Vormittagssitzung.

[415] VORSITZENDER: Ich erteile dem Herrn Anklagevertreter für die Französische Republik das Wort.

M. FRANÇOIS DE MENTHON, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Hoher Gerichtshof! Das Gewissen jener Völker, die gestern noch physisch und seelisch geknechtet und gequält waren, fordert von Ihnen, den ungeheuerlichsten Versuch der Tyrannei und Barbarei aller Zeiten zu richten und zu verurteilen, sowohl in der Person einiger der Hauptschuldigen als auch in der Gesamtheit der Gruppen und Vereinigungen, die die wesentlichen Werkzeuge ihrer Verbrechen waren.

Frankreich, das in dreißig Jahren zweimal mit Kriegen überzogen wurde, die der deutsche Imperialismus entfesselt hatte, mußte im Mai und Juni 1940 beinahe allein den Anprall der Rüstungen ertragen, die von Nazi-Deutschland seit Jahren, mit der Absicht anzugreifen, aufgebaut worden waren. Obgleich von der Überlegenheit an Zahl, an Material und Vorbereitungen vorübergehend überwältigt, hat mein Land doch niemals den Kampf um die Freiheit aufgegeben und ist diesem Kampf nicht einen Tag ferngeblieben. Die übernommenen Verpflichtungen und der Wille zur nationalen Unabhängigkeit hätten genügt, um Frankreich unter General de Gaulle einen Platz im Lager der demokratischen Nationen zu sichern. Wenn aber unser Befreiungskampf nach und nach den Charakter einer Volkserhebung annahm, dem Rufe der Männer der Widerstandsbewegung folgend, die allen Gesellschaftsschichten, allen Konfessionen und allen politischen Parteien angehörten, während unser Boden und unsere Seele von den Nazi-Eindringlingen zertrampelt wurden, so geschah dies, weil unser Volk sich nicht nur gegen Elend und Versklavung aufbäumte, sondern darüber hinaus sich auch weigerte, die Hitlerschen Dogmen anzunehmen, die mit seiner Tradition, seinen Bestrebungen und seiner menschlichen Berufung in absolutem Widerspruch standen.

Frankreich, das man systematisch ausraubte und zugrunde richtete, Frankreich, dessen Söhne in so großer Zahl in den Gefängnissen der Gestapo und in den Deportierungslagern gefoltert und ermordet wurden, Frankreich, das den noch schrecklicheren Versuch einer Demoralisierung und eines Rückfalls in das teuflische Barbarentum Deutschlands erdulden mußte, dieses Frankreich verlangt von Ihnen, insbesondere im Namen der heldenhaften Märtyrer der [415] Widerstandsbewegung, die zu den reinsten Helden unserer nationalen Geschichte zählen, daß Gerechtigkeit geschehe!

Frankreich, das in der Weltgeschichte so oft Sprecher und Vorkämpfer der menschlichen Freiheit, der menschlichen Moral und des menschlichen Fortschritts gewesen ist, macht sich auch heute wieder durch meine Stimme zum Wortführer der Märtyrer-Völker Westeuropas, nämlich Norwegens, Dänemarks, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs, Völker, die vielleicht mehr als alle anderen den Frieden lieben, und die zu den edelsten Völkern der Menschheit gehören, dank ihrer Bestrebungen und der Pflege, die sie den Gütern der Zivilisation angedeihen lassen. Es sind Völker, die unsere Leiden mit uns geteilt haben und die es gleich uns ablehnten, ihre Seele der Nazi-Barbarei zu opfern. Frankreich macht sich hier zu ihrem Sprecher, um volle Gerechtigkeit zu fordern.


VORSITZENDER: Einen Augenblick, Herr de Menthon, die russische Übersetzung ist nicht zu hören. – Jetzt ist sie wieder in Ordnung.


M. DE MENTHON: Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit für die gefolterten Völker ist die erste Grundlage für das Erscheinen Frankreichs vor diesem Hohen Gerichtshof. Es ist nicht die einzige, vielleicht auch nicht die wichtigste Grundlage. Mehr als der Vergangenheit wenden wir uns der Zukunft zu.

Wir glauben, daß es keinen dauernden Frieden und keinen sicheren Fortschritt für die heute noch zerrissene, leidende und eingeschüchterte Menschheit ohne die Zusammenarbeit aller Völker und ohne den allmählichen Aufbau einer wahren internationalen Gesellschaft gibt.

Technische Maßnahmen und diplomatische Regelungen werden dazu nicht ausreichen. Es gibt keine ausgeglichene und dauerhafte Nation ohne allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich der wichtigen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ohne eine gleichgestimmte Haltung zu den Forderungen des Gewissens und ohne die gleichen Begriffe von Gut und Böse bei allen Staatsbürgern. Es gibt kein internes Recht, das sich bei Beurteilung und Bestrafung von strafrechtlichen Verletzungen nicht auf eine von allen anerkannte sittliche Ordnung, in einem Wort, auf eine gemeinsame Moral stützt. Es kann in Zukunft keine Gemeinschaft der Völker ohne internationale Moral geben, ohne eine gewisse Gemeinsamkeit der geistigen Zivilisation, ohne eine allgemeine Hierarchie der Werte; das Völkerrecht wird dazu berufen sein, die schwersten Verstoße gegen die allgemein anerkannten Vorschriften der Moral festzustellen und ihre Bestrafung zu sichern.

Diese Moral und dieses internationale Strafrecht, die unerläßlich sind für die endliche Errichtung einer friedlichen Zusammenarbeit und für den Fortschritt auf dauerhaften Grundlagen, können wir [416] uns heute nicht mehr im Licht der Erfahrungen vergangener Jahrhunderte und genauer der letzten Jahre vorstellen, vielmehr, mit Rücksicht auf die unerhörte und riesenhafte Masse der Opfer und Leiden der Menschen aller Rassen und Nationalitäten, nur, wenn sie auf der Achtung der menschlichen Person, jeder menschlichen Person, wer immer es sei, und auf der Begrenzung der staatlichen Souveränität, gegründet sind.

Wenn wir aber hoffen wollen, künftig allmählich eine Gemeinschaft der Völker auf dieser Moral und diesem Völkerrecht in freier Zusammenarbeit der Völker aufzubauen, so ist es erforderlich, daß Nazi-Deutschland, das einen Angriffskrieg vorsätzlich geplant, vorbereitet und entfesselt hat, welcher den Tod von Millionen von Menschen, das Verderben zahlreicher Nationen hervorrief, das dann im Laufe der Jahre der Feindseligkeiten die hassenswertesten Verbrechen anhäufte, daß dieses Deutschland schuldig gesprochen werde, und daß seine Führer und Hauptverantwortlichen dafür bestraft werden. Ohne diese Verurteilung und Züchtigung würden die Völker nicht mehr an die Gerechtigkeit glauben. Wenn Sie ausgesprochen haben werden, daß ein Verbrechen immer ein Verbrechen bleibt, ob es nun von einer nationalen Gemeinschaft gegen ein anderes Volk oder von einem Individuum gegen ein anderes begangen wurde, werden Sie damit festgelegt haben, daß es nur eine Moral gibt, die sowohl die internationalen Beziehungen wie die Verhältnisse der Individuen zueinander bestimmen muß, und daß auf dieser Moral alle Rechtsvorschriften aufgebaut sind, die von der Gemeinschaft der Völker anerkannt werden. Dann haben Sie wirklich damit begonnen, eine internationale Gerechtigkeit einzurichten.

Dieses Werk der Gerechtigkeit ist auch für die Zukunft des deutschen Volkes unerläßlich. Jahre hindurch ist dieses Volk durch den Nazismus vergiftet worden; einige seiner ewigen und tiefen Bestrebungen haben in diesem Regime ihren ungeheuerlichen Ausdruck gefunden. Seine Gesamtverantwortung ist nicht nur auf Grund der tatsächlichen Teilnahme einer sehr großen Zahl an den begangenen Verbrechen gegeben. Seine Neuerziehung ist unerläßlich. Dies erscheint ein schwieriges und langwieriges Unternehmen. Die Anstrengungen, die die freien Völker machen müssen, um Deutschland in eine internationale Gemeinschaft einzugliedern, können nicht zum schließlichen Erfolg führen, bevor diese Neuerziehung nicht tatsächlich durchgeführt worden ist. Die vorangehende Verurteilung Nazi-Deutschlands durch diesen Hohen Gerichtshof wird die erste Belehrung für dieses Volk sein und wird den besten Ausgangspunkt darstellen für eine richtige Einschätzung der Werte und für die Neuerziehung, die die große Sorge des deutschen Volkes in den kommenden Jahren zu sein hat.

Deshalb glaubt Frankreich, den Antrag stellen zu müssen, dieser Gerichtshof möge den Angriffskrieg als solchen und die Vergehen [417] gegen die Moral und das Recht aller zivilisierten Völker, die Deutschland bei Führung des Krieges begangen hat, rechtlich als Verbrechen bezeichnen, die Hauptverantwortlichen verurteilen und die Mitglieder der verschiedenen Gruppen und Organisationen, die die Hauptausführenden der Verbrechen Nazi-Deutschlands waren, für verbrecherisch erklären.

Dieser Hohe Gerichtshof, der von den vier Signatarmächten auf Grund des Abkommens vom 8. August 1945 eingesetzt wurde, übt sein Amt für die Gesamtheit der Vereinten Nationen aus und ist dazu berufen, im Namen der freien Völker, im Namen der befreiten Menschheit, über Nazi-Deutschland Recht zu sprechen.

Die Errichtung eines Gerichtshofs durch unsere vier Regierungen, um die von den Hauptverantwortlichen Nazi-Deutschlands begangenen Verbrechen zu richten, ist fest gegründet auf den Grundsätzen und Gebräuchen des Völkerrechts. Ein hervorragender englischer Jurist hat es uns erst kürzlich ins Gedächtnis zurückgerufen: »Die Praxis und die Lehre des Völkerrechts haben stets den kriegführenden Staaten das Recht zuerkannt, feindliche Kriegsverbrecher, die ihnen in die Hände fallen, zu bestrafen.« Dies ist eine unabänderliche Bestimmung des Völkerrechts, die noch nie bestritten worden ist. Es handelt sich nicht um einen neuen Lehrsatz. Er wurde mit dem Völkerrecht zusammen geboren. Franzisco de Vittoria und Grotius haben die Grundlagen dazu gelegt. Auch die deutschen Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts haben diese Theorie entwickelt.

So sagt Johann Jakob Moser, ein Positivist des 18. Jahrhunderts: »Feindliche Soldaten, die dem Völkerrecht zuwiderhandeln, haben, wenn sie in die Hände ihrer Feinde fallen, keinen Anspruch darauf, als Kriegsgefangene behandelt zu werden. Sie erleiden das Los von Dieben oder Mördern.« Das Verfahren, das die Vereinigten Staaten, Großbritannien, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und Frankreich heute gegen die Männer und Organisationen, die vor diesem Hohen Gerichtshof angeklagt sind, auf Grund der am 18. Oktober 1945 in Berlin erlassenen Anklageschrift durchführen, ruht daher auf einer unantastbaren Rechtsgrundlage: dem vom Völkerrecht allgemein anerkannten Recht, Kriegsverbrecher vor ein Strafgericht zu stellen.

Dieses Recht wird durch rechtliche Erwägungen unterstützt, die vielleicht noch unwiderlegbarer sind.

