Nachmittagssitzung.

[Der Zeuge Karl Severing im Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird Samstag vormittag keine Sitzung halten.

Nun, Herr Dodd, könnten Sie uns mitteilen, wie es mit den Dokumenten der Angeklagten von Schirach und Sauckel und Jodl steht?


MR. DODD: Soweit von Schirach in Frage kommt, warten wir auf eine Entscheidung über die Dokumente, die Samstag angehört worden sind. Verzeihung, das betraf Seyß-Inquart. Ich war nicht sicher, ob die Dokumente fertig waren. Diese Dokumente sind alle fertig; sie sind alle übersetzt und in Buchform.


VORSITZENDER: Wird es notwendig sein, noch weiter über sie zu verhandeln?


MR. DODD: Ich glaube nicht, Herr Präsident.


VORSITZENDER: Sehr gut, dann können wir annehmen, daß wir keine weitere Argumentation zu führen brauchen.


MR. DODD: Nein, wir brauchen keine weitere Argumentation über Schirachs Dokumente.

Bezüglich Sauckel habe ich meine französischen Kollegen gefragt, wie dort die Lage ist, da sie die primäre Verantwortlichkeit haben. Und soweit die Anklagevertretung in Betracht kommt, erfahre ich, daß Herr Herzog von der Französischen Anklagevertretung auf dem Weg hierher ist. Er wird darüber genauere Angaben machen können.


VORSITZENDER: Gut, wir werden das dann später erledigen können. Schirach jedenfalls ist bereit zur Fortsetzung?


MR. DODD: Er ist bereit, fortzufahren.


VORSITZENDER: Sehr gut!


MR. DODD: Sir David hat die Mitteilungen über den Angeklagten Jodl.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Herr Roberts!


MR. G. D ROBERTS, ERSTER ANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Euer Lordschaft! Bezüglich der Dokumente Jodls ist die Frage die, daß Dr. Jahrreiss mir kurz vor Ostern ein vorläufiges Buch von Dokumenten zeigte, die mit Ausnahme von vier Stücken alle schon eingereicht worden waren; deshalb konnte gegen sie kein Einspruch erhoben werden.

Euer Lordschaft! Die anderen vier waren alle kurz; zwei hielt ich für zu beanstanden, da sie sich auf angebliche Kriegsverbrechen [291] eines der Alliierten bezogen. Aber, Euer Lordschaft, sie waren so kurz, daß ich dachte, es würde das beste sein, sie zu übersetzen; jedes war nur ungefähr eine Seite lang, so daß, wenn die Bücher übersetzt sind, jeder Einspruch erhoben werden und eine kurze Entscheidung des Gerichtshofs erfolgen könnte.


VORSITZENDER: Gut, da es nur vier sind, und nur zwei, gegen die Einspruch erhoben werden könnte, kann das erledigt werden, wenn wir den Fall hören werden.


MR. ROBERTS: Euer Lordschaft, es sind nur zwei.


VORSITZENDER: Wir brauchen keine besondere Sitzung dafür?


MR. ROBERTS: Nein, Euer Lordschaft! Sicherlich nicht. Es kann in ein paar Minuten erledigt werden.


PROFESSOR DR. FRANZ EXNER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN JODL: Herr Vorsitzender! Ich möchte ein Wort noch wegen dieser Dokumente Jodls sagen. Wegen eines Dokuments haben wir nämlich Schwierigkeiten. Es ist das Affidavit Lehmann, welches wir deutsch eingereicht haben. Es wurde uns aber nicht ins Englische übersetzt, mit der Begründung, daß nur Dokumente übersetzt werden dürfen, die die Staatsanwaltschaft bereits akzeptiert hat; und die Staatsanwaltschaft steht auf dem Standpunkt, sie kann keine Stellung nehmen zu diesem Dokument, weil es nicht ins Englische übersetzt ist.

Ich habe das in einer kurzen Eingabe an das Gericht mitgeteilt und hoffe, daß das Gericht das erledigen wird.


MR. ROBERTS: Herr Vorsitzender! Gegen Lehmanns Affidavit, das sehr kurz ist – es ist im wesentlichen ein Charakterzeugnis –, ist wirklich kein Einspruch zu erheben, aber ich mußte darauf hinweisen, daß der Gerichtshof es noch nicht ausdrücklich zugelassen hat. Der Gerichtshof ordnete an...


VORSITZENDER: Wenn es in der Übersetzung angenommen ist, dann genügt das vollständig.


MR. ROBERTS: Euer Lordschaft! Ich stimme dem voll zu; es handelt sich nur um eine Seite.


VORSITZENDER: Ja, sehr gut. Dann lassen Sie es übersetzen.


MAJOR ELWYN JONES: Hoher Gerichtshof! In diesem Stadium des Falles Raeder mag es angezeigt sein, mit Bezug auf den Zeugen Lohmann, mitzuteilen, daß die Anklagevertretung kein Kreuzverhör dieses Zeugen wünscht, und zwar sowohl wegen der dem Gerichtshof vorliegenden Dokumente, als auch weil die von dem Affidavit behandelten Angelegenheiten von meinem verehrten Kollegen Sir David Maxwell-Fyfe gestern bei dem Kreuzverhör des Angeklagten Raeder erledigt worden sind, und schließlich auch mit Rücksicht auf die Zeitersparnis.


[292] VORSITZENDER: Wollen andere Anklagevertreter Lohmann ins Kreuzverhör nehmen?


MAJOR ELWYN JONES: Nein, Euer Lordschaft!


VORSITZENDER: Wünscht einer der Verteidiger, Fragen an Lohmann zu stellen?

Sehr gut.

Soviel ich weiß, ist der Zeuge Lohmann hiergehalten worden; es wäre gut, den Marschall davon zu verständigen, daß er nicht zu bleiben braucht.


M. JACQUES B. HERZOG, HILFSANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Herr Präsident! Im Namen der Französischen Anklagebehörde möchte ich zu den Dokumenten, die von der Verteidigung Sauckels vorgelegt wurden, Stellung nehmen.

Ich habe keinen Einspruch gegen die Vorlage dieser Dokumente; natürlich behalte ich mir vor, daß nach ihrer Vorlage über sie entschieden wird. Aber wir haben keinen Einwand gegen die Übersetzung und Vorlage der Dokumente.


VORSITZENDER: Halten Sie es für notwendig oder wünschenswert, eine besondere Verhandlung über die Zulässigkeit abzuhalten? Oder kann es im Verlauf des Falles Sauckel geschehen?

Wie ich soeben höre, sind die Dokumente für Zwecke der Übersetzung eingesehen worden. Sie sind jetzt übersetzt. Wenn Sie es für nötig erachten, eine besondere Verhandlung über ihre Zulässigkeit abzuhalten, bevor der Fall beginnt, möchten wir es gern wissen. Sonst werden wir sie im Laufe des Verfahrens behandeln, im Verlauf des Falles Sauckel.


M. HERZOG: Herr Präsident! Ich glaube es genügt, wenn der Gerichtshof sich mit diesen Dokumenten im Verlauf des Falles des Angeklagten befaßt. Ich glaube nicht, daß wir, was diese Dokumente betrifft, eine besondere Verhandlung brauchen.


VORSITZENDER: Sehr gut!


DR. SIEMERS: Herr Minister Severing! Soweit ich feststellen konnte, haben Sie eine Frage von mir versehentlich noch nicht klar beantwortet.

Bezüglich der Konzentrationslager sagten Sie, daß Sie von Einzelfällen gehört haben, und Sie haben die Einzelfälle genannt. Damit kein Mißverständnis entsteht, möchte ich Sie abschließend nur noch fragen: Haben Sie von den Massenermordungen, von denen in diesem Prozeß die Rede ist, wonach in Auschwitz zum Beispiel zirka 2000 am Tage in Gaskammern verbrannt wurden, haben Sie diese Kenntnisse vor dem Zusammenbruch gehabt oder haben Sie davon auch nichts gewußt?


[293] SEVERING: Von diesen Massenmorden, die erst nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes in Deutschland bekannt wurden, teils durch Presseveröffentlichungen, teils durch Prozeßverhandlungen, habe ich nichts gewußt.


DR. SIEMERS: Herr Minister, was konnten Sie und Ihre Parteifreunde im Laufe des nationalsozialistischen Regimes gegen den von Ihnen zum Teil erwähnten nationalsozialistischen Terror unternehmen, und wurden Sie hierbei irgendwie von ausländischer Seite unterstützt?


SEVERING: Wenn Sie die Frage darauf beschränken, was ich und meine politischen Freunde nach dem 30. Januar zur Bekämpfung des Hitler-Terrors tun konnten und getan haben, dann muß ich sagen: wenig. Wenn von Widerstand gegen das Hitler-Regime die Rede war, so war dieser Widerstand kein zentral-organisierter. Er beschränkte sich darauf, daß in einzelnen Städten die Gegner der Nazis sich zusammenschlossen, um zu überlegen, wie man wenigstens in der Propaganda dem geistigen Terror entgegentreten konnte. Eine direkte Auflehnung war nicht möglich.

Ich darf aber an dieser Stelle auf folgendes aufmerksam machen: Ich habe am 30. Januar persönlich einen entscheidenden, oder ich will so sagen, einen Versuch unternommen, der nach meiner Meinung entscheidend werden konnte, um dem Hitler-Regiment entgegenzutreten. Im Herbst des Jahres 1931 hatte ich mit dem Chef der Heeresleitung, von Hammerstein, eine Unterredung, in der von Hammerstein mir erklärte, daß die Reichswehr es nicht zulassen würde, daß Hitler sich auf den Stuhl des Reichspräsidenten setze. An diese Unterredung erinnerte ich mich und ließ Herrn von Hammerstein am 30. Januar 1933 fragen, ob er bereit sei, mit mir eine Unterredung zu führen. In dieser Unterredung wollte ich ihn fragen, ob er noch der Meinung sei, daß die Reichswehr sich gegen ein Regiment Hitlers nicht nur aussprechen, sondern gegen ein solches Regiment sich zur Wehr setzen würde.

Herr von Hammerstein ließ mir antworten, daß er grundsätzlich bereit sei, eine solche Unterredung mit mir zu halten; der Augenblick sei aber nicht passend. Die Unterredung hat nie stattgefunden.

Wenn Sie mich fragen, Herr Rechtsanwalt, ob meine politischen Freunde in ihren Bemühungen, das Hitler-Regiment wenigstens propagandistisch zu bekämpfen, Unterstützung gefunden hatten durch ausländische Persönlichkeiten, die man auch als Antifaschisten hätte ansprechen können, so muß ich Ihnen sagen, leider nein. Wir haben im Gegenteil mit großem Schmerz recht oft bemerkt, daß Angehörige der englischen Arbeiterpartei, nichtbeamtete Herren, sondern als Privatpersonen bei Hitler zu Gast waren und nach England zurückgekehrt, den damaligen Reichskanzler Hitler priesen als [294] einen Freund des Friedens. Ich nenne da Philip Snowden und den Seniorchef der Arbeiterpartei, Lansbury.

Ich darf in diesem Zusammenhang aber auch noch auf folgendes aufmerksam machen: Im Jahre...


VORSITZENDER: Die Haltung politischer Parteien in anderen Ländern hat nichts mit Fragen zu tun, die wir hier zu entscheiden haben; absolut nichts.


DR. SIEMERS: Ich glaube, es genügt. Ich habe keine weiteren Fragen mehr, Herr Minister, und danke Ihnen.


DR. LATERNSER: Herr Minister, ist während Ihrer Amtstätigkeit die im Versailler Friedensvertrag zugebilligte Zahl von 100000 Mann im normalen Heer überschritten worden?


SEVERING: Davon habe ich keine amtliche Kenntnis. Ich möchte aber annehmen, daß das nicht der Fall ist.


DR. LATERNSER: Ist Ihnen etwas davon bekannt, daß Ende 1932 der Völkerbund eine Zusage gemacht oder in Aussicht gestellt hat, daß das Hunderttausend- Mann-Heer auf 300000 Mann erhöht werden sollte?


SEVERING: Auch darüber kann ich amtlich keine Auskunft geben. Ich kann dazu aber folgendes erklären:

Ich erhielt im Jahre 1932 einen Brief von meinem Parteifreund Dr. Rudolf Breitscheid, der Mitglied der Völkerbundsdelegation war, in dem er mir von Gerüchten dieser Art Mitteilung machte, aber dieser Mitteilung die andere auch anfügte...


VORSITZENDER: Dr. Laternser, wir glauben nicht, daß Gerüchte in diesem Prozeß erheblich sind. Er sagt, er kann uns keine amtliche Information geben. Und dann beginnt er, uns Gerüchte zu erzählen. Wir wollen keine Gerüchte hören.


DR. LATERNSER: Herr Präsident, das was der Zeuge hier sagt, ist etwas mehr als über Gerüchte zu sprechen, und ich denke, Sie werden es wahrscheinlich selbst beurteilen können, wenn er die Frage vollständig beantwortet hat.


VORSITZENDER: Er spricht über Gerüchte. Wenn Sie eine neue Frage zu stellen haben, dann können Sie sie stellen.


DR. LATERNSER: Hat die Vergrößerung des Heeres von 100000 Mann auf 300000 Mann irgendwelche greifbaren Formen angenommen, und zwar insoweit, als Erörterungen an anderen Stellen darüber stattgefunden haben?


SEVERING: Ich sagte eben, daß Dr. Rudolf Breitscheid Mitglied der Völkerbundsdelegation gewesen sei, und daß er seine Mitteilungen an mich sicherlich nicht aus der Luft gegriffen hat. Diese [295] Mitteilungen besagten, daß eine Vergrößerung des Heeres in Aussicht genommen sei, diese Vergrößerung werde wahrscheinlich auf Kosten der Polizei gehen. Davon hat mich Dr. Rudolf Breitscheid in Kenntnis gesetzt.


DR. LATERNSER: Danke schön, ich habe keine weiteren Fragen.


DR. KARL HAENSEL, STELLVERTRETENDER VERTEIDIGER FÜR DIE SS: Herr Minister, Sie haben uns eben gesagt, daß Sie von den Judenmorden in Auschwitz keine Kenntnis vor dem Zusammenbruch bekommen hätten. Haben Sie Kenntnis von anderen Maßnahmen oder Taten gegen Juden gehabt, die Sie als verbrecherisch bezeichnen würden?


SEVERING: Ich habe einen solchen Fall noch persönlich erlebt. Im Jahre 1944 ist ein Bekannter von mir aus Bielefeld, Karl Henkel, verhaftet worden, in ein Arbeitslager bei Emden verbracht und am dritten Tage erschossen worden.


DR. HAENSEL: Wissen Sie, wer ihn verhaftet hat, welche Art der Behörde ihn verhaftet hat?


SEVERING: Verhaftet hat ihn die Bielefelder Gestapo.


DR. HAENSEL: Haben Sie das in Zusammenhang mit einer großen Aktion gebracht, oder war das ein Einzelfall?


SEVERING: Das schien mir ein Einzelfall zu sein.


DR. HAENSEL: Haben Sie mehrere solcher Einzelfälle damals, 1944, gehört?


SEVERING: 1944 habe ich von Einzelfällen der Ermordung nichts gehört, wohl aber von Abtransporten von westfälischen Städten nach unbekannt.


DR. HAENSEL: Welche Behörde hat mit diesen Abtransporten zu tun gehabt?


SEVERING: Das kann ich nicht genau sagen, ich nehme an, die Gestapo.


DR. HAENSEL: Sind Sie der Meinung, daß breite Schichten der Bevölkerung von solchen Vorfällen eine Kenntnis hatten?


SEVERING: Von den Abtransporten?


DR. HAENSEL: Ja.


SEVERING: Sie vollzogen sich ja meist in der Öffentlichkeit.


DR. HAENSEL: Sind Sie der Meinung, daß die Leute ebenso große Kenntnis hatten, wie die Mitglieder der Organisationen, zum Beispiel, der gewöhnliche SS-Mann, oder meinen Sie, der gewöhnliche SS-Mann hat mehr gewußt wie ein anderer?


[296] SEVERING: O ja, er war ja doch über die Transportziele unterrichtet.


DR. HAENSEL: Ich verstand Sie aber so, daß Sie den Transport gar als nicht von der SS eskortiert bezeichneten; Sie sagten von der Gestapo.


SEVERING: Ja, ich habe eben Ausdruck gegeben, daß ich annehme, daß die Gestapo die Verhaftungen und Plünderungen anordnete, habe aber dies nicht versichert bekommen, daß es ausschließlich die Gestapo gewesen sei.


DR. HAENSEL: Und die übrigen Maßnahmen, außer solchen Transportmaßnahmen, eine Art lokaler Pogrome, davon haben Sie, wie ich verstehe, nicht oft gehört?


SEVERING: Lokale Pogrome sind im Jahre 1938 vorgekommen.


DR. HAENSEL: Haben Sie während solcher Maßnahmen, die wir ja öfter schon gehört haben, haben Sie eigene Feststellungen gemacht oder waren Sie zu Hause?


SEVERING: Ich war zu Hause. Ich habe hinterher nur die Wirkungen dieser Pogrome in Gestalt von zerstörten jüdischen Geschäften und in der Gestalt der Reste der Synagogen gesehen.


DR. HAENSEL: Und auf welche Organisationen oder Gruppen führen Sie diese Ereignisse des Novembers 1938 zurück?


SEVERING: Das soll ja wohl kein Werturteil sein, aber ich sage es ganz offen, auf die SA oder die SS.


DR. HAENSEL: Und wie kommen Sie dazu gerade auf diese beiden Gruppen?


SEVERING: Weil die Angehörigen dieser Gruppen gerade in Bielefeld, in meiner Heimatstadt, als die Urheber der Synagogenbrände bezeichnet wurden.


DR. HAENSEL: Von wem?


SEVERING: Von der Bevölkerung im allgemeinen, namentlich bezeichnet.


DR. HAENSEL: Sie haben von den Konzentrationslagern Kenntnis gehabt. Können Sie sich noch erinnern, wann zuerst? Es ist wichtig, das Jahr wenigstens festzustellen.

SEVERING: Nein, das kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich kann das nur an Hand der Anführung der einzelnen Daten Der erste Mordfall in einem Konzentrationslager ist mir bekanntgeworden, als ich erfuhr, daß im Konzentrationslager Papenburg der frühere Reichstagsabgeordnete und Polizeipräsident von Altona erschossen worden sei. Das kann aber 1935 oder 1936 gewesen sein, ich weiß das nicht mehr genau.


[297] DR. HAENSEL: Und haben Sie später zahlreiche solche Fälle gehört oder aus eigener Kenntnis erfahren?


SEVERING: Aus eigener Kenntnis, das heißt so gewiß, daß ich es mit gutem Gewissen dem Gericht als Material unterbreiten könnte, in den Fällen, die ich heute früh angeführt habe.


DR. HAENSEL: Hat man Ihnen gesagt, daß die Konzentrationslager Stätten seien, in denen politische Gegner des Regimes untergebracht werden sollten, ohne daß ihnen mehr geschähe als Freiheitsentzug?


SEVERING: Ob man mir das gesagt habe?


DR. HAENSEL: Ob man Ihnen das gesagt, ob Sie das gehört haben?


SEVERING: Nein, im Gegenteil, ich habe gehört, daß die Konzentrationslager in der Bevölkerung der Inbegriff alles Schrecklichen gewesen seien.


DR. HAENSEL: Was verstehen Sie unter »Bevölkerung«, verstehen Sie da auch Teile der Bevölkerung, die in irgendeiner offiziellen Beziehung zur Partei standen, kleine Parteimitglieder, kleine SA-Leute, kleine SS-Leute und so weiter?


SEVERING: Darüber kann ich nichts sagen, weil ich fast ausschließlich nur mit Gegnern des Systems Unterhaltungen gepflogen habe.


DR. HAENSEL: Glauben Sie, daß diese Gegner, mit denen Sie sich unterhalten haben, in einer einheitlichen Front gegen alles standen, was irgendein Parteiabzeichen oder ein Angehörigkeitsabzeichen trug?


SEVERING: Nein, diese eine Frage, Herr Rechtsanwalt, die Sie anrühren, berührt weite Schichten der Bevölkerung und das allgemeine menschliche Gefühl, das Gefühl auch der Empörung über die Dinge, die bis dahin aus den Lagern bekanntgeworden waren.


DR. HAENSEL: Meine Frage zielt dahin, ob diese Empörung nicht auch bei Leuten spürbar war, die ein Parteiabzeichen getragen haben?


SEVERING: Das nehme ich an, ich kann es nur nicht als Tatsache dem Gericht unterbreiten.


DR. HAENSEL: Aber standen auch diese Menschen unter dem enormen Druck, den Sie andeuteten?


SEVERING: Sie fühlten sich wahrscheinlich durch ihre Mitgliedschaft bei der Partei in gewissem Sinne immunisiert.


DR. HAENSEL: Glauben Sie, daß viele Leute Mitglied geworden sind, um in diese günstigere Immunisierung zu kommen?


[298] SEVERING: Ich glaube es, ja.


DR. HAENSEL: Ich habe gehört, Sie hätten selbst der NSV angehört; ist das richtig?


SEVERING: Nein.


DR. HAENSEL: Ist es richtig, waren Sie nach dem 20. Juli 1944 verhaftet?


SEVERING: Ich habe diese Frage heute früh schon beantwortet. Ich war nicht in Haft.


DR. HAENSEL: Sie waren überhaupt nicht verhaftet?


SEVERING: Mit Ausnahme des Falles, den ich ebenfalls heute früh angeführt habe.


DR. HAENSEL: Haben Sie sich einmal dahingehend geäußert, das, was in Deutschland auf sozialem Gebiet nach 1933 geschaffen sei, sei auch in großer Hinsicht das Ideal früherer Regierungen gewesen?


SEVERING: Ja, ich habe das so ausgedrückt: Was neu war, war nicht gut, und was gut war, war nicht neu.


DR. HAENSEL: Glauben Sie, daß ein Deutscher, einerlei, ob Parteigenosse oder SS-Angehöriger oder nicht, von den Vorfällen in Auschwitz, von denen Sie keine Kenntnis hatten, Kenntnis haben mußte?


SEVERING: Kenntnis haben mußte, nein, soweit möchte ich nicht gehen; vielleicht Kenntnis haben konnte.


DR. HAENSEL: Und wie meinen Sie »Kenntnis haben konnte«, wie?


SEVERING: Durch die Mitglieder der Transportkolonnen, die ja nicht immer an den Orten der Konzentrationslager blieben, sondern zurückgingen.


DR. HAENSEL: Und wenn diese nun unter strenger Schweigepflicht standen?


SEVERING: Dann konnten sie nichts erzählen.


DR. HAENSEL: Kennen Sie Fälle, wo Leute verurteilt wurden, die solche Dinge erzählt haben?


SEVERING: Nein.


DR. HAENSEL: Von einer Tätigkeit der Sondergerichte haben Sie nichts gehört?


SEVERING: Nein, jedenfalls nichts von dieser besonderen Tätigkeit der Sondergerichte.


[299] DR. HAENSEL: Aber in den Zeitungen standen doch oft diese Urteile über Schwarzhörer oder über solche Leute, die solche Gerüchte, wie man sagte, verbreiteten. Haben Sie die nicht gelesen?


SEVERING: Nein.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge, ich habe nur eine Frage an Sie zu richten. Sie sagten uns heute vormittag, daß Sie im Jahre 1919 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung waren. Darf ich Sie fragen, welche Stellung die Nationalversammlung und insbesondere die von Ihnen mitgeführte Fraktion der Sozialdemokraten zum österreichischen Anschlußproblem nahm?


