Verbrecherische Tätigkeit

in der Tschechoslowakei.

[378] Am 18. März 1939 wurde von Neurath zum Reichsprotektor von Böhmen und Mähren ernannt. Böhmen und Mähren wurden durch militärische Streitkräfte besetzt. Hachas Zustimmung, die ihm unter Zwang abgenötigt worden war, kann nicht als Rechtfertigung dieser Besetzung angesehen werden.

Hitlers Gesetz vom 16. März 1939, mit dem das Protektorat errichtet wurde, erklärt, daß dies neue Gebiet »in Zukunft zum Gebiet des Deutschen Reiches gehört«, woraus zu entnehmen war, daß die Tschechoslowakische Republik nicht mehr bestehe. Das Gesetz beruhte aber gleichzeitig auf der Annahme, daß Böhmen und Mähren ihre Souveränität beibehielten, vorbehaltlich nur der Interessen Deutschlands, wie sie im Bestehen des Protektorats zum Ausdruck kamen. Selbst wenn daher die Lehre von der Unterwerfung auf ein durch eine Angriffshandlung erobertes Gebiet als anwendbar angesehen wird, so glaubt doch der Gerichtshof nicht, daß diese Proklamation einer Einverleibung gleichkam, die hinreichen würde, um diese Lehre zur Anwendung zu bringen. Die Besetzung Böhmens und Mährens muß daher als eine militärische Besetzung angesehen werden, die den Regeln der Kriegsführung unterliegt. Obwohl die Tschechoslowakei kein Mitglied der Haager Konvention von 1907 war, stellen doch die in dieser Konvention enthaltenen Landkriegsregeln das bestehende Völkerrecht dar und sind daher anzuwenden.

[378] Als Reichsprotektor führte von Neurath in Böhmen und Mähren eine Verwaltung ein, die der in Deutschland bestehenden ähnlich war. Die freie Presse, die politischen Parteien und die Gewerkschaften wurden unterdrückt. Alle Gruppen, die als Opposition hätten wirken können, wurden außerhalb des Gesetzes gestellt. Die tschechoslowakische Industrie wurde in den Aufbau der deutschen Kriegsproduktion eingefügt und der deutschen Kriegsrüstung dienstbar gemacht. Auch wurde die judenfeindliche Politik und Gesetzgebung der Nazis eingeführt. Juden wurden von führenden Stellungen in Regierung und Wirtschaftsleben ausgeschlossen.

Im August 1939 erließ von Neurath eine Proklamation, in der er vor Sabotageakten warnte und erklärte, »daß die Verantwortung für alle Sabotageakte nicht nur die einzelnen Täter, sondern die ganze tschechische Bevölkerung trifft«.

Als am 1. September 1939 der Krieg ausbrach, wurden 8000 führende Tschechoslowaken durch die Sicherheitspolizei verhaftet und in Schutzhaft genommen; viele von ihnen starben in Konzentrationslagern infolge von Mißhandlungen.

Im Oktober und November 1939 veranstalteten tschechoslowakische Studenten eine Reihe von Demonstrationen. Als Ergebnis wurden auf Befehl Hitlers alle Universitäten geschlossen, 1200 Studenten eingesperrt und die neun Führer der Demonstration von der Sicherheitspolizei und dem SD erschossen. Von Neurath sagte aus, daß er über diese Aktion nicht im voraus unterrichtet gewesen sei, doch ist sie durch eine Proklamation, die seine Unterschrift trug, und auf Plakaten im ganzen Protektorat verbreitet wurde, angekündigt worden, was jedoch nach seiner Behauptung ohne seine Genehmigung geschehen sei.

Am 31. August 1940 übermittelte von Neurath eine von ihm verfaßte Denkschrift an Lammers, in der er sich mit der Zukunft des Protektorats befaßte, und gleichzeitig eine mit seiner Zustimmung von Carl Hermann Frank verfaßte Denkschrift über den gleichen Gegenstand. Beide befaßten sich mit der Frage der Germanisierung und schlugen vor, daß die Mehrheit der Tschechen in rassischer Hinsicht vom deutschen Volke aufgesogen werden solle. Beide befürworteten die Ausschaltung der tschechoslowakischen Intelligenz und anderer Gruppen, die sich etwa der Germanisierung widersetzen könnten; und zwar empfahl von Neuraths Denkschrift die Ausweisung, Franks Denkschrift die Ausweisung oder »besondere Behandlung«.

Von Neurath hat geltend gemacht, daß die eigentliche Durchführung der Unterdrückungsmaßnahmen in den Händen der Sicherheitspolizei und des SD gelegen habe, die sich unter der Kontrolle seines Staatssekretärs Carl Hermann Frank befanden, der auf [379] Empfehlung von Himmler ernannt worden war, und als Höherer SS- und Polizeiführer direkt Himmler unterstand. Von Neurath macht ferner geltend, daß die judenfeindlichen Maßnahmen sowie die Maßnahmen der wirtschaftlichen Ausnützung als Ergebnis der im Reiche beschlossenen Politik im Protektorate in Kraft gesetzt worden seien. Wie dem auch immer sei, er war als Protektor der oberste deutsche Beamte zu einer Zeit, in der die Verwaltung dieses Gebietes eine bedeutsame Rolle in den Angriffskriegen spielte, welche Deutschland gegen Osten führte, und er wußte, daß Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter seiner Herrschaft begangen wurden.

Zwecks milderer Beurteilung muß daran erinnert werden, daß er bei der Sicherheitspolizei und dem SD für die Freilassung vieler am 1. September 1939 verhafteter Tschechoslowaken und später im Herbst für die Freilassung verhafteter Studenten eintrat. Am 23. September 1941 wurde er zu Hitler gerufen und davon in Kenntnis gesetzt, daß er nicht streng genug sei, und daß Heydrich in das Protektorat zur Bekämpfung der tschechoslowakischen Widerstandsgruppen gesandt werde. Von Neurath versuchte Hitler von der Entsendung Heydrich abzubringen und bot, als er damit keinen Erfolg hatte, seinen Rücktritt an. Als dieser nicht angenommen wurde, ging er am 27. September 1941 auf Urlaub und weigerte sich, nach diesem Zeitpunkt als Protektor zu amtieren. Sein Rücktritt wurde im August 1943 offiziell angenommen.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 378-380.
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