Das Territorialitätsprinzip bei der Anwendung des Strafrechts gibt jedem Staat die Möglichkeit, die Verbrechen zu bestrafen, die auf seinem Gebiet begangen wurden. Das Territorialitätsprinzip deckt auch die Verletzungen des Völkerrechts in militärisch besetzten Gebieten; diese Verletzungen bilden die Hauptquelle der Kriegsverbrechen. Aber die von den Angeklagten begangenen Verbrechen [418] waren nicht nur gegen einen bestimmten Staat in einem bestimmten besetzten Gebiet gerichtet. Die nationalsozialistischen Verschwörer, über die Recht zu sprechen wir von diesem Hohen Gerichtshof verlangen, haben die Politik des Dritten Reiches geleitet. Alle Staaten, die von ihren Streitkräften besetzt und vorübergehend versklavt wurden, waren in gleicher Weise die Opfer des unerlaubten Krieges, den sie entfesselt hatten, wie auch der Methoden, die bei der Führung des Krieges zur Anwendung kamen. Es kann daher nicht nur einer dieser Staaten für sich das Vorrecht in Anspruch nehmen, diese Verbrecher zu richten. Nur ein internationaler Gerichtshof, hervorgegangen aus der Gesamtheit der Vereinten Nationen, die noch gestern im Kriege mit Deutschland standen, ist dazu mit Recht berufen. Deshalb hat die zu Ende der Moskauer Konferenz im Oktober 1943 ergangene Erklärung über die Greueltaten der Feinde vorgesehen, daß die Führer des nationalsozialistischen Deutschlands nach dem gemeinsamen Sieg der Alliierten vor ein internationales Gericht gestellt werden sollen. Es ist also juristisch nichts Neues an dem Prinzip des Rechtes, das Sie zur Anwendung bringen sollen. Weit davon entfernt, nur ein Ausdruck der Macht der Sieger zu sein, gründet sich Ihre Zuständigkeit auf die völkerrechtliche Anerkennung des in den souveränen Staaten geltenden Territorialitätsprinzips.

Die Übertragung der rechtsprechenden Gewalt durch diese Staaten an einen internationalen Gerichtshof stellt einen bemerkenswerten Fortschritt bei der Ingangsetzung eines zwischenstaatlichen Strafverfahrens dar, bildet jedoch keine Neuerung für das rechtliche Fundament der Justiz, die Sie auszuüben berufen sind.

Es mag scheinen, daß sich die strafrechtliche Qualifikation der Taten an juristischen Einwänden stößt. Diese entsetzliche Anhäufung, dieses Labyrinth von Verbrechen gegen die Menschlichkeit umschließt und überschreitet gleichzeitig die beiden juristisch genauer bestimmten Begriffe der Verbrechen gegen den Frieden und der Kriegsverbrechen. Ich glaube jedoch, und ich werde darauf getrennt bei den Verbrechen gegen den Frieden und bei den Kriegsverbrechen noch zurückkommen, ich glaube, daß die Gesamtheit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit tatsächlich nichts anderes darstellt, als die aus politischen Gründen erfolgte und systematische Begehung von Verbrechen des ordentlichen Strafrechts, wie Diebstahl, Plünderung, Mißhandlung, Versklavung, Mord und Totschlag, Verbrechen, die vom Strafgesetz aller zivilisierten Staaten als solche angesehen und bestraft werden.

Kein allgemeiner Einwand juristischer Natur scheint daher Ihrem Werk der Gerechtigkeit entgegenzustehen.

Darüber hinaus werden die beschuldigten Nazis auch nicht in der Lage sein, den angeblichen Mangel an geschriebenen Rechtsgrundlagen für die Strafqualifikation geltend zu machen, die Sie [419] ihren Untaten geben werden. Hat doch die juristische Lehre des Nationalsozialismus selbst zugegeben, daß im inländischen Strafrecht sogar der Richter selbst das Gesetz vervollständigen kann und soll. Das geschriebene Gesetz stellte nicht mehr die »Magna Charta« für den Übeltäter dar. Der Richter durfte auch bei Fehlen einer gesetzlichen Strafbestimmung Strafen verhängen, wenn das nationalsozialistische Rechtsgefühl als schwer verletzt angesehen wurde.

Wie sollte der Richter im Nazi-Regime das Gesetz vervollständigen?

Um eine Lösung zu finden, die quasi-legal war, handelte er nach der Art des Gesetzgebers. Von der festen Grundlage des nationalsozialistischen Programms ausgehend suchte er eine Bestimmung zu finden, die er erlassen hätte, wäre er Gesetzgeber gewesen. Der Angeklagte Frank erklärte in seiner Rede auf dem Juristentag im Jahre 1936:

»Sagt Ihr Euch bei jeder Entscheidung, die Ihr trefft: Wie würde der Führer an meiner Stelle entscheiden? Bei jeder Entscheidung, die Euch obliegt, fragt Euch: Ist diese Entscheidung mit dem nationalsozialistischen Gewissen des deutschen Volkes zu vereinen? Dann werdet Ihr eine eherne feste Gewissensgrundlage haben, die aus der Einheit des nationalsozialistischen Volksganzen, aus der Erkenntnis der Ewigkeit des Führerwillens Adolf Hitlers heraus auch in Euere eigene Entscheidungssphäre die Autorität des Dritten Reiches für alle Zeiten bringt.«

Es würde dem Angeklagten Frank und seinen Mitschuldigen schlecht anstehen, wollten sie denjenigen, die morgen im Namen des Gewissens der Menschheit Recht sprechen werden, vorwerfen, daß es an den erforderlichen geschriebenen Strafsanktionen fehle, dies um so mehr, als abgesehen von verschiedenen internationalen Vereinbarungen, diese Bestimmungen, selbst wenn sie nicht in einem zwischenstaatlichen Strafgesetzbuch kodifiziert würden, doch in den Strafgesetzen aller zivilisierten Länder enthalten sind.

Justice Jackson hat Ihnen die verschiedenen Phasen und Seiten des nationalsozialistischen Komplotts geschildert, in seiner Vorbereitung und seinem Ablauf von den ersten Tagen der Verschwörung Hitlers und seiner Genossen, um an die Macht zu gelangen, an, bis zur Entfesselung zahlloser Verbrechen in einem Europa, das ihnen fast ganz ausgeliefert war.

Sodann hat Ihnen Sir Hartley Shawcross die verschiedenen Verletzungen von Verträgen, Verpflichtungen und Versprechungen aufgezählt, die den vielen Angriffskriegen vorangingen, derer sich Deutschland schuldig gemacht hat.

[420] Heute möchte ich Ihnen zeigen, daß dieses gesamte organisierte und massive Verbrechertum einem, wie ich es nennen will, Verbrechen wider den Geist entsprungen ist, ich möchte sagen, einer Lehre, die alle geistigen, vernunftmäßigen und moralischen Werte verneint, auf denen die Völker seit Jahrtausenden den Fortschritt der Zivilisation aufzubauen versuchten. Dieses Verbrechertum machte es sich zur Aufgabe, die Menschheit in die Barbarei zurückzuwerfen, nicht in das natürliche und ursprüngliche Barbarentum der primitiven Völker, sondern in das dämonische Barbarentum, das sich seiner selbst wohl bewußt ist und für seine Zwecke alle materiellen Mittel verwendet, die die zeitgenössische Wissenschaft in den Dienst des Menschen stellt. Diese Sünde wider den Geist ist der ursprüngliche Fehler des Nationalsozialismus, aus dem alle Verbrechen entspringen.

Diese ungeheuerliche Lehre ist die der Rassentheorie.

Die deutsche Rasse, im Prinzip aus Ariern zusammengesetzt, sei eine natürliche und ursprüngliche Gegebenheit. Deutsche Menschen bestehen nur und können ihr Bestehen nur dadurch rechtfertigen, daß sie der Rasse oder dem Volkstum angehören, der Volksmasse, die alle Deutschen repräsentiert und bindet. Die Rasse ist der Ursprung des deutschen Volkes; aus ihr herauslebt das Volk und entwickelt sich als organischer Körper. Jeder Deutsche muß sich als ein gesundes und kräftiges Glied dieses Körpers betrachten, das im Schoße der Gesamtheit eine bestimmte technische Funktion zu erfüllen hat. Seine Betätigung und seine Brauchbarkeit sind Maß und Rechtfertigung für seine Freiheit. Es handelt sich darum, diesen nationalen Körper »in Form zu bringen« und für den ständigen Kampf vorzubereiten.

Die Ideen und körperlichen Wahrzeichen der Rassentheorie sind integrierende Bestandteile seines politischen Systems. Man nennt dies autoritäre oder diktatorische Biologie.

Der Ausdruck »Blut«, der so oft in den Schriften der Nazi-Ideologen erscheint, bezeichnet diesen Strom des wahren Lebens, diesen roten Saft, der durch das Zirkulationssystem aller Rassen und jeder wirklichen Kultur, genau wie durch den menschlichen Körper, fließt. Arier sein heißt, diesen Strom in sich fließen fühlen, diesen Strom, der die gesamte Nation kräftigt und belebt. Das Blut ist jener Teil des ursprünglichen und unbewußten Lebens, der jedem Individuum die Rassenbegriffe offenbart. Das intellektuelle Leben darf uns niemals, auch wenn es sich höher erhebt, von dem elementaren Grund der geheiligten Gemeinschaft trennen. Wenn der Mensch in sich geht, wird er durch Offenbarung die »Gebote des Blutes« erfassen. Träume, Gebräuche und Mythen können dieser Offenbarung dienlich sein. Mit anderen Worten, der moderne Germane kann und soll in sich selbst den Ruf des alten Germanentums hören und seine Reinheit und jugendliche Einfachheit wiederfinden.

[421] Die Einheit von Leib und Seele des Menschen soll nicht bestritten werden. So sagen die »Nationalsozialistischen Monatshefte« vom September 1938: Nicht mehr gehört der Leib dem Staate und die Seele der Kirche oder Gott, sondern der ganze Mensch gehört mit Leib und Seele dem deutschen Volk und Reich. Der Nationalsozialismus behauptet tatsächlich, daß das moralische Bewußtsein das Ergebnis orthogenetischer Entwicklung ist, die Folge einfachster physiologischer Vorgänge, die das animalische Wesen charakterisieren. Daher ist auch das moralische Bewußtsein der Vererbung unterworfen und als Folge davon der Forderung und den Geboten der Rasse.

Diese Pseudoreligion weist die Mittel der Vernunft und der technischen Tätigkeit keineswegs zurück, unterstellt sie jedoch bedingungslos dem Mythos der Rasse und führt sie auf ihn zurück.

Der einzelne Mensch als solcher gilt nichts und hat nur Bedeutung als Element der Rasse. Diese Folgerung ist logisch, wenn man zugibt, daß nicht nur die physischen und psychologischen Merkmale, sondern auch die Ansichten und Neigungen nicht dem Individuum, sondern der Nation angehören. Wer Ansichten hat, die von der offiziellen Lehre abweichen, ist asozial oder krank. Er ist krank, weil nach der Nazi-Lehre die Nation der Rasse gleichgestellt ist. Die Rassenmerkmale sind aber fest bestimmt. Eine Abweichung von der Form in geistiger oder moralischer Hinsicht stellt eine Mißbildung dar, genau so wie ein Klumpfuß oder eine Hasenscharte.

Die totalitäre Lehre läßt das Individuum nur durch die Rasse und für die Rasse ohne selbständige Handlung und ohne eigenen Zweck bestehen. Nach der totalitären Lehre ist jede Auffassung, jedes Bestreben oder Bedürfnis ausgeschlossen, das nicht mit der Rasse verbunden ist; die totalitäre Lehre schließt bei dem Einzelwesen jeden Gedanken aus, der nicht dem Interesse der Rasse dient.

Der Nationalsozialismus hat das Bestreben, die Person des Bürgers im Staate aufgehen zu lassen und jeden eigenen Wert der menschlichen Person zu verneinen.

Wie man sieht, sind wir damit auf die ältesten Begriffe barbarischer Volksstämme zurückgekommen. Alle Werte, die die Zivilisation im Laufe von Jahrhunderten angesammelt hat, sind verworfen worden, alle Begriffe von überlieferter Moral, Gerechtigkeit und Recht verschwanden vor dem Primat der Rasse, ihrer Instinkte, Forderungen und Interessen. Die menschliche Person, ihre Freiheit, ihre Rechte und ihr Streben besitzen keine eigene Daseinsberechtigung mehr.

Man begreift, wie weit diese Auffassung von der Rasse die Angehörigen der germanischen Volksgemeinschaft von den andern Menschen trennt. Unüberbrückbar ist die Verschiedenheit der [422] Rassen, unüberwindlich die Hierarchie, die die höheren Rassen von den niederen Rassen scheidet. Das Hitler-Regime hat einen wahren Abgrund aufgerissen zwischen der deutschen Nation, dem alleinigen Hüter des Schatzes der Rasse, und den anderen Nationen.

Zwischen der germanischen Volksgemeinschaft und den verschiedenartigen niederen Bastard-Bevölkerungen gibt es kein gemeinsames Maß. Die menschliche Brüderlichkeit wird verworfen, mehr noch als alle anderen überlieferten moralischen Werte.