SEVERING: Ich war in der Zeit der Tagungen der Weimarer Nationalversammlung Reichs- und Staatskommissar im Rheinland und in Westfalen und habe an den Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung nur selten teilnehmen können. Ich weiß deswegen nicht im einzelnen, wie diese Dinge paraphiert oder formuliert worden sind. Das aber weiß ich, daß es der fast einmütige Wille der Nationalversammlung war, einen Paragraphen oder einen Artikel in die Verfassung aufzunehmen, der den Anschluß Österreichs an Deutschland vollzog.


DR. STEINBAUER: Danke schön, ich habe keine weiteren Fragen.


VORSITZENDER: Wünscht die Anklagevertretung ein Kreuzverhör durchzuführen?


MAJOR ELWYN JONES: Herr Minister, Sie haben dem Gerichtshof erzählt, daß im Jahre 1928 der Angeklagte Raeder Ihnen feierlich versicherte, daß es keine weiteren Verletzungen des Versailler Vertrags ohne Kenntnis des Reichskabinetts geben würde. Hat Raeder diese Zusicherung gehalten?


SEVERING: Ich habe heute früh schon erklärt, daß ich das in diesem positiven Sinne nicht beantworten könnte. Ich kann nur so sagen, daß mir Verstöße gegen die Abmachungen vom 18. Oktober 1928 in der Marineleitung nicht bekanntgeworden sind.


MAJOR ELWYN JONES: Wußten Sie zum Beispiel von der Konstruktion eines 750-Tonnen-U-Bootes unter deutscher Leitung in Cadiz in Spanien, und zwar während der Jahre 1927 und 1931?


SEVERING: Nein, nein.


MAJOR ELWYN JONES: Euer Lordschaft, diese Tatsache wird durch Dokument D-854 belegt.

Und wußten Sie, Herr Minister, daß nach Fertigstellung im Jahre 1931 dieses U-Boot Versuchsfahrten unter deutscher Leitung mit deutschem Personal ausgeführt hat?


SEVERING: Nein, davon wußte ich ebenfalls nichts.


[300] VORSITZENDER: Ich glaube, er sagte, er wußte von keinen Verletzungen.


MAJOR ELWYN JONES: Ich halte Ihnen gewisse Dinge vor und gebe Ihnen zu bedenken, Herr Minister, daß Sie vielleicht doch während dieser Zeit getäuscht worden sind; stimmen Sie mit mir darin überein?


SEVERING: Ja, die Täuschung leugne ich nicht, aber ich muß auf das allerbestimmteste erklären, daß ich von einem Bau eines U-Bootes nichts gewußt habe.


MAJOR ELWYN JONES: Ich möchte, daß Sie Dokument C-156 ansehen. Das ist ein neuer Auszug aus dem Buch von Kapitän Schüssler: »Kampf der Marine gegen Versailles«. Die Eintragungen sind von Seite 43 und 44:

»1930 gelang es Bartenbach, auch in Finnland die Voraussetzungen für den Bau eines, den militärischen Forderungen der deutschen Marine entsprechenden U-Bootes zu schaffen. Der Chef der Mari neleitung, Admiral Dr. h. c. Raeder, entschloß sich auf Grund der Vorträge der Chefs des Allgemeinen Marineamtes, Konteradmiral Heusinger v. Waldegg und des Kapitäns Bartenbach, zur Hergabe der für den Bau des Bootes in Finnland erforderlichen Mittel. Für dieses Boot wurde ein 250-Tonnen-Projekt gewählt, so daß der Betrag von 11/2 Millionen RM für die Ausführung des Vorhabens genügte.

Grundlegend war dabei die Absicht, einen U- Bootstyp zu schaffen, der die unauffällige Vorbereitung einer möglichst großen Anzahl von Einheiten für denkbar kurzfristigen Zusammenbau gestattete.«

Herr Minister, wußten Sie, daß eineinhalb Millionen Reichsmark im Jahre 1930 im Zusammenhang mit diesem U-Bootbau ausgegeben wurden?

SEVERING: Ich habe heute früh erklärt, daß ich im Reichsministerium des Innern Minister gewesen war von 1928 bis 1930. Ich glaube, es ist notwendig, diese Daten näher zu präzisieren. Ich bin am 30. März 1930 ausgeschieden. Wenn hier das Jahr 1930 im allgemeinen genannt wird, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß alles, was hier angeführt wird, nach dem 30. März 1930 ausgeführt worden ist.

MAJOR ELWYN JONES: Sie sagten, daß die Wiederaufrüstung zur Zeit, als Sie der Deutschen Regierung angehörten, nur zu Verteidigungszwecken diente. Wann ist Ihnen zum Bewußtsein gekommen, daß die Wiederaufrüstung der nationalsozialistischen Regierung nicht defensiv, sondern aggressiv war? Zu welchem Zeitpunkt kamen Sie zu dieser Schlußfolgerung?


