine Unterschrift tragen.

Bei vollster Würdigung dieser Kritik ist der Gerichtshof doch der Ansicht, daß diesen Dokumenten der allergrößte Wert zukommt, daß ihre Echtheit und in den Grundzügen auch die wahrheitsgemäße Wiedergabe feststehen.

Sie stellen offensichtlich sorgfältig ausgearbeitete Niederschriften der in ihnen geschilderten Ereignisse dar, wurden als solche in den Archiven der deutschen Regierung aufbewahrt und auch dort [209] erbeutet. Derartige Dokumente können nicht als Erfindungen, nicht einmal als ungenaue oder entstellte Dokumente abgetan werden, denn sie sind klare Aufzeichnungen von Ereignissen, die auch tatsächlich stattgefunden haben.

Es wird vielleicht zweckdienlich sein, sich zunächst mit der Besprechung vom 23. November 1939, zu der Hitler seine obersten Befehlshaber zusammenberufen hatte, zu befassen. Einer der Anwesenden führte das Protokoll. Am Tage der Besprechung waren Österreich und die Tschechoslowakei bereits in das deutsche Reich eingegliedert worden, die deutschen Armeen hatten Polen erobert und der Krieg mit Großbritannien und Frankreich befand sich noch im Stadium des Stillstandes. Dieser Augenblick war zu einem Rückblick auf die vergangenen Ereignisse geeignet. Hitler teilte den Befehlshabern mit, es sei der Zweck der Zusammenkunft, ihnen einen Einblick in seine Gedankenwelt zu geben, und sie von seinen Entschlüssen in Kenntnis zu setzen. Dann unterzog er seine politischen Aufgaben seit 1919 einem Rückblick und erwähnte Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, das Verlassen der Abrüstungskonferenz, den Befehl zur Wiederaufrüstung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Besetzung des Rheinlandes, die Besetzung Österreichs und das Vorgehen gegen die Tschechoslowakei. Er erklärte:

»Ein Jahr später kam Österreich, auch dieser Schritt wurde für sehr bedenklich angesehen. Er brachte eine wesentliche Stärkung des Reiches. Der nächste Schritt war Böhmen, Mähren und Polen. Aber dieser Schritt war nicht in einem Zuge zu tun. Zunächst mußte im »Westen der Westwall fertiggestellt werden. Es war nicht möglich, das Ziel in einem Anhieb zu erreichen. Vom ersten Augenblick an war mir klar, daß ich mich nicht mit dem sudetendeutschen Gebiet begnügen könnte. Es war nur eine Teillösung. Der Entschluß zum Einmarsch in Böhmen war gefaßt. Dann kam die Errichtung des Protektorates, und damit war die Grundlage für die Eroberung Polens gelegt, aber ich war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht im klaren, ob ich erst gegen den Osten und dann gegen den Westen oder umgekehrt vorgehen sollte... Grundsätzlich habe ich die Wehrmacht nicht aufgestellt, um nicht zu schlagen. Der Entschluß zum Schlagen war immer in mir. Früher oder später wollte ich das Problem lösen. Zwangsläufig wurde entschieden, daß der Osten zunächst zum Ausfall gebracht wurde.«

Diese Ansprache, in der die Ereignisse der Vergangenheit betrachtet wurden und die die Angriffsabsichten, die von allem Anfang an vorhanden waren, bestätigt, stellt jeden Zweifel über den Charakter der Aktionen gegen Österreich und die Tschechoslowakei und den Krieg [210] gegen Polen völlig außer Frage, waren sie doch alle ganz planmäßig vollendet worden. Die Natur dieses Planes muß nunmehr etwas genauer betrachtet werden.

Bei der Besprechung am 23. November 1939 unterzog Hitler das Erreichte einem Rückblick. Bei den früheren Besprechungen, die nunmehr zu betrachten sind, blickte er in die Zukunft und enthüllte seine Pläne vor seinen Helfershelfern. Dieser Vergleich ist lehrreich.

Bei der in der Reichskanzlei in Berlin am 5. November 1937 abgehaltenen Besprechung war Hitlers persönlicher Adjutant, Oberstleutnant Hossbach, zugegen, der eine eingehende Niederschrift der Besprechung anfertigte, welche er mit dem Datum vom 10. Nov. 1937 versah und unterschrieb.

Anwesend waren außer Hitler die Angeklagten Göring, von Neurath und Raeder in ihrer entsprechenden Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichsaußenminister und Oberbefehlshaber der Marine, sowie General von Blomberg, der Kriegsminister, und General von Fritsch, der Oberbefehlshaber des Heeres.