Wie ist es zu verstehen, daß Deutschland, das im Laufe der Jahrhunderte vom klassischen Altertum und vom Christentum und von den Gedanken der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit befruchtet wurde, Deutschland, das an der gemeinsamen Erbschaft des abendländischen Humanismus teil hatte, dem es so edle und wertvolle Beiträge leistete, wie ist es zu verstehen, daß Deutschland in so erstaunlicher Weise zum primitiven Barbarentum zurückkehrte?

Um das zu verstehen, und um endgültig und für die Zukunft aus Deutschland das Übel auszurotten, dem unsere gesamte Zivilisation beinahe zum Opfer gefallen wäre, muß man sich in Erinnerung rufen, daß der Nationalsozialismus auf weit zurückliegende und tiefe Ursprungsgründe zurückgeht.

Die Mystik der Rassengemeinschaft entstand aus der geistigen und moralischen Krise, die Deutschland im 19. Jahrhundert durchmachte, als es in seinem wirtschaftlichen und sozialen Aufbau durch eine besonders rasche Industrialisierung erneuert wurde. Der Nationalsozialismus ist in Wirklichkeit einer der Höhepunkte der moralischen und geistigen Krise der modernen Menschheit, die durch die Industrialisierung und den technischen Fortschritt aus der Bahn geworfen wurde. Deutschland erfuhr diese Verwandlung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht nur mit ungewöhnlicher Brutalität, sondern auch zu einer Zeit, wo es noch nicht das politische Gleichgewicht und die kulturelle Einheit besaß, die die übrigen Länder Westeuropas erreicht hatten.

Während das innere und geistige Leben immer mehr zurückging, erfaßte eine schreckliche Unsicherheit die Geister, eine Unsicherheit, die vortrefflich mit dem Ausdruck »Ratlosigkeit« bezeichnet wird, ein Ausdruck, den man nicht ins Französische übersetzen kann, der aber ungefähr unserem volkstümlichen Wort »man weiß nicht mehr, welchen Heiligen man anrufen soll«, entspricht. Geistige Grausamkeit des 19. Jahrhunderts, die so viele Deutsche mit tragischer Ausdruckskraft beschrieben haben! Eine gähnende Leere entsteht in den Seelen derer, die durch die Suche nach neuen Werten aus der Bahn geworfen sind.

Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bringen einen vollständigen Relativismus, einen tiefen Skeptizismus, der die [423] Vergänglichkeit der Werte berührt, von denen sich der abendländische Humanismus seit Jahrhunderten nährt. Ein grober Darwinismus breitet sich aus und schlägt und verwirrt die Geister. Die Deutschen sehen in den menschlichen Gemeinschaften und Rassen nur mehr in sich geschlossene Körper, die in ständigem Kampf gegeneinanderstehen.

Im Namen dieses Verfalls verdammt der deutsche Geist den Humanismus. Er sieht in seinen Werten und folgenden Elementen nur »Krankheiten«. Die Ursache hierzu, so glaubt er, sind Mißbrauch des Intellektualismus und der Abstraktion sowie all dessen, was die Leidenschaften des Menschen hemmt, indem er ihnen gemeinsame Normen auferlegt.

Seither wird die klassische Antike nicht mehr vom Gesichtspunkt der geordneten Vernunft oder der strahlenden Schönheit her gesehen. Man sieht in ihr nur mehr Zivilisationen in heftigen Kämpfen und Rivalitäten, die durch ihren sogenannten germanischen Ursprung besonders mit Deutschland verbunden sind.

Konfessionelles Judentum und Christentum werden in allen ihren Formen als Religionen der Ehre und Brüderlichkeit verdammt, weil sie darauf berechnet seien, die Tugenden der brutalen Gewalt im Menschen zu töten.

Man schreit gegen den demokratischen Idealismus der modernen Zeit und gegen alle Internationalen.

Auf ein Volk in diesem Zustand der geistigen Krise und der Verneinung der traditionellen Werte mußte die letzte Philosophie Nietzsches einen beherrschenden Einfluß ausüben. Vom Willen zur Macht ausgehend predigte Nietzsche nicht Unmenschlichkeit, wohl jedoch Übermenschlichkeit. Wenn es kein letztes Ziel auf dieser Welt gibt, dann kann der Mensch, dessen Körper in gleicher Weise Gefühlen und Denken unterworfen ist, die Welt nach seinem Willen formen, indem er sich von einer kämpferischen Biologie leiten läßt. Wenn das höchste Ziel der Menschheit die gleichzeitig materielle und geistige Erfülltheit vom Siege ist, braucht man nur mehr die Auswahl der Starken sicherzustellen, die neue Aristokratie der Herren.

Nach Nietzsche zieht die industrielle Entwicklung notwendigerweise die Herrschaft über die Massen mit sich, das Automatisieren und Formen der Arbeitermassen. Der Staat besteht nur dank einer Elite von starken Persönlichkeiten, die unter Anwendung der Methoden, die Machiavelli so treffend geschildert hat, und die allein den Lebensgesetzen entsprechen, die Menschen gleichzeitig mit Gewalt und List leiten werden; denn die Menschen sind und bleiben böse und verderbt.

Wir sehen den modernen Barbaren erstehen, überlegen durch Intelligenz und zielbewußte Energie, unbeschwert von jeder [424] konventionellen Moral, fähig den Massen Gehorsam und Treue aufzuerlegen, indem er sie an die Würde und Schönheit der Arbeit glauben macht und ihnen ein mittelmäßiges Wohlbefinden verspricht, mit dem sie sich so leicht zufrieden geben. Ein und dieselbe Kraft wird in Erscheinung treten bei den Herren durch die Übereinstimmung zwischen ihren elementaren Leidenschaften mit der Helligkeit ihrer organisatorischen Vernunft, bei den Massen durch das Gleichgewicht zwischen ihren dunklen oder heftigen Instinkten und der überlegten Tätigkeit, die ihnen eine unerbittliche Disziplin vorschreibt.

Wir wollen keineswegs die letzte Philosophie Nietzsches mit der brutalen Einfältigkeit des Nationalsozialismus vermischen. Nietzsche zählt aber auch zu den Ahnen, auf die sich der Nationalsozialismus mit Recht beruft, weil er einerseits der Erste war, der in zusammenhängender Form Kritik übte an den traditionellen Werten des Humanismus und andererseits, weil seine Vision von der Herrschaft über die Massen durch unumschränkte Herren das Nazi-Regime bereits ankündigte. Überdies glaubte Nietzsche an eine herrschende Rasse und billigte diesen Vorrang Deutschland zu, dem er eine junge Seele und unerschöpfliche Kraftquellen zuerkannte.

Der Mythos von der Rassengemeinschaft entspringt den Tiefen der deutschen Seele, die durch die moralischen und geistigen Krisen der modernen Menschheit aus dem Gleichgewicht gestoßen, sich wieder den traditionellen pangermanistischen Lehren zuwandte.

Schon Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, die den Wert des Germanentums übertreiben, stellten eine der Hauptideen des Pangermanismus in das vollste Licht, daß nämlich Deutschland die Welt denke und organisiere, wie sie gedacht und organisiert werden sollte.

Ebenso alt ist die Verteidigung des Krieges. Sie geht insbesondere zurück auf Fichte und Hegel, die behauptet hatten, daß nur der Krieg die Völker klassifiziere und die Gerechtigkeit unter den Nationen herstelle. Nach Hegel wird »die sittliche Gesundheit der Völker« durch den Krieg erhalten, ebenso »wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt«.

Die Theorie vom Lebensraum taucht seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Wohlbekannte geographische und geschichtliche Darlegungen wie die von Ratzel, Arthur Dix und Lamprecht nehmen sie wieder auf und vergleichen die Konflikte unter den Völkern einem wütenden Kampf zwischen den Theorien und den Verwirklichungen des Lebensraums und erklären, daß die ganze Geschichte einer deutschen Vorherrschaft zustrebe.

Das totalitäre Staatensystem beruht auch in Deutschland auf alten Wurzeln. Das Aufgehen des Menschen im Staat war schon ein Wunsch Hegels, der schrieb, daß die Einzelwesen vor der [425] Universalsubstanz, Volks- oder Staatsgeist, verschwinden und daß diese von sich aus die Individuen forme, so wie ihre eigenen Zwecke sie verlangten.

Der Nationalsozialismus erscheint also im heutigen Deutschland in keiner Weise als eine plötzliche Bildung, entstanden aus den Folgen der Niederlage von 1918, noch als die einfache Erfindung einer Gruppe von Männern, die entschlossen wären, die Macht an sich zu reißen.

Der Nationalsozialismus ist das Ergebnis einer langen theoretischen Entwicklung; er erscheint als Ausnützung einer der tiefsten und tragischsten Seiten der deutschen Seele durch eine Gruppe von Männern. Das Verbrechen Hitlers und seiner Gefährten war es gerade, diese Gewalt des schon vor ihm im deutschen Volk latent vorhandenen Barbarentums auszunützen und zu entfesseln, und dies bis zu den letzten Konsequenzen.

Das von Hitler und seinen Genossen eingeführte diktatorische Regime brachte für alle Deutschen das »Soldatentum« mit sich, das heißt eine Art und ein System des Lebens, das völlig verschieden ist von den Lebensformen der bürgerlichen Welt des Westens und der proletarischen Welt des Ostens. Es war eine ständige und vollständige Mobilisierung der Kräfte des einzelnen und der Gesamtheit. Diese vollständige Militarisierung setzte eine absolute Vereinheitlichung aller Gedanken und Handlungen voraus und entsprach der traditionellen preußischen Disziplin.

Die Propaganda vermittelte den Massen Glauben, Begeisterung und Trunkenheit von der gemeinschaftlichen Größe. In der Rassenlehre, in der mystischen Erregung der Gemeinschaft, finden die beifälligen Massen eine künstliche Ablenkung für ihre moralische Furcht und ihre materiellen Sorgen; die gestern noch zerstreuten und verwüsteten Seelen finden sich zu einer gemeinsamen Form vereint.

Die Nazi-Erziehung formte neue Generationen, bei denen nichts mehr übrig ist von den überlieferten Morallehren, die durch den Kult der Rasse und der Gewalt ersetzt worden sind.

Der Mythos der Rasse tendierte dazu, eine wirkliche Nationalreligion zu werden. Viele Schriftsteller träumen davon, an Stelle des Dualismus der religiösen Konfession eine ökumenische Lehre deutscher Prägung zu setzen, die einfach die Religion der deutschen Hasse als solche wäre.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts wendet sich Deutschland freiwillig vom Christentum und von der Zivilisation ab und kehrt zum Barbarentum des primitiven Germaniens zurück; es bricht absichtlich mit allen universalistischen Auffassungen der modernen Nationen. Die nationalsozialistische Lehre, die die Unmenschlichkeit [426] zum Prinzip erhebt, stellt in der Tat eine Lehre des Verfalls der modernen Gesellschaft dar.

Diese Lehre führte Deutschland notwendigerweise in einen Angriffskrieg und zu der systematischen Begehung von Verbrechen bei der Führung des Krieges.

Das absolute Primat der deutschen Rasse, die Verneinung jeder internationalen Regelung, der Kult der Gewalt, die Ueberspitzung des Mythos der Gemeinschaft, ließen den Deutschen die Zuflucht zum Kriege im Interesse der deutschen Rasse als logisch und berechtigt erscheinen. Die deutsche Rasse hat das absolute Recht, sich auf Kosten anderer Nationen, die als dekadent betrachtet werden, zu vergrößern. Deutschland ging daran, in der Mitte des 20. Jahrhunderts die großen Invasionen der Barbaren zu wiederholen.

Ganz natürlich und logisch führt Deutschland seinen Krieg auch in barbarischer Weise, nicht nur, weil die nationalsozialistische Ethik bei der Wahl der Mittel gleichgültig ist, sondern auch, weil der Krieg in seinen Mitteln wie in seinem Zweck total sein muß.

Ob es sich um Verbrechen gegen den Frieden oder um Kriegsverbrechen handelt, finden wir uns nicht einem zufälligen, gelegentlichen Verbrechertum gegenüber, das die Ereignisse, wenn auch nicht rechtfertigen, so doch erklären könnte, wir finden uns vielmehr vor ein systematisches Verbrechertum gestellt, das die direkte und zwangsläufige Folge einer ungeheuerlichen Lehre ist, die von den Führern Nazi-Deutschlands wohlüberlegt gebraucht wurde.

Aus der nationalsozialistischen Lehre entspringt auch die sofortige Vorbereitung des Verbrechens gegen den Frieden. Bereits seit Februar 1920, im ersten Programm der nationalsozialistischen Partei, hatte Hitler die Grundlagen für den Plan der künftigen Außenpolitik Deutschlands entworfen. 1924 im Gefängnis in Landsberg bei der Abfassung seines Buches »Mein Kampf« entwickelte er seine Ansichten ausführlich.

»Mein Kampf« zufolge sollte die Außenpolitik des Reiches als erstes Ziel Deutschland seine »Unabhängigkeit und seine effektive Souveränität« wieder verschaffen. Dies war eine klare Anspielung auf die Klauseln des Versailler Vertrags über die Abrüstung und die Entmilitarisierung des Rheinlandes. Dann sollte Deutschland danach streben, die 1919 »verlorenen Gebiete« wieder zu erobern, womit die Frage Elsaß-Lothringen fünfzehn Jahre vor Beginn des zweiten Weltkrieges deutlich gestellt war. Die deutsche Außenpolitik sollte schließlich trachten, die deutschen Gebiete in Europa zu vergrößern, da die Grenzen von 1914 »unzureichend« waren, sei es unerläßlich, sie zu erweitern, indem man »alle Deutschen« dem Reich eingliederte, angefangen mit den Deutschen Österreichs. Nach der Wiedererrichtung von Großdeutschland sollte der Nationalsozialismus [427] »die Existenz der durch den Staat zusammengefaßten Rasse auf diesem Planeten sicherstellen, indem er zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Größe und Güte des Grund und Bodens andererseits ein gesundes Verhältnis schafft«. Als »gesundes Verhältnis« durfte dabei nur jener Zustand angesehen werden, der die Ernährung eines Volkes auf eigenem Grund und Boden sichert. »Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichert einem Volk die Freiheit des Daseins.« Aber dies ist nur eine Etappe. »Wenn ein Volk in der Größe seines Grund und Bodens seine Ernährung an sich gesichert hat, so ist es dennoch notwendig, auch noch die Sicherstellung des vorhandenen Bodens selbst zu bedenken«, denn die machtpolitische Stärke eines Staates wird »nicht wenig durch militär-geographische Gesichtspunkte bestimmt.«

Diese Ziele, fügt Hitler hinzu, können nicht ohne Krieg erreicht werden. Es wäre unmöglich, die Wiederherstellung der Grenzen von 1914 ohne Blutvergießen durchzusetzen. Noch unmöglicher wäre es, den nötigen Lebensraum zu erwerben, wenn man sich nicht auf einen »Waffengang« vorbereite.

»Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm Untertanen Randstaaten denken.... Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem: Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten.« Aber vorher ist es nötig, so erklärte Hitler, Frankreichs Hegemoniebe strebungen auszurotten und »mit diesem Todfeind eine endgültige Auseinandersetzung zu haben«. »Die Vernichtung Frankreichs wird es Deutschland später gestatten, Ostgebiete zu erwerben.« Die Abrechnung mit dem Westen sei nur ein Vorspiel. Man dürfe sie nur als eine Rückendeckung für die Ausdehnung unseres Gebietes in Europa betrachten.

Überdies müsse Deutschland für die Zukunft in seinen Nachbargebieten das Bestehen einer »Militärmacht« verhindern, die in Wettbewerb mit Deutschland treten könnte und müßte sich »mit allen Mitteln« der Entstehung eines solchen Staates widersetzen, der imstande wäre, eine solche Macht zu erlangen beziehungsweise, wenn ein solcher bereits entstanden sei, ihn wieder zu zerschlagen; dies sei für Deutschland nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.

»Duldet niemals«, empfiehlt Hitler seinen Volksgenossen an einer Stelle, die er als sein politisches Testament bezeichnet, »das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa. Seht in jeglichem Versuch, an den deutschen Grenzen eine zweite Militärmacht zu organisieren, und sei es auch nur in Form der Bildung eines zur Militärmacht fähigen Staates, einen Angriff gegen Deutschland...«

Krieg zur Wiedereroberung der im Jahre 1919 verlorenen Gebiete, Krieg zur Vernichtung der Macht Frankreichs, Krieg, um in Osteuropa Lebensraum zu gewinnen, Krieg schließlich gegen jeden [428] Staat, der ein Gegengewicht zur Hegemonie des Reiches bildet oder auch nur bilden könnte, das ist der Plan von »Mein Kampf«.

So weicht der Nationalsozialismus vom Beginn seines Bestehens an vor keiner noch so sicheren Kriegsgefahr zurück, die die Anwendung seiner Lehren mit sich bringt.

Und tatsächlich haben sich Hitler und seine Gefährten von der Machtergreifung an der militärischen und diplomatischen Vorbereitung der Angriffskriege, zu denen sie entschlossen waren, gewidmet.

Gewiß hat Deutschland auch schon bevor der Nationalsozialismus zur Macht kam, den Willen gezeigt, seine militärischen Streitkräfte wiederaufzubauen, insbesondere im Jahre 1932, als Deutschland bei der Abrüstungskonferenz die »Gleichberechtigung« hinsichtlich der Rüstungen zurückforderte und die Bestimmungen des Versailler Vertrags über die Abrüstung bereits im geheimen verletzt hatte. Nachdem Hitler zur Macht gekommen war, wurde die deutsche Wiederaufrüstung jedoch in einem ganz anderen Maßstab betrieben.

Am 14. Oktober 1933 verläßt das Reich die Abrüstungskonferenz und gibt fünf Tage später bekannt, daß es sich entschlossen habe, aus dem Völkerbund auszutreten, unter dem Vorwand, daß ihm die Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage verweigert worden sei. Dies, obwohl Frankreich sich bereit erklärt hatte, die Gleichberechtigung zu akzeptieren, wenn Deutschland zuvor einer internationalen Kontrolle zustimmen würde, die den wirklichen Stand der bestehenden Rüstungen festzustellen hätte. Deutschland wollte diese Bedingung offensichtlich nicht annehmen, weil eine internationale Kontrolle den Umfang der vom Reich in Verletzung der Verträge und heimlich durchgeführten Aufrüstung aufgedeckt hätte. Übrigens hat Hitler in einer Kabinettssitzung am 13. Oktober 1933, deren Niederschrift aufgefunden wurde, erklärt, daß er die Abrüstungskonferenz »torpedieren« werde. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Versuche zur Wiederaufnahme der Besprechungen, die nach dem Austritt Deutschlands geführt worden waren, scheiterten.

Durch die achtzehn Monate später gefaßte Entscheidung, die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen und sogleich eine Armee von sechsunddreißig Divisionen Friedensstärke aufzustellen, sowie eine Luftwaffe aufzubauen, verletzte die Regierung Hitlers die Verpflichtungen, die Deutschland im Vertrag von Versailles auf sich genommen hatte. Trotzdem haben Frankreich und Großbritannien am 3. Februar 1935 dem Reiche angeboten, seinen Platz im Völkerbund wieder einzunehmen und ein allgemeines Abrüstungs abkommen vorzubereiten, das die militärischen Bestimmungen des Vertrags ersetzen sollte. In dem Augenblick, da Hitler im Begriff stand, [429] durch freie Verhandlungen die Aufhebung der einseitigen Benachteiligung zu verlangen, die, wie er sagte, vom Versailler Vertrag Deutschland auferlegt wurde, zog er es vor, sich jeder freiwilligen Beschränkung und jeder Rüstungskontrolle durch formelle Vertragsverletzung zu entziehen.

Als die Deutsche Regierung am 7. März 1936 beschloß, den Vertrag von Locarno zu kündigen und in Verletzung der Artikel 42 und 43 des Vertrags von Versailles die entmilitarisierte Rheinlandzone sofort wieder zu besetzen, gab sie vor, daß dies eine Erwiderung auf den Abschluß des Paktes sei, der am 2. Mai 1935 zwischen Frankreich und der USSR unterzeichnet und am 27. Februar 1936 von der französischen Kammer ratifiziert wurde. Dieser Pakt, so behauptete man, widerspreche dem Vertrag von Locarno. Dies war nichts als ein Vorwand, der von niemandem ernst genommen wurde. Die Nazi-Führer wollten so schnell wie möglich mit dem Bau der Siegfriedlinie in der entmilitarisierten Rheinlandzone beginnen, um eine eventuelle militärische Intervention Frankreichs zur Unterstützung seiner Verbündeten im Osten unwirksam zu machen. Die Entscheidung vom 7. März 1936 war das Vorspiel zu den Angriffen gegen Österreich, die Tschechoslowakei und Polen.

Im Innern wurde die Aufrüstung mit Hilfe einer Reihe wirtschaftlicher und finanzieller Maßnahmen durchgeführt, die alle Seiten des nationalen Lebens berührten. Die gesamte Wirtschaft wird im Sinne der Vorbereitung zum Kriege geleitet. Die Regierung erklärt den Vorrang der Rüstungsproduktion vor allen übrigen Produktionszweigen. Die Politik bestimmt die Wirtschaft. Es ist nötig, erklärte der Führer, daß die Bevölkerung sich eine Zeitlang mit der Rationierung von Butter, Fett oder Fleisch abfindet, damit sich die Aufrüstung im gewünschten Tempo durchführen läßt. Das deutsche Volk protestierte gegen dieses Schlagwort nicht. Der Staat interveniert, um die Herstellung von Ersatzgütern zu steigern, die die fehlenden Rohstoffe ersetzen und es dem Reich ermöglichen sollen, im Falle eines Konflikts die für die Armee und Luftwaffe nötige Produktion aufrechtzuerhalten, selbst wenn die Einfuhr schwierig oder unmöglich werden sollte. Im September 1936 veranlaßt der Angeklagte Göring die Einrichtung des Vierjahresplans und leitet die Anwendung des Planes, der Deutschland unter ein Kriegswirtschaftsregime stellt. Die Kosten dieser Aufrüstung werden durch den neuen Vorgang der Ausgabe von Arbeitswechseln gesichert. Während der dreieinhalb Jahre, die der Angeklagte Schacht an der Spitze des Reichswirtschaftsministe riums stand, führte er diesen Finanzmechanismus ein und spielte daher eine hervorragende Rolle bei der militärischen Vorbereitung, wie er dies selbst in einer Rede nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium im November 1938 vor dem Wirtschaftsrat der Deutschen Akademie hervorgehoben hat.

[430] Auf diese Weise gelang es Deutschland, in drei Jahren wieder eine große Armee aufzustellen und in technischer Hinsicht eine Organisation ins Leben zu rufen, die vollständig auf den künftigen Krieg ausgerichtet war. Als am 5. November 1937 Hitler seinen Mitarbeitern diesen innenpolitischen Plan bekanntgab, stellte er fest, daß die Aufrüstung so gut wie vollendet sei.

VORSITZENDER: Würde eine Pause jetzt passend sein?


[Pause von zehn Minuten.]


M. DE MENTHON: Während die Hitler-Regierung dem Reiche die wirtschaftlichen und finanziellen Mittel für einen Angriffskrieg gab, führte sie gleichzeitig die diplomatische Vorbereitung für diesen Krieg, indem sie sich bemühte, während der Zeitspanne, die für die Aufrüstung unbedingt nötig war, die bedrohten Völker zu beruhigen und gleichzeitig ihre möglichen Gegner voneinander zu trennen.

In einer Rede vom 17. Mai 1933 verlangte Hitler die Revision des Vertrags von Versailles, stellte jedoch fest, daß er nicht daran denke, sie mit Gewalt durchzusetzen. Er erklärte, die berechtigten Ansprüche aller Völker anzuerkennen, und versicherte, daß er nicht die Absicht habe, diejenigen zu germanisieren, die keine Deutschen seien. Er wisse die Rechte der anderen Völker zu respektieren.

Der Abschluß des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes vom 26. Januar 1934, der eine Zeitlang die Warschauer Regierung beruhigen und sie in einem Gefühl falscher Sicherheit halten sollte, ist vor allem dazu bestimmt, der französischen Politik ein Aktionsmittel aus der Hand zu nehmen. In einem Werk, das unter dem Titel »Deutschlands Außenpolitik, 1933-39« im Jahre 1939 veröffentlicht wurde, schrieb der halboffizielle Verfasser, Professor von Freytagh-Loringhoven, es sei das wesentliche Ziel des Paktes gewesen, das Spiel des französisch-polnischen Bündnisses unwirksam zu machen und das ganze französische System zu Boden zu werfen.

Die Verhandlungen, die Deutschland am 26. Mai 1935 mit England zehn Tage nach der Kündigung der militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrags aufnahm, Verhandlungen, die zum Flottenabkommen vom 18. Juli 1935 führen sollten, zielen auf Beruhigung der öffentlichen Meinung in England; sie sollten zeigen, daß das Reich, wenn es auch wieder eine starke Militärmacht werden wollte, nicht daran dachte, wieder eine große Flotte aufzubauen.

Am Tage nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935, die über die Rückkehr des Saargebietes zum Reich entschied, verkündete Hitler feierlich, daß er an Frankreich keine territorialen Forderungen mehr habe. Die gleiche Taktik wendet er gegenüber Frankreich bis Ende 1938 an. Als Ribbentrop am 6. Dezember 1938 nach Paris kam, um die französisch-deutsche Erklärung zu unterschreiben, die die [431] Grenzen zwischen den beiden Ländern als »endgültig« anerkannte, und sagte, daß die beiden Regierungen entschlossen seien, »vorbehaltlich ihrer besonderen Beziehungen zu dritten Mächten... in eine Beratung einzutreten, wenn die künftige Entwicklung von beide Länder angehenden Fragen zu internationalen Schwierigkeiten führen sollte«, gibt er noch, wie der Französische Botschafter in Berlin berichtet, der Hoffnung Ausdruck, »den Frieden im Westen zu stabilisieren, um im Osten freie Hand zu haben«.

Hat Hitler nicht auch Österreich und der Tschechoslowakei die gleichen Versprechungen gegeben? Am 11. Juli 1936 unterzeichnet er ein Abkommen mit der Wiener Regierung, in dem er die Unabhängigkeit Österreichs anerkennt, die Unabhängigkeit, die er zwanzig Monate später zerstören wird.

Im Abkommen von München verspricht er am 29. September 1938 die Unantastbarkeit des tschechischen Gebietes für die Zukunft zu garantieren, des Gebietes, in das er keine sechs Monate später einfällt.

Inzwischen hatte Hitler in einer Geheimkonferenz in der Reichskanzlei am 5. November 1937 seinen Mitarbeitern mitgeteilt, daß die Stunde gekommen sei, das Problem des für Deutschland notwendigen Lebensraums mit Gewalt zu lösen. Die diplomatische Lage sei für Deutschland günstig; es habe die Rüstungsüberlegenheit erworben, laufe aber Gefahr, sie nur vorübergehend zu behalten. Man dürfe nicht länger warten sondern müsse handeln.

Alsdann folgten die verschiedenen Aggressionen, über die dem Gerichtshof bereits ein Bericht vorgetragen worden ist. Dieser Bericht hat des weiteren gezeigt, daß die verschiedenen Aggressionen internationaler Verträge und der Grundsätze des Völkerrechts geschehen sind. Im übrigen hat die deutsche Propaganda dies damals nicht in Abrede gestellt. Sie hat sich darauf beschränkt, zu sagen, daß diese Verträge und Grundsätze »mit der Zeit jeden realen Wert verloren hätten«; mit, anderen Worten, sie hat ganz einfach die Bedeutung des gegebenen Wortes geleugnet und die Grundlagen für hinfällig erklärt, auf denen das Völkerrecht beruht. Diese Begründung stimmt voll kommen mit der nationalsozialistischen Lehre überein, die, wie wir gesehen haben, kein Völkerrecht anerkennt und alle Mittel, die dem Interesse der deutschen Rasse dienen, für gerechtfertigt erklärt.

Es ist jedoch keineswegs nutzlos, die verschiedenen Argumente zu untersuchen, deren sich die deutsche Propaganda bediente, um die seit langem geplanten Aggressionen zu rechtfertigen.

Deutschland hat sich zunächst auf seine vitalen Interessen berufen. Ist es nicht entschuldbar, die Bestimmungen des Völkerrechts außer acht zu lassen, wenn es sich darum handelt, für die Existenz des eigenen Volkes zu kämpfen? Deutschland brauchte eine[432] wirtschaftliche Ausdehnung. Es hatte das Recht und die Pflicht, die deutschen Minderheiten im Ausland zu beschützen. Es war verpflichtet, die Einkreisung abzuwehren, mit der die Westmächte das Reich bedrohten.

Die wirtschaftliche Ausdehnung war einer der Gründe, auf die sich Hitler sogar seinen direkten Mitarbeitern gegenüber bei den 1937 und 1939 in der Reichskanzlei abgehaltenen geheimen Sitzungen berief. Wirtschaftliche Bedürfnisse, so sagte er, liegen der Expansionspolitik Italiens und Japans zugrunde; sie führen auch Deutschland zu einer solchen Politik. Aber hätte Hitler-Deutschland nicht versuchen können, diese Bedürfnisse auf friedlichem Wege zu befriedigen? Hat es daran gedacht, durch Wirtschaftsverhandlungen neue Möglichkeiten für seinen Außenhandel zu erlangen? Das waren nicht die Lösungen, bei denen der Führer sich aufgehalten hätte. Zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme Deutschlands sah er nur die Erwerbung landwirtschaftlicher Gebiete, zweifellos, weil er unfähig war, diese Probleme anders als unter dem Gesichtswinkel der Kriegswirtschaft zu sehen. Wenn er die Notwendigkeit betonte, diesen »landwirtschaftlichen Raum«, wie er es nannte, zu gewinnen, so geschah das, weil er darin das Mittel sah, für die deutsche Bevölkerung die Nahrungsmittelquellen sicherzustellen, die sie vor den Folgen einer Blockade schützen würden.

Die Pflicht, die »deutschen Minderheiten im Ausland« zu beschützen, war von 1937 bis 1939 das Lieblingsthema, dessen sich die deutsche Diplomatie bediente. Es konnte offensichtlich nicht als Entschuldigung für die Zerstörung des Tschechoslowakischen Staates und der Errichtung des »Deutschen Protektorats Böhmen und Mähren« dienen. Aber das Schicksal der »Sudetendeutschen« und der »Danzig-Deutschen« bildete das Leitmotiv der deutschen Presse, der Reden des Führers und der Propagandaveröffentlichungen Ribbentrops. Ist es nötig, daran zu erinnern, daß Hitler in der geheimen Sitzung vom 5. November 1937, als er vor seinen Mitarbeitern den Plan für die Aktion gegen den Tschechoslowakischen Staat entwickelte, kein Wort über die »Sudetendeutschen« fallen läßt, und daß er in der Sitzung vom 23. Mai 1939 erklärt, Danzig sei nicht »das Objekt« des deutsch-polnischen Konflikts? Das Recht der Nationalitäten war ihm nur ein Propagandamittel, dazu bestimmt, die wirkliche Absicht, nämlich die Eroberung des Lebensraums, zu tarnen.

Die von den Westmächten gegen das Reich gerichtete Einkreisung ist das Argument, dessen sich Hitler bediente, als er am 28. April 1939 das 1935 mit Großbritannien abgeschlossene Flottenabkommen kündigte. Die These der Einkreisung nahm in dem Deutschen Weißbuch über den Ursprung des Krieges von 1939 einen [433] breiten Raum ein. Aber Deutschland hatte im Mai 1939 ein Bündnis mit Italien geschlossen, und kann man von einer Einkreisung durch die Alliierten sprechen angesichts des Abschlusses des deutsch-russischen Paktes vom 23. August 1939? Darf man vergessen, daß die diplomatischen Bemühungen Frankreichs und Großbritanniens gegenüber Griechenland, Rumänien, der Türkei und Polen in der Zeit nach der Zerstörung des Tschechoslowakischen Staates und zu Beginn des deutsch-polnischen diplomatischen Konflikts liegen?

Hat nicht der englische Premierminister am 23. März 1939 im Unterhaus erklärt, daß die englische Politik sich lediglich zwei Ziele gesetzt habe: Deutschland daran zu hindern, Europa zu beherrschen und »sich einem Vorgehen zu widersetzen, das durch Gewaltandrohung die schwächeren Staaten zwänge, ihre Unabhängigkeit aufzugeben«? Das, was Hitler-Deutschland »Einkreisung« nannte, waren nur einfache Schranken, die man sich erst spät aufzurichten bemühte, um maßlose Bestrebungen einzudämmen.

Aber die deutsche Propaganda ist auch hier nicht stehen geblieben. Haben wir nicht gehört, wie einer ihrer Wortführer die passive Haltung Frankreichs und Großbritanniens im September 1938 mit dem Widerstand verglich, den diese Länder 1939 der Hitlerschen Politik entgegensetzten, und daraus den Schluß zog, daß der Frieden hätte aufrechterhalten werden können, wenn die Westmächte auf Polen Druck ausgeübt hätten, um es zur Annahme der deutschen Forderungen zu bewegen, wie sie es im Jahre vorher der Tschechoslowakei gegenüber getan hatten? Eine merkwürdige Begründung, die besagt, daß Deutschland bereit gewesen wäre, vom Krieg abzustehen, wenn alle anderen Mächte sich seinem Willen gebeugt hätten. Daß Frankreich und Großbritannien lange Zeit den Völkerrechtsverletzungen Deutschlands nichts als platonische Proteste entgegensetzten, bildet dies eine Entschuldigung für die Urheber dieser Verletzungen? Durch Hitlers Beteuerungen hinters Licht geführt, konnte die öffentliche Meinung in Frankreich und Großbritannien glauben, daß die Pläne der Nazis sich nur die Regelung des Schicksals der deutschen Minderheiten zum Ziel gesetzt hatten; konnte sie hoffen, daß die Bestrebungen Deutschlands Grenzen hätten. In Unkenntnis der geheimen deutschen Pläne, für die wir heute die Beweise besitzen, haben Frankreich und Großbritannien Deutschland das Rheinland wieder besetzen und befestigen lassen, während nach der eigenen Aussage Ribbentrops ein militärisches Eingreifen der Westmächte im März 1936 das Reich in eine kritische Lage versetzt hätte. Die Westmächte haben die Aggressionen vom März und September 1938 geschehen lassen; es bedurfte der Zerstörung des Tschechoslowakischen Staates, um die Tragweite der deutschen Pläne klar vor aller Augen zu stellen. Wie kann man sich darüber wundern, daß sie daraufhin ihre Haltung änderten und beschlossen, den deutschen Plänen Widerstand [434] entgegenzusetzen? Wie kann man noch vorgeben, daß im August 1939 der Frieden durch Zugeständnisse hätte »erkauft« werden können, da doch die geheimen deutschen Dokumente beweisen, daß Hitler seit Mai 1939 entschlossen war, Polen anzugreifen, daß er »schwer enttäuscht« gewesen wäre, wenn Polen nachgegeben hätte, und daß er einen allgemeinen Krieg wünschte?

Tatsächlich war der Krieg durch die Machtergreifung seitens der Nationalsozialisten unvermeidlich; ihre Lehre führte notwendig darauf hin.

Wie Sir Hartley Shawcross dem Hohen Gerichtshof mit viel Überzeugungskraft vorgetragen hat, ist der Angriffskrieg eindeutig eine Verletzung des Völkerrechts und insbesondere des allgemeinen Vertrags über den Verzicht auf den Krieg vom 27. August 1928, bekannt unter dem Namen Pakt von Paris oder Briand-Kellogg-Pakt, den auch Deutschland unterzeichnet hat. Dieser Pakt bildet seither einen Teil des Völkerrechts.

Ich gestatte mir, Artikel I des Paktes zu verlesen:

»Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten.«

Der Angriffskrieg hat demnach seit 1928 aufgehört, erlaubt zu sein.

Sir Hartley Shawcross hat Ihnen in beredten Worten dargelegt, daß der Pakt von Paris ein neues Recht der zivilisierten Nationen, die Grundlage für eine bessere europäische Ordnung bilden sollte. Der Pakt von Paris, der das grundlegende Statut des Rechtes zum Kriege bleibt, bedeutet in der Tat einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Haager Konventionen hatten das Kriegsrecht geregelt. Sie hatten die Verpflichtung aufgestellt, vor Beginn jedes Konflikts eine Vermittlung anzurufen. Sie hatten sehr deutliche Unterscheidungen gesetzt zwischen Kriegshandlungen, die internationales Recht oder Gewohnheit gestatten, und solche, deren Ausführungen untersagt werden.

Die Haager Konventionen haben jedoch das Prinzip des Krieges als solchen nicht berührt, so daß er außerhalb des Gebietes des Rechtes blieb. Der Krieg ist hingegen Gegenstand des Paktes von Paris, der das Recht zum Krieg regelt. Seit 1928 ist das internationale Recht über den Krieg aus seinem überkommenen Rahmen herausgetreten: es hat den Empirismus der Haager Konventionen überholt, um die rechtliche Grundlage für die Verwendung der Gewalt zu bestimmen. Jeder Angriffskrieg ist rechtswidrig und die Männer, die die Verantwortung für seine Entfesselung tragen, stellen sich freiwillig außerhalb des Gesetzes.

[435] Was kann das sonst bedeuten, als daß alle Verbrechen, die als Folge eines solchen Angriffs und zur Fortführung eines so begonnenen Kampfes begangen wurden, aufhören, den rechtlichen Charakter von Kriegshandlungen zu besitzen.

Der Ausspruch Pascals ist bekannt: »Warum tötest Du mich? Warum bleibst Du nicht auf der anderen Seite des Wassers? Mein Freund, wenn Du auf dieser Seite bleibst, so würde ich ein Mörder, und es wäre ungerecht, Dich auf solche Weise zu töten. Da Du aber auf der anderen Seite bleibst, bin ich ein ehrlicher Mann, und das ist richtig.«

Die Handlungen, die bei der Führung eines Krieges begangen werden, sind Angriffe auf Personen und Güter, die an sich in allen Gesetzgebungen verboten und mit Strafe bedroht sind. Der Kriegszustand kann sie nur dann erlaubt machen, wenn der Krieg selbst erlaubt war. Da dies seit dem Briand-Kellogg-Pakt nicht mehr der Fall ist, werden solche Handlungen ganz einfach zu Verbrechen des ordentlichen Rechtes. Wie Justice Jackson Ihnen mit unwiderlegbarer Logik auseinandergesetzt hat, stellt jede Verwendung von Krieg eine Verwendung von Mitteln dar, die selbst verbrecherisch sind.

Das ist der Geist des Briand-Kellogg-Paktes. Er wollte den Unterzeichnerstaaten das Recht entziehen, in ihrem nationalen Interesse eine Reihe von Handlungen einzuleiten, die gegen physische Personen oder gegen Güter von Angehörigen fremder Mächte gerichtet sind. Da damit eine formelle Bindung bestand, haben diejenigen, die sie mißachteten, Handlungen befohlen, die vom gemeinsamen Recht aller zivilisierten Staaten verboten sind, ohne daß eine besondere Regel des Völkerrechts wirksam wird, wie jene, die vorher bestand und den sogenannten Kriegshandlungen den strafrechtlichen Charakter nahm.

Ein Krieg, der unter Verletzung des Völkerrechts begonnen wird, hat tatsächlich nicht mehr den rechtlichen Charakter eines Krieges. Er ist in Wirklichkeit ein Räuberunternehmen, ein Unternehmen systematischen Verbrechertums.

Dieser Krieg, oder vielmehr dieser angebliche Krieg, ist nicht nur eine Verletzung des Völkerrechts, sondern ein Verbrechen, da er die Auslösung dieses Unternehmens systematischen Verbrechertums bedeutet.

Da sie erlaubterweise nicht zu Gewalt greifen durften, müssen diejenigen, die dies befahlen und dies als Organe des vertraglich gebundenen Staates taten, als die eigentlichen Urheber der vielfachen Angriffe auf das Leben und das Eigentum angesehen werden, die nach allen Strafgesetzen schwer bestraft werden.

Man kann wohlverstandenerweise aus dem Vorgesagten nicht die individuelle Verantwortlichkeit aller jener ableiten, die [436] Gewalttaten begingen. Es ist klar, daß sich in einem modern organisierten Staate die Verantwortlichkeit auf diejenigen beschränkt, die unmittelbar für den Staat handeln, da allein sie imstande sind, die Rechtmäßigkeit der gegebenen Befehle zu beurteilen. Sie allein können und sollen verfolgt werden. Das Völkerrecht ist stark genug, um durch das Prestige der Staatensouveränität nicht zur Unwirksamkeit verurteilt zu werden. Keinesfalls kann man den Standpunkt vertreten, daß Verbrechen gegen das Völkerrecht nicht geahndet werden sollen, weil einerseits der Staat ein Wesen ist, dem man keine verbrecherische Absicht zubilligen und keine Strafe auferlegen kann, und andererseits, weil es nicht möglich ist, das Individuum für Staatshandlungen nicht zur Verantwortung zu ziehen.

Es kann auch nicht eingewendet werden, daß trotz der Unerlaubtheit des Prinzips der Gewaltanwendung, wie es von Deutschland gebraucht wurde, die anderen Staaten das Bestehen eines Krieges zugegeben und von der Anwendung des Völkerrechts im Kriege gesprochen hätten. Es muß in der Tat bemerkt werden, daß selbst im Falle eines Bürgerkrieges die Parteien häufig diese Regeln angewandt haben, die die Anwendung von Gewalt in gewissem Umfang ordnen. Dies bedeutet keinesfalls eine Zustimmung zum Prinzip der Gewaltanwendung selbst.

Als übrigens Großbritannien und Frankreich dem Völkerbund anzeigten, daß zwischen ihnen und Deutschland, beginnend mit dem 3. September 1939, der Kriegszustand bestehe, erklärten sie auch, daß Deutschland mit seiner Aggression gegen Polen nicht nur die gegenüber Polen, sondern auch die den anderen Signatarmächten des Paktes von Paris gegenüber eingegangenen Verpflichtungen verletzt habe.

Von diesem Zeitpunkt an stand es in gewisser Weise für Großbritannien und Frankreich fest, daß Deutschland einen verbotenen Krieg begonnen habe.

Krieg setzt Vorbereitung und Entschluß voraus; es wäre zwecklos, ihn zu verbieten, wäre man nicht gewillt, über diejenigen Strafen zu verhängen, die absichtlich zum Kriege schreiten, obgleich sie einen anderen Weg einschlagen könnten. Man muß sie als unmittelbare Anstifter von Taten ansehen, die als Verbrechen qualifiziert sind.

Aus alledem geht, wie uns scheint, hervor, daß das Statut vom 8. August nur eine Rechtsprechung eingesetzt hat zur Aburteilung von Taten, die bereits internationale Verbrechen waren, nicht nur vor dem Gewissen der Menschheit, sondern auch für das Völkerrecht, bevor dieses Gericht bestellt wurde.

[437] Wenn man nicht bestreitet, daß wirklich ein Verbrechen vorliegt, kann man dann die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs zur Aburteilung des Verbrechens bestreiten?

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die durch den Pakt von 1928 gebundenen Staaten eine internationale Verantwortlichkeit gegenüber den Mitsignataren übernommen haben, wenn sie entgegen den von ihnen übernommenen Verbindlichkeiten handelten.

Die internationale Verantwortlichkeit trifft gewöhnlich die staatliche Gesamtheit als solche, ohne daß grundsätzlich die Personen hervortreten, die die Urheber der unerlaubten Handlung sind. Im Rahmen des Staates, auf den eine internationale Verantwortlichkeit fallen kann, liegt es im allgemeinen, das Verhalten der Männer zu werten, die Urheber dieser Völkerrechtsverletzung sind. Sie werden sich je nach Lage des Falles politisch oder strafrechtlich vor den Parlamenten oder den zuständigen Gerichten zu verantworten haben.

Dies erklärt sich daraus, daß normalerweise der staatliche Rahmen die Staatsangehörigen in sich schließt; die staatliche Ordnung übernimmt die Rechtsausübung auf einem gegebenen Gebiet und hinsichtlich der Personen, die sich dort befinden; das Versagen des Staates bei dieser wesentlichen Aufgabe zieht die Reaktion, also den Protest dritter Mächte nach sich, insbesondere wenn eigene Staatsangehörige interessiert sind.

Gegenwärtig gibt es jedoch keinen Deutschen Staat. Seit der Kapitulationserklärung vom 5. Mai 1945 bis zu dem Tage, an dem durch Übereinkommen der vier Besatzungsmächte eine Regierung eingesetzt sein wird, gibt es kein Organ, das den Deutschen Staat vertritt. Unter diesen Umständen kann man nicht annehmen, daß eine deutsche staatliche Ordnung besteht, die fähig wäre, die Folgerungen aus der Anerkennung der Verantwortlichkeit des Reiches für die Verletzung des Briand-Kellogg-Paktes hinsichtlich der Personen zu ziehen, die in ihrer Eigenschaft als Organe des Reiches tatsächlich die Urheber dieser Verletzung sind.

Heute wird die höchste Gewalt über das gesamte deutsche Reichsgebiet und die Gesamtheit der deutschen Bevölkerung durch die vier Mächte ausgeübt, die gemeinschaftlich handeln. Es muß daher zugegeben werden, daß die Staaten, welche die höchste Gewalt über Gebiet und Bevölkerung Deutschlands ausüben, diese Schuld vor Gericht bringen können. Anders würde die Erklärung, daß Deutschland eine von ihm in aller Form übernommene Verpflichtung verletzt hat, nichts bedeuten.

Im übrigen handelt es sich um die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine Reihe von Handlungen, die als Verbrechen gegen Staatsangehörige der Vereinten Nationen qualifiziert werden. Diese Handlungen, die rechtlich keine Kriegshandlungen mehr sind,[438] aber als solche begangen wurden auf Anstiftung derjenigen, die die Verantwortung für die Entfesselung des sogenannten Krieges tragen, die Angriffe gegen Leben und Eigentum von Staatsangehörigen der Vereinten Nationen gerichtet haben, diese Handlungen können auf Grund des Territorialitätsprinzips, wie wir bereits dargelegt haben, vor einem Gericht zur Aburteilung kommen, das von den Vereinten Nationen zu diesem Zweck bestellt wurde, ebenso wie die Kriegsverbrechen im engeren Sinne gegenwärtig den Gerichten jener Länder zugewiesen werden, deren Staatsangehörige die Opfer waren.

Die im Laufe des Krieges von den Nazis begangenen Verbrechen, ebenso wie der Angriffskrieg als solcher, sind, wie Justice Jackson dargelegt hat, klare Beweise für einen gemeinsamen und methodisch ausgeführten Plan.

Diese Verbrechen sind ebenso wie der Krieg selbst die unmittelbare Folge der nationalsozialistischen Lehre. Diese Lehre kennt keine Skrupel bei der Wahl der Mittel zur Erreichung des Enderfolgs, und für sie ist das Ziel des Krieges Plünderung, Zerstörung und Ausrottung.

Der totale Krieg, der in seinen Methoden und Zielen totalitäre Krieg, wird von der Vorrangstellung der deutschen Rasse und von der Verneinung aller anderen Werte diktiert. Die Nazi-Anschauung betrachtete die Auslese als ein Naturprinzip; der Mensch, der nicht der höheren Rasse angehört, zählt nicht. Das Menschenleben bedeutet nichts, und Freiheit, Persönlichkeit und Würde des Menschen noch weniger, wenn es sich um einen Gegner der deutschen Volksgemeinschaft handelt.

Es ist wirklich die »Rückkehr zum Barbarentum« mit allen ihren Folgerungen. Getreu sich selbst geht der Nazismus so weit, sich das Recht anzumaßen, so wohl Rassen, die er als feindlich oder dekadent betrachtet, wie Einzelmenschen und Gruppen innerhalb der unterworfenen und auszumerzenden Nationen, die zu einem Widerstand fähig wären, vollkommen auszurotten. Bedeutet denn der totalitäre Krieg nicht Vernichtung jedes auch nur möglichen Widerstandes? Man läßt alle diejenigen Personen verschwinden, die sich irgendwie der neuen Ordnung und der deutschen Hegemonie entgegensetzen könnten. So wird man zur absoluten Herrschaft über die Nachbarvölker gelangen, die geschwächt und machtlos sind, und zur Verwendung aller Hilfsquellen und des Menschenmaterials dieser zu Sklaven herabgewürdigten Völker zum Vorteil des Reiches.

Alle Moralbegriffe, die den Krieg humanisieren sollten, werden offensichtlich als veraltet angesehen, noch mehr alle internationalen Abmachungen, die dazu bestimmt waren, die Übel des Krieges zu mildern.

[439] Die eroberten Völker müssen freiwillig oder gezwungen sowohl ihre materiellen Hilfsquellen als auch ihre Arbeitskräfte dem deutschen Sieger zur Verfügung stellen. Man versteht es, sie dazu zu zwingen.

Die Behandlung, der die besetzten Länder unterworfen werden, steht in gleicher Weise in Beziehung mit den Zwecken des Krieges.

So konnte man in der »Deutschen Volkskraft« vom 13. Juni 1935 lesen: »Der totalitäre Krieg wird in einem totalitären Siege enden. Totalitär bedeutet die vollständige Vernichtung des besiegten Volkes und sein vollständiges und endgültiges Verschwinden von der Bühne der Geschichte.«

Unter den besiegten Völkern ist zu unterscheiden, ob die Nationalsozialisten sie als zur Herrenrasse gehörig betrachteten oder nicht. Im ersten Fall geht man daran, sie auch gegen ihren Willen dem Reiche einzuverleiben, bei den anderen bemüht man sich, sie zu schwächen und zum Verschwinden zu bringen, und dies mit allen Mitteln von der Enteignung der Güter bis zur Ausrottung der Menschen.

Bei den einen wie den anderen greifen die Nazi-Führer nicht nur Gut und Blut an, sondern auch Geist und Seele. Sie versuchen, die Bevölkerungen nach dem Dogma und dem Verhalten der Nazis auszurichten, wenn sie sie der deutschen Gemeinschaft einverleiben wollen; sie legen es wenigstens darauf an, überall diejenigen Begriffe zu töten, die mit der Nazi-Welt unversöhnbar sind; sie sind bestrebt, die Menschen in ihrer Gesinnung und Lebenshaltung zu Sklaven zu machen, deren Nationalität zugunsten der deutschen Rasse verschwinden soll.

Im Geiste dieser Begriffe über die Art und Weise des Vorgehens in den besetzten Ländern haben die Angeklagten besondere Befehle oder allgemeine Weisungen erteilt oder haben sich ihnen freiwillig angeschlossen. Ihre Verantwortlichkeit als Täter, Mittäter oder Teilnehmer an den Kriegsverbrechen, die vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 im Krieg systematisch von Deutschland begangen worden sind, kann daher ohne weiteres angenommen werden. Sie haben diese Verbrechen bewußt gewollt, vorbedacht und angeordnet, oder sich wissentlich dieser Politik des organisierten Verbrechertums angeschlossen.

Wir werden die verschiedenen Seiten dieser verbrecherischen Politik darstellen, wie sie in den besetzten Ländern Westeuropas durchgeführt wurde, indem wir nacheinander die Zwangsarbeit, die wirtschaftliche Ausplünderung und die Verbrechen gegen Personen und gegen die menschlichen Lebensgrundlagen behandeln.

Der Begriff des totalen Krieges als Erzeuger aller Verbrechen, die von Nazi-Deutschland in den besetzten Gebieten begangen [440] wurden, war Ausgangspunkt für die Arbeitsdienstpflicht. Mit dieser Einrichtung beabsichtigte Deutschland, das Arbeitspotential der unterworfenen Völker möglichst stark auszunützen, um die deutsche Kriegsproduktion auf der notwendigen Höhe zu halten. Andererseits kann kein Zweifel bestehen darüber, daß diese Politik zum allgemeinen Plane der »Vernichtung durch Arbeit« der Deutschland benachbarten Völker paßte, die für gefährlich oder untergeordnet angesehen wurden.

Ein Dokument des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht mit Datum des 1. Oktober 1938 sah die zwangsweise Verwendung von Gefangenen und Zivilpersonen für Kriegsarbeiten vor. In einer Rede vom 9. November 1941 »zweifelte Hitler keinen Augenblick daran, daß wir in den besetzten Gebieten, die wir zur Zeit beherrschen, auch den letzten Menschen für uns arbeiten lassen werden«. Von 1942 an entwickelte sich unter der anerkannten Verantwortlichkeit des Angeklagten Sauckel, der in Verbindung mit dem Angeklagten Speer und unter der Kontrolle des Angeklagten Göring, des Beauftragten für den Vierjahresplan, handelte, die Arbeitsdienstpflicht zugunsten des von Deutschland geführten Krieges zu ihrem vollen Umfang.

Die verschiedensten Zwangsmethoden wurden gleichzeitig oder nacheinander angewandt:

1. Anforderung von Dienstleistungen unter Bedingungen, die mit Artikel 52 der Haager Konvention unvereinbar waren.

2. Fiktiv freiwillige Arbeit, die darin bestand, daß man Arbeiter zwang, Verträge zu unterschreiben, die sie zur Arbeitsleistung in Deutschland verpflichteten.

3. Aushebung zur Zwangsarbeit.

4. Verpflichtung der Kriegsgefangenen zur Arbeit für die deutsche Kriegswirtschaft, wobei man sie in bestimmten Fällen zu sogenannten freien Arbeitern verwandelte.

5. Eingliederungen bestimmter ausländischer Arbeiter, besonders Franzosen, Elsässer und Lothringer, und Luxemburger in die Deutsche Arbeitsfront.

Alle diese Vorgänge stellen Verbrechen gegen das Völkerrecht und Verletzungen der Artikel 52 der Haager Konvention dar.

Die Anforderung von Dienstleistungen erfolgte unter Todesandrohung. Die freiwillige Arbeit ist von Einzelzwangsmaßnahmen begleitet, die die Arbeiter der besetzten Gebiete dazu verpflichteten, Arbeitsverträge zu unterzeichnen. Die Dauer dieser Pseudoverträge wird alsdann einseitig und widerrechtlich von den deutschen Behörden verlängert.

Das Scheitern dieser Maßnahmen zur Anforderung von Dienstleistungen und Anwerbung von Freiwilligen führt die deutschen [441] Behörden überall dazu, Aushebungen vorzunehmen. Hitler erklärte am 19. August 1942 in einer Sitzung des Vierjahresplans, über die der Angeklagte Speer berichtet hat, daß Deutschland zur Zwangsaushebung schreiten müsse, wenn der Grundsatz der Freiwilligkeit nicht zum Erfolg führe.

Am 7. November 1943 erklärte der Angeklagte Jodl in einer Rede vor den Gauleitern in München:

»Ich glaube aber, daß heute der Zeitpunkt gekommen ist, sowohl in Dänemark, Holland, Frankreich und Belgien mit rücksichtsloser Energie und Härte die tausenden Nichtstuer zu Befestigungsarbeiten zu zwingen, die allen anderen Aufgaben vorangehen.«

Nachdem das Prinzip des Zwanges einmal angenommen war, benützten die Deutschen zwei sich ergänzende Methoden, den gesetzlichen Zwang, indem sie Gesetze über Arbeitsdienstpflicht erließen, und den faktischen Zwang, der in Maßnahmen bestand, die notwendig waren, um die Arbeiter unter Androhung von schweren Strafen zu zwingen, sich den erlassenen Gesetzesbestimmungen zu fügen.

Grundlage der Gesetzgebung über die Arbeitspflicht ist der Erlaß des Angeklagten Sauckel vom 22. August 1942, nach welchem das System der Aushebung in allen besetzten Ländern angeordnet wurde.

In Frankreich erreichte Sauckel von der Pseudo-Regierung in Vichy die Veröffentlichung des Gesetzes vom 4. September 1942. Dieses Gesetz verfügt die Bindung der Arbeitskräfte an die Unternehmungen und sah die Möglichkeit einer Einberufung aller Franzosen vor, die geeignet waren, für Dienstleistungen zugunsten des Feindes herangezogen zu werden. Alle Franzosen im Alter von achtzehn bis fünfzig Jahren, die nicht mehr als dreißig Stunden pro Woche arbeiteten, mußten eine für die Bedürfnisse des Landes wichtige Beschäftigung nachweisen. Eine Verordnung vom 19. September 1942 und eine Durchführungsanweisung vom 24. September setzten die Einzelheiten dieser Erklärung fest. Das Gesetz vom 4. September 1942 wurde von der Pseudo-Regierung in Vichy unter dem von den Besatzungsbehörden ausgeübten starken Druck veröffentlicht. So hatte Dr. Michel, Leiter des Verwaltungsstabes des deutschen Militäroberkommandos in Frankreich, am 26. August 1942 an den Hauptdelegierten für die französisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen einen drohenden Brief geschrieben, in welchem er die Veröffentlichung des Gesetzes verlangte.

Im Jahre 1943 erwirkte Sauckel von der damaligen Regierung den Erlaß vom 2. Februar, der die Meldung aller Franzosen männlichen Geschlechts, die in der Zeit vom 1. Januar 1912 bis 31. Dezember 1921 geboren waren, vorschrieb, sowie das Gesetz vom 16. Februar, [442] welches die Arbeitsdienstpflicht, Service du Travail Obligatoire, für alle jungen Leute im Alter von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren anordnete. Am 9. April 1943 forderte Gauleiter Sauckel die Deportation von 120000 Arbeitern im Monat Mai, und von 100000 im Juni. Zu diesem Zweck ordnete die Pseudo-Regierung in Vichy eine totale Mobilmachung des Jahrgangs 1922 an. Am 15. Januar 1944 forderte Sauckel von der damaligen Französischen Regierung die Bereitstellung von einer Million Mann während der ersten sechs Monate des Jahres und veranlaßte sie zur Herausgabe des Gesetzes vom 1. Februar 1944, das die Möglichkeit einer Einberufung von Arbeitskräften, und zwar bei Männern von sechzehn bis sechzig Jahren und bei Frauen von achtzehn bis fünfundvierzig Jahren vorsah.

Entsprechende Maßnahmen wurden in allen besetzten Ländern getroffen.

In Norwegen zwangen die deutschen Behörden die Pseudo-Regierung Quisling zur Veröffentlichung eines Gesetzes vom 3. Februar 1943, das eine Pflichtregistrierung der Norweger einführte und ihre Zwangsaushebung vorschrieb. In Belgien und Holland wurde die Arbeitsdienstpflicht durch Verordnungen der Besatzungsmacht unmittelbar organisiert. Dies geschah in Belgien durch Verordnungen des Militäroberkommandos und in Holland durch Verordnungen des Angeklagten Seyß-Inquart, des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete. In diesen beiden Ländern nahm die Entwicklung der Zwangsarbeitspolitik denselben Verlauf. Die Pflichtarbeit wurde ursprünglich nur in besetzten Gebieten verlangt. Doch erfolgte sehr bald eine Ausdehnung dahin, daß man die Deportation von Arbeitern nach Deutschland erlaubte. In Holland geschah dies durch die Verordnung vom 28. Februar 1941 und in Belgien durch die Verordnung vom 6. März 1942, die den Grundsatz der Arbeitspflicht festlegten. Die Deportation wurde in Belgien durch Verordnung vom 6. Oktober 1942 und in Holland durch Verordnung vom 23. März 1942 eingeführt.

Um die Wirksamkeit dieser gesetzlichen Bestimmungen zu sichern, wurde in allen Ländern brutaler Zwang ausgeübt; in allen großen Städten wurden zahlreiche Razzien vorgenommen; so verhaftete man zum Beispiel am 10. und 11. November 1944 in Rotterdam 50000 Personen.

Ärger als die Zwangsarbeit der Zivilbevölkerung war die Eingliederung der Arbeiter aus den besetzten Ländern in den Arbeitsdienst des Reiches. Diese Eingliederung stellt nicht nur eine Einziehung von Arbeitern dar, sondern auch eine Anwendung der deutschen Gesetzgebung auf Staatsangehörige der besetzten Länder. Angesichts des patriotischen Widerstands der Arbeiter in den verschiedenen besetzten Ländern blieben die bedeutenden Ergebnisse, auf die der deutsche Arbeitsdienst gerechnet hatte, weit hinter den [443] Erwartungen zurück. Allerdings wurde eine sehr große Anzahl von Arbeitern aus den besetzten Ländern dazu gezwungen, für den deutschen Krieg zu arbeiten.

Die Zahl der von der Organisation Todt beim Bau des Atlantik-Walles beschäftigten Arbeiter aus den besetzten westeuropäischen Ländern belief sich Ende März 1943 auf 248000 Mann. 3300000 Arbeiter der besetzten Länder haben in ihrer Heimat für Deutschland gearbeitet, unter anderem 300000 in Norwegen, 249000 in Holland und 650000 in Frankreich. Die Zahl der aus den besetzten Westländern nach Deutschland deportierten Arbeiter belief sich 1942 auf 131000 Belgier, 135000 Franzosen und 154000 Holländer. Am 3. April 1943 arbeiteten 1293000 Arbeiter, darunter 269000 Frauen, aus den besetzten Ländern im Westen für die deutsche Kriegswirtschaft.

Am 7. Juli 1944 erklärte Sauckel, daß die Zahl der während der ersten sechs Monate des Jahres 1944 nach Deutschland deportierten Arbeiter sich auf 537000 belief, unter ihnen 33000 Franzosen. Am 1. März 1944 hatte er bei einer Konferenz des Zentralbüros des Vierjahresplans festgestellt, daß es in Deutschland fünf Millionen Fremdarbeiter gebe, davon nur 200000 wirklich Freiwillige.

Der Bericht des französischen Ministeriums für Kriegsgefangene, Deportierte und Flüchtlinge beziffert die Gesamtzahl der deportierten französischen Männer und Frauen auf 715000.

Wir müssen noch hinzufügen, daß die in Verletzung des Völkerrechts nach Deutschland deportierten Arbeitskräfte Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt wurden, die auch den elementarsten Anforderungen menschlicher Würde nicht entsprachen. Der Angeklagte Sauckel hat selbst angegeben, daß die ausländischen Arbeiter, die fähig waren, beträchtliche Dienste zu leisten, so ernährt werden sollten, daß sie mit einem Minimum von Ausgaben im höchsten Grad ausgebeutet werden könnten, und er fügte hinzu, daß sie, sobald ihre Leistungen heruntergingen, weniger Nahrung erhalten sollten, und daß man sich um das Schicksal derjenigen, deren Leistungsfähigkeit kein Interesse mehr biete, überhaupt nicht mehr kümmern solle. Für diejenigen, die versuchten, sich den auferlegten Verpflichtungen zu entziehen, wurden besondere Vergeltungslager errichtet. Eine Verordnung vom 21. Dezember 1942 befiehlt die Überführung von widerspenstigen Arbeitern in diese Lager ohne vorangehendes Verfahren. Im Jahre 1943 erklärte Sauckel während einer Ministerbesprechung, daß er die Unterstützung der SS benötige, um die ihm übertragene Aufgabe erfolgreich durchzuführen. So zog das Verbrechen der Zwangsarbeit und der Deportation eine ganze Reihe anderer Verbrechen gegen diese Personen nach sich.

[444] Die Arbeit der Kriegsgefangenen hielt sich ebensowenig wie die Arbeit der Zivilpersonen innerhalb der durch das Völkerrecht bestimmten Grenzen. Das nationalsozialistische Deutschland zwang die Kriegsgefangenen in Verletzung der Artikel 31 und 32 des Genfer Abkommens, für die deutsche Kriegsproduktion zu arbeiten.

Das nationalsozialistische Deutschland nützte die Kriegsgefangenen und die Arbeiter aus den besetzten Ländern in völliger Mißachtung der internationalen Abkommen im höchsten Maß für den Krieg aus und suchte gleichzeitig, sich auf jede mögliche Art und Weise der Reichtümer dieser Länder zu bemächtigen. Die deutschen Behörden führten dort systematische Plünderungen durch. Unter wirtschaftlicher Plünderung verstehen wir sowohl die Wegnahme von Gütern aller Art wie die Ausbeutung der nationalen Reichtümer an Ort und Stelle zugunsten des deutschen Krieges.

Diese Plünderung wurde systematisch organisiert.

Die Deutschen begannen überall damit, sich aller Zahlungsmittel zu bemächtigen. So konnten sie sich unter dem Schein der Rechtmäßigkeit die Güter, die sie begehrten, aneignen. Nachdem sie bestehende Zahlungsmittel gesperrt hatten, legten sie jedem Land unter dem Vorwand der Entschädigung für den Unterhalt der Besatzungstruppen ungeheure Zahlungen auf.

Erinnern wir uns daran, daß nach den Bestimmungen des Haager Abkommens besetzte Länder dazu verpflichtet werden können, für die Kosten des Unterhalts der Besatzungstruppen aufzukommen. Aber die unter diesem Titel von den Deutschen verlangten Summen überschritten die wirklichen Besatzungskosten sehr weit.

Andererseits zwangen sie den besetzten Ländern ein Clearing-System auf, das praktisch ausschließlich zugunsten Deutschlands funktionierte. Eine Einfuhr aus Deutschland in die besetzten Gebiete hat sozusagen nicht bestanden. Die nach Deutschland ausgeführten Waren waren nicht Gegenstand einer Regelung.

Um für die auf diese Art aufgebrachten Zahlungsmittel eine wesentliche Kaufkraft zu erhalten, bemühten sich die Deutschen überall, die Preise zu stabilisieren und führten eine strikte Rationierung ein. Dieses Rationierungssystem, das der Bevölkerung nur eine für das Lebensminimum nicht ausreichende Menge von Gütern ließ, bot noch dazu den Vorteil, den Deutschen einen möglichst großen Anteil an der Produktion zu sichern.

Die Deutschen nahmen so einen großen Teil der Lagerbestände und der Produktion an sich, in Ausführung von anscheinend ordnungsgemäßen Operationen, Requisitionen, Einkäufen gegen deutsche Vorzugsscheine, Einzeleinkäufen. Diese Operationen wurden noch durch andere geheime Operationen vervollständigt, und zwar in [445] Verletzung der offiziellen, oft von den Deutschen selbst erlassenen Verordnungen. Zu diesem Zweck hatten die Deutschen eine richtige Organisation für die Einkäufe auf dem »schwarzen Markt« eingerichtet. So liest man in einem Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 4. September 1942, daß der Angeklagte Göring angeordnet hatte, die Einkäufe auf dem schwarzen Markt nunmehr auf Waren auszudehnen, die bis dahin nicht in Betracht gezogen waren, wie zum Beispiel Haushaltartikel, und daß er vorgeschrieben hatte, daß sämtliche Waren, die von irgendeinem Nutzen für Deutschland sein konnten, aufgekauft werden sollten, auch wenn dadurch in den besetzten Ländern Inflationserscheinungen entstehen sollten.

Während die Nazi-Führer ein Maximum an Gütern aller Art nach Deutschland transportierten, nachdem sie sie ohne Entschädigung requiriert oder mit zu Unrecht erworbenen Banknoten oder durch einfache Buchung auf Clearing-Konto bezahlt hatten, bemühten sie sich gleichzeitig, die Wiederinbetriebsetzung der Fabriken zum Vorteil der deutschen Kriegswirtschaft zu erzwingen.

Die deutschen Industriellen hatten Anweisung erhalten, sich die Unternehmungen in den besetzten Ländern anzugliedern und aufzuteilen, wenn sie eine ihrer eigenen ähnliche Fabrikation betrieben. Indem sie ihnen Aufträge erteilten, hatten diese Industriellen gleichzeitig die Unternehmungen in den besetzten Ländern endgültig und mittels verschiedener finanzieller Kombinationen unter ihre Vormundschaft gebracht. Der Schein der ordnungsmäßigen Bezahlung oder der vertraglichen Abmachung kann keinesfalls die systematische wirtschaftliche Plünderung verschleiern, welche im Widerspruch zu den Bestimmungen des Haager Abkommens organisiert wurde. Wenn Deutschland nach den Bestimmungen dieses Abkommens das Recht hatte, die zum Unterhalt der notwendigen Besatzungstruppen unbedingt erforderlichen Mittel einzuheben, so stellen die darüber hinausgehenden Einhebungen zweifellos ein Kriegsverbrechen dar, das den Ruin der besetzten Länder herbeiführte, ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf lange Zeit hinaus schwächte, ihre Lebensmittelversorgung verschlechterte und die allgemeine Unterernährung der Bevölkerung hervorrief.

Genaue Schätzungen der deutschen Machenschaften auf wirtschaftlichem Gebiet können noch nicht aufgestellt werden; in der Tat müßte man dazu die Wirtschaft mehrerer Länder während eines Zeitraums von mehr als vier Jahren bis ins einzelne studieren.

Es ist jedoch möglich gewesen, gewisse Tatsachen genau zu bestimmen und Mindestschätzungen der deutschen Raubhandlungen in den verschiedenen besetzten Ländern aufzustellen.

In Dänemark, dem ersten westeuropäischen Land, das überfallen wurde, bemächtigten sich die Deutschen eines Betrags von nahezu [446] acht Milliarden Kronen, in Norwegen übersteigen die deutschen Plünderungen zwanzig Milliarden Kronen.

Die deutsche Plünderung in den Niederlanden war derartig, daß dieses Land, einst im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl eines der reichsten Länder der Welt, jetzt fast völlig ruiniert ist; die von der Besatzungsmacht auferlegten finanziellen Lasten übersteigen zwanzig Milliarden Gulden.

In Belgien eigneten sich die Deutschen durch verschiedene Verfahren, besonders dem der Besatzungsentschädigung und des Clearings, mehr als 130 Milliarden belgische Franken an Zahlungsmitteln an. Auch das Großherzogtum von Luxemburg erlitt bedeutende Verluste durch die Besetzung.

In Frankreich schließlich erreichte die Voreinhebung an Zahlungsmitteln 745 Milliarden Franken. In dieser Summe sind die 74 Milliarden, die Deutschland rechtlich für den Unterhalt seiner Besatzungstruppen hätte fordern können, nicht inbegriffen. Andererseits wurde die Einhebung von 9.500.000.000 Goldfranken zum Kurse des Jahres 1939 berechnet.

Neben den Zahlungen, die Deutschland in den besetzten Ländern mit Hilfe der diesen Ländern abgepreßten Zahlungsmitteln leistete, wie wir dies geschildert haben, wurden ungeheuere Mengen von Gegenständen aller Art ohne Entschädigung ganz einfach requiriert, ohne Erklärung weggenommen oder gestohlen. Die Besatzungsmacht nahm nicht nur alle Rohstoffe und Fertigwaren, die für ihre Kriegführung nützlich sein konnten, in Besitz, sondern auch alles, was ihnen auf den neutralen Märkten Kredit verschaffen konnte, so bewegliches Gut aller Art, Schmuck und Luxusartikel. Schließlich wurden die Kunstschätze der westeuropäischen Länder in schamlosester Weise geplündert.

Diese bedeutenden Summen, die sich Deutschland ohne Gegenleistungen verschaffen konnte, indem es entgegen allen Grundsätzen des Völkerrechts und ohne Gegenleistung seine Macht mißbrauchte, machten es möglich, daß Deutschland Frankreich und die anderen westeuropäischen Länder ordnungsgemäß wirtschaftlich ausplündern konnte. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus entstanden dadurch für diese Länder Substanzverluste, die sie sehr lange fühlen werden.

Die schlimmsten Folgen jedoch betrafen die Menschen selbst. In der Tat war die Bevölkerung der besetzten Länder während mehr als vier Jahren einem langsamen Hungerregime ausgesetzt, das eine Erhöhung der Sterblichkeit, eine Schwächung der physischen Kräfte der Bevölkerung und besonders eine alarmierende Verringerung des Wachstums der Kinder und der Jugendlichen zur Folge hatte.

[447] Diese Handlungsweise, die von den deutschen Führern systematisch und in Verletzung des Völkerrechts und des Haager Abkommens sowie der allgemeinen Grundsätze des bei allen zivilisierten Nationen gültigen Strafrechts durchgeführt wurden, stellen Kriegsverbrechen dar, für die sie sich vor Ihrem Gericht zu verantworten haben werden.

VORSITZENDER: Ich glaube, daß jetzt der geeignete Zeitpunkt für eine Vertagung bis 14.00 Uhr gekommen ist.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 5, S. 415-449.
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