[301] SEVERING: Vom 30. Januar 1933 an; denn, daß die Wahl und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gleichzeitig Krieg bedeuten würde, stand bei mir und bei meinen politischen Freunden fest.


MAJOR ELWYN JONES: So daß Sie vom ersten Tag der Nazi-Macht an wußten, daß die Nazi-Regierung die Absicht hatte, Gewalt oder die Androhung von Gewalt anzuwenden, um ihre politischen Ziele zu erreichen; ist das richtig?


SEVERING: Ich weiß nicht, ob Wissen oder Überzeugtsein identisch ist. Ich war überzeugt davon und ebenso meine politischen Freunde.


MAJOR ELWYN JONES: Ich möchte noch eine oder zwei Fragen über den Angeklagten von Papen an Sie stellen. Hat Papen bei Durchführung des Staatsstreiches, der ihn im Juli 1932 zur Macht brachte, Gewalt angewandt?


SEVERING: Persönlich hat Herr von Papen diese Gewalt nicht ausgeführt, aber er hat sie angeordnet. Als ich am Morgen des 20. Juli 1932 mich weigerte, die Geschäfte des preußischen Innenministers freiwillig an den von Herrn von Papen ernannten Nachfolger abzugeben, da habe ich ihm erklärt, ich sei dazu nicht gesonnen, und um diesem Protest einen bestimmten Nachdruck zu verschaffen, habe ich weiter angeführt, daß ich nur der Gewalt weichen würde. Diese Gewaltanwendung geschah am 20. Juli abends in meinem Amtszimmer. Es erschien bei mir der neuernannte Polizeipräsident von Berlin in Begleitung von zwei Polizeioffizieren. Ich fragte die Herren, ob sie vom Reichspräsidenten und vom Reichskanzler ermächtigt seien, die Exekution zu vollziehen, und als sie mit »Ja« antworteten, habe ich erklärt, daß ich, um nicht die Parole zu einem Blutvergießen geben zu müssen, die Amtsräume verlassen würde.


MAJOR ELWYN JONES: Hat der Angeklagte Papen, als er die Macht erlangte, Polizei und Regierung von Anti-Nazis gesäubert?


SEVERING: Ja, es liegen viele Anzeichen dafür vor, daß die Absicht bestand, die Polizei von den republikanischen Elementen zu säubern und dafür Elemente in die Polizei hereinzubringen, die Herrn von Papen und später den Nationalsozialisten ergeben waren.


MAJOR ELWYN JONES: Ich möchte noch eine oder zwei Fragen über den Angeklagten Göring an Sie richten.

Der Angeklagte Göring hat am 13. März 1946 (Band IX, Seite 292 des Sitzungsprotokolls) ausgesagt, daß die Einrichtung der Schutzhaft in Deutschland existierte, bevor die Nazis zur Macht kamen. Ist das wahr?


SEVERING: Die Einrichtung der Schutzhaft existierte, ich möchte sagen, theoretisch, und zwar zuletzt formuliert in dem [302] preußischen Polizeiverwaltungsgesetz in Paragraph 15. Von einer Anwendung der Schutzhaft im normalen zivilen Leben ist in meiner Amtsführung niemals Gebrauch gemacht worden. Die Bestimmungen des Paragraphen 15 des Polizeiverwaltungsgesetzes besagten aber auch ausdrücklich, daß, wenn jemand in Schutzhaft genommen würde, die Verwaltung verpflichtet war, ihn in einem Zeitraum von 24 Stunden einem Gericht vorzuführen. Das ist in keinem Falle identisch mit der Schutzhaft, die jahrzehntelang über friedfertige Staatsbürger verhängt wurde.


MAJOR ELWYN JONES: Und natürlich gab es im Vor-Nazi-Deutschland keine Konzentrationslager, nehme ich an?


SEVERING: Niemals.


MAJOR ELWYN JONES: Wie viele Ihrer politischen Parteigenossen und Kollegen von der sozialdemokratischen Partei wurden in Konzentrationslagern ermordet, während Göring noch Chef der Gestapo war?


SEVERING: Die Schätzung darüber ist sehr schwierig; man könnte 500 nennen, man könnte auch 2000 nennen; verläßliche Angaben werden jetzt gesammelt. Nach meiner Schätzung sind mindestens 1500 Sozialdemokraten oder Gewerkschaftsfunktionäre oder Redakteure umgebracht worden.


MAJOR ELWYN JONES: Und wieviel kommunistische Führer wurden Ihrer Ansicht nach ermordet, solange Göring die Macht über die Gestapo hatte?