Hitler begann mit der Erklärung, daß der Gegenstand dieser Konferenz von so großer Wichtigkeit sei, daß sie in anderen Staaten im Rahmen einer Kabinettsitzung stattgefunden haben würde. Er sagte weiterhin, daß das Thema seiner Rede das Ergebnis seiner eingehendsten Überlegungen und der Erfahrungen sei, die er in den 41/2 Jahren seiner Regierung gemacht habe. Er wünschte, daß die Eröffnung, die er zu machen beabsichtige, im Falle seines Todes als sein letzter Wille und als sein Testament betrachtet werde. Hitlers Hauptthema war das Problem des Lebensraumes, und er erörterte verschiedene Lösungsmöglichkeiten, die er aber verwarf. Er fuhr fort, die Gewinnung von Lebensraum auf dem europäischen Kontinent sei notwendig, wobei er folgende Worte gebrauchte:

»Es handelt sich nicht um die Gewinnung von Menschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum. Auch die Rohstoffgebiete seien zweckmäßiger im unmittelbaren Anschluß an das Reich in Europa und nicht in Übersee zu suchen, wobei die Lösung sich für ein bis zwei Generationen auswirken müsse... Daß jede Raumerweiterung nur durch Brechen von Widerstand und unter Risiko vor sich gehen könne, habe die Geschichte aller Zeiten – römisches Weltreich, englisches Empire – bewiesen. Auch Rückschläge seien unvermeidbar. Weder früher, noch heute habe es herrenlosen Raum gegeben, der Angreifer stoße stets auf den Besitzer.«

Er schloß mit der folgenden Feststellung:

»Für Deutschland laute die Frage, wo größter Gewinn unter geringstem Einsatz zu erreichen sei.«

[211] Nichts konnte die Angriffsabsichten Hitlers deutlicher ausdrücken; die bald darauf folgenden Ereignisse zeigten auch, wie ernst es ihm um seine Absichten war. Es ist unmöglich, der Behauptung Glauben zu schenken, daß Hitler den Krieg nicht eigentlich gewollt habe, denn nachdem er angedeutet hatte, daß Deutschland mit dem Widerstand Englands und Frankreichs rechnen müsse, und nachdem er die Stärken und Schwächen jener Mächte in dieser und jener Lage beleuchtet hatte, fuhr er fort:

»Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben, dieser könne niemals risikolos sein.... Stelle man an die Spitze der nachfolgenden Ausführungen den Entschluß zur Anwendung von Gewalt unter Risiko, dann bleibe noch die Beantwortung der Frage »wann« und »wie«. Hierbei seien drei Fälle zu entscheiden.«

Bei dem ersten dieser drei Fälle wurde eine hypothetische Internationale Situation dargelegt, bei der er spätestens 1943 bis 1945 handeln würde. Hier sagte er:

»Sollte der Führer noch am Leben sein, so sei es sein unabänderlicher Entschluß, spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage zu lösen. Die Notwendigkeit zum Handeln vor 1943/45 käme in Fall 2 und 3 in Betracht.«

Der zweite und der dritte Fall, die Hitler erwähnte, zeigen die klare Absicht, von Österreich und der Tschechoslowakei Besitz zu ergreifen, und in diesem Zusammenhange sagte Hitler:

»Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage müsse in jedem Falle einer kriegerischen Verwicklung unser erstes Ziel sein, die Tschechei und Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten.«

Er fügte ferner hinzu:

»Die Angliederung dieser beiden Staaten an Deutschland bedeutet militär-politisch eine wesentliche Entlastung infolge kürzerer, besserer Grenzziehung, Freiwerdens von Streitkräften für andere Zwecke und der Möglichkeit der Neuaufstellung von Truppen, bis in Höhe von etwa 12 Divisionen...«

Dieser Entschluß, von Österreich und der Tschechoslowakei Besitz zu ergreifen, wurde im einzelnen besprochen; der Schritt sollte erfolgen, sobald sich hierzu eine günstige Gelegenheit biete.

[212] Die militärische Stärke, die Deutschland seit 1933 aufgebaut hatte, sollte nun besonders gegen die beiden Länder Österreich und Tschechoslowakei gerichtet werden.

Der Angeklagte Göring sagte aus, daß er damals nicht geglaubt habe, Hitler wolle tatsächlich Österreich und die Tschechoslowakei angreifen, und daß der Zweck der Konferenz nur der gewesen sei, auf von Fritsch einen Druck auszuüben, damit er die Wiederaufrüstung des Heeres beschleunige.

Der Angeklagte Raeder sagte aus, daß weder er, noch von Fritsch, noch von Blomberg geglaubt hätten, Hitler wolle tatsächlich den Krieg; eine Überzeugung, die der Angeklagte Raeder bis zum 22. August 1939 beibehalten haben will. Der Grund für diese Überzeugung war seine Hoffnung, daß Hitler eine »politische Lösung« der Probleme Deutschlands erreichen würde.

Aber genau genommen, bedeutet das nur den Glauben, daß Deutschlands Stellung so gut und Deutschlands bewaffnete Macht so überwältigend sein würde, daß die erwünschten Gebiete kampflos gewonnen werden könnten.

Man darf auch nicht vergessen, daß Hitlers verkündete Absichten auf Österreich in wenig mehr als vier Monaten nach dem Tage der Konferenz tatsächlich durchgeführt wurden, daß binnen weniger als einem Jahr der erste Teil der Tschechoslowakei verschluckt war und Böhmen und Mähren wenige Monate später. Falls im November 1937 unter seinen Zuhörern irgendwelche Zweifel bestanden hätten, so konnte es vom März 1939 an keine Frage mehr sein, daß Hitler es mit seinem Entschluß zum Kriege todernst meinte.

Der Gerichtshof ist überzeugt, daß der Bericht des Oberstleutnants Hossbach über die Zusammenkunft in den Grundzügen richtig ist und daß die Anwesenden wußten, daß Österreich und die Tschechoslowakei bei der erstmöglichen Gelegenheit von Deutschland annektiert werden würden.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 209-213.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon