V. Unrichtige Entscheidung über das Reichskabinett.

[402] Der Ausschuß der Anklagevertreter stellte beim Gerichtshof den Antrag, die Reichsregierung des nazistischen Deutschlands für eine verbrecherische Organisation zu erklären. Der Urteilsspruch weist als unbegründet den Vorschlag der Anklagevertreter zurück, und die Hitlerregierung wird nicht für eine verbrecherische Organisation erklärt. Mit dieser Entscheidung kann ich mich nicht einverstanden erklären. Der Gerichtshof hat als eine festgestellte Tatsache anerkannt, daß die Hitlerleute unzählige und ungeheure Verbrechen, in der Regel absichtlich und organisiert, nach im voraus ausgearbeiteten Plänen und Richtlinien begangen hatten. (Plan [402] »Barbarossa«, »Nacht und Nebel«, »Kugel-Erlaß« u. a.) Der Gerichtshof hat einige Massenorganisationen des Hitlerregimes, die von den Hitlerleuten zur Erfüllung ihrer Pläne geschaffen wurden, für verbrecherisch erklärt. Unter diesen Umständen scheint es desto unbegründeter und grundsätzlich falsch zu sein, von der Anerkennung der Hitlerregierung als verbrecherischer Organisation Abstand zu nehmen, einer Regierung, die einen führenden Stab darstellte und unmittelbar an der Ausarbeitung dieser verbrecherischen Pläne teilgenommen hat. Die Mitglieder dieses Stabes waren mit großen Vollmachten ausgestattet, leiteten entsprechende Ressorts, welche jeweils in ihrem Bereich an der Einzelausarbeitung und Verwirklichung dieser Pläne teilnahmen.


Zur Bestätigung dessen scheint es angebracht, hier einige Tatsachen als Beispiele anzuführen.

1. Gleich nachdem die Nazisten die Macht ergriffen hatten – am 24. März 1933 – wurde das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« herausgegeben, welches der Reichsregierung neben dem Reichstag das Gesetzgebungsrecht einräumte. Am 26. Mai 1933 wird von der Reichsregierung ein Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens herausgegeben, und am 14. Juli desselben Jahres wird das Eigentum der sozialdemokratischen Organisationen beschlagnahmt. Am 1. Dezember 1933 veröffentlicht die Reichsregierung ein Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat. Die Liquidierung der demokratischen Einrichtungen fortsetzend, schafft die Reichsregierung durch das »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches« 1934 die demokratischen Wahlen zu den zentralen und örtlichen Vertretungen der Länder ab. Der Reichstag wird zur Einrichtung ohne Bedeutung. (Protokoll der Nachmittagssitzung vom 22. November 1945.) Durch das Gesetz vom 7. April 1933, und auch andere Gesetze, wurden alle Staatsbeamten, auch die Richter, die vermutlich jemals antifaschistisch gesinnt waren oder den linken Organisationen angehört haben, so auch Juden, aus dem Dienst entlassen und ihre Stellen wurden von Nazis besetzt. Nach den grundlegenden Bestimmungen des deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937 ist die »innere Verbundenheit des Beamten mit der Partei Voraussetzung für seine Ernennung... Der Beamte soll der Vollstrecker des Willens des von der NSDAP getragenen Staates sein«. (Dokument der Verteidigung Nr. 28.)

Am 1. Mai 1934 wird das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volkbildung gegründet, welches den Auftrag erhält, die Studierenden im Sinne des Militarismus, des Rassenhasses und im Sinne der durch die wahnsinnigen nazistischen Ideen entstellten Vorstellungen zu erziehen. (Dokument 2078-PS.)

[403] Die freien Gewerkschaften werden vernichtet, ihr Eigentum wird beschlagnahmt und die meisten Funktionäre werden in Gefängnisse gesteckt. Zum Zwecke der Unterdrückung des Widerstandes werden von der Regierung die Gestapo und die Konzentrationslager geschaffen. Ohne ein gerichtliches Verfahren einzuleiten, ohne eine konkrete Anklage zu erheben, werden Hunderttausende von Menschen nur um des Verdachts einer antinazistischen Gesinnung willen verhaftet und hingemordet.

Es werden sogenannte Nürnberger Gesetze gegen die Juden erlassen. Die Mitglieder der Reichsregierung Heß und Frick haben zur Ergänzung dieser Gesetze zusätzliche Verordnungen veröffentlicht. Die Tätigkeit der Hitlerregierung führte zum Krieg, der Millionen von Menschenleben forderte und den Völkern einen unberechenbaren materiellen Schaden und unsägliche Leiden zufügte.

Am 4. Februar 1938 hat Hitler den Geheimen Kabinettsrat geschaffen. Er umriß seine Aufgabe mit folgenden Worten: »Zu meiner Beratung in der Führung der Außenpolitik setze ich einen Geheimen Kabinettsrat ein«. (Reichstagsgesetzblatt 1938, Teil I, Seite 112, Dokument 2031-PS.)

Die Außenpolitik der Hitlerregierung war eine Angriffspolitik. Deshalb müssen die Mitglieder des Geheimen Kabinettsrats als verantwortlich für diese Politik erklärt werden.

Im Prozeß hat man den Versuch gemacht, den Geheimen Kabinettsrat als etwas Fiktives, das überhaupt keinerlei Tätigkeit ausübte, hinzustellen. Aber man kann sich damit nicht einverstanden erklären. Man muß sich nur den Brief Rosenbergs an Hitler ins Gedächtnis zurückrufen, um die Bedeutung dieses Geheimen Kabinettsrats ermessen zu können. In diesem Brief will Rosenberg seine Ernennung zum Mitglied des Geheimen Kabinettrats hartnäckig durchsetzen. Eine noch größere Bedeutung für die praktische Vorbereitung der Angriffskriege hatte der von Hitler und Göring geleitete Reichsverteidigungsrat. Wie bekannt, waren als Mitglieder des Reichsverteidigungsrates folgende verzeichnet: Heß, Frick, Funk, Keitel, Raeder, Lammers. (Dokument: 2194-PS, 2018-PS.)

Die Bedeutung und die Rolle des Reichsverteidigungsrates in der Vorbereitung des Krieges wurde in der Sitzung vom 23. Juni 1939 folgendermaßen geschildert: »Der Reichsverteidigungsrat ist das entscheidende Instrument im Reich für die Fragen der Vorbereitung des Krieges«. (Dokument 3787-PS, US-782.)

Damals hat Göring noch besonders hervorgehoben, »daß die Sitzungen des Verteidigungsrates zur Fassung der wichtigsten Entscheidungen einberufen werden«. Aus den von der Anklagevertretung vorgelegten Niederschriften der Sitzungen des Reichsverteidigungsrates ist deutlich zu ersehen, daß tatsächlich der Reichsverteidigungsrat [404] sehr wichtige Entschlüsse faßte. Aus diesen Protokollen kann man auch ersehen, daß neben den Mitgliedern des Verteidigungsrates an den Besprechungen der Kriegsvorbereitungsmaßnahmen auch andere Minister teilnahmen. So z.B. nahmen an der Sitzung am 23. Juni 1939 folgende Minister teil: Arbeitsminister, Ernährungs- und Landwirtschaftsminister, Finanzminister, Minister für das Verkehrswesen u. a., und das Protokoll der Sitzung wurde an alle Minister versandt. (Dokument US-782.)

Mit Recht hebt der Urteilsspruch des Gerichtshofes einige besondere Merkmale der Hitlerregierung als eines leitenden Staatsorgans hervor: keine regelmäßigen Kabinettssitzungen, in einigen Fällen Veröffentlichung der Gesetze durch einzelne Minister, die außerordentlich selbständig waren, eine außerordentlich große persönliche Macht Hitlers.

Diese Merkmale aber widerlegen nicht, sondern bestätigen die Schlußfolgerung, daß die Hitlerregierung keine gewöhnliche Regierung, sondern eine verbrecherische Organisation gewesen ist.

Natürlich verfügte Hitler über eine bedeutende persönliche Macht, aber diese kann in keiner Weise die Verantwortung von dem Reichskabinett nehmen, dessen Mitglieder überzeugte Anhänger Hitlers und seine engsten führenden Mitarbeiter waren, die tatsächlich seine Maßnahmen billigten und durchführten, bis zu dieser Stunde, wo sie diese Maßnahmen nun auch verantworten müssen.

Ich glaube, daß alle Gründe vorlagen, die Hitlerregierung für eine verbrecherische Organisation zu erklären.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 402-405.
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