SEVERING: Ich möchte annehmen, daß, wenn man unter kommunistischen Führern auch Gewerkschaftsfunktionäre betrachtet, die sich zur kommunistischen Partei rechnen, ungefähr die gleiche Zahl herauskommen würde.


MAJOR ELWYN JONES: Hat Göring persönliche Kenntnis von diesen Morden gehabt?


SEVERING: Das kann ich nicht sagen. Wenn ich diese Frage beantworten wollte, müßte ich mich selbst fragen, was ich in dem Falle getan haben würde, in dem es zu meinen Obliegenheiten gehörte, Lager zu verwalten, in denen über das Schicksal von Zehntausenden entschieden wurde.

Ich weiß nicht, ob es hier für das Gericht von Interesse ist, aus meiner Praxis ein oder zwei Beispiele zu erzählen. Ich habe im Jahre 1925 ein Lager einrichten müssen für Flüchtlinge aus Polen.


MAJOR ELWYN JONES: Sie brauchen nicht darauf einzugehen, Herr Minister.


SEVERING: Nicht? Jedenfalls würde ich es als meine erste, höchste Aufgabe angesehen haben, zu forschen, ob nach den Grundsätzen der Menschlichkeit vorgegangen worden ist. Ich habe nicht [303] den Eindruck gehabt, als ob das geschehen sei. Meine Polizeibeamten habe ich stets darauf aufmerksam gemacht, daß sie Diener des Volkes seien, daß jeder in diesen Lagern menschlich behandelt werden müßte. Ich sagte Ihnen, daß in Deutschland nie wieder der Ruf erschallen solle: Schutz vor Schutzleuten!, und ich habe selbst Strafanzeige gegen Schutzpolizeibeamte oder andere Beamte erstattet, wenn ich den Eindruck bekam, daß wehrlose Gefangene durch die Schutzpolizei mißhandelt worden waren.


MAJOR ELWYN JONES: Sind Sie als Innenminister mit dem organisierten Terror der SA gegen die nicht-nationalsozialistische Bevölkerung Deutschlands in den Jahren nach 1921 bekanntgeworden?


SEVERING: O ja, die Beobachtung der sogenannten Wehrorganisationen war ja in den Jahren meiner Amtstätigkeit in Preußen eine meiner wichtigsten Aufgaben. Als die roheste Organisation von allen Wehrorganisationen hat sich die SA herausgestellt. Sie sang Lieder wie: »Die Straße frei den braunen Bataillonen«, und mit derselben Arroganz, wie sie diese Lieder sang, erzwang sie sich auch die Freiheit der Straßen überall dort, wo sie auf keine nennenswerte Gegenwehr stieß. Ein anderes rohes Lied war auch scheinbar ihr Programm: »Hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand«. So hat die SA überall dort, wo sie ungehindert ihren Terror entfalten konnte, auch gerast. Sie hat Saalschlachten geliefert gegen Andersdenkende; das waren nicht die gewöhnlichen Plänkeleien zwischen politischen Parteien in Wahlkämpfen, sondern das war organisierter Terror. Sie hat bei dem ersten Judenboykott 1933 Wache gestanden, um diejenigen Bevölkerungsteile vom Kauf in Warenhäusern abzuschrecken, die normal in diesen Häusern zu kaufen gewohnt waren. Sie hat, wie es ja wohl schon gerichtsbekannt ist, auch die Terrorsachen des 8. November 1938 organisiert. Sie hat aber auch 1930 zahlreiche jüdische Geschäftsläden in Berlin beschädigt, vielleicht als Einleitung zum Zusammentritt des Reichstages, in den bekanntlich damals die Nationalsozialisten mit einer Stärke von 107 Mann einzogen.


MAJOR ELWYN JONES: Zum Schluß möchte ich eine oder zwei Fragen über den Angeklagten Schacht an Sie richten.

Wann haben Sie erstmals von Schachts Beziehungen zu den Nazi-Führern erfahren?


SEVERING: Ich habe im Jahre 1931 Mitteilung von der Polizeiverwaltung Berlin bekommen, daß Besprechungen stattgefunden hätten zwischen Herrn Schacht und Führern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.


MAJOR ELWYN JONES: Haben Sie im Jahre 1944 irgendeine Verbindung mit Schacht gehabt?


[304] SEVERING: Nein, ich habe diese Verbindung, wenn das hier interessiert, sogar abgelehnt. Herr Schacht war mir in politischen Dingen, obgleich ich in ihm den Fachmann schätzte, in politischen Dingen als unsicherer Kantonist bekannt. Herr Schacht hat die Sache der Demokratie durch seinen Beitritt zur Harzburger Front verraten. Das war nicht nur ein Akt der Undankbarkeit, denn nur durch die Demokratie ist er zum Posten des Reichsbankpräsidenten gekommen, sondern es war auch ein großer Fehler, weil er, und andere in der gleichen gesellschaftlichen Position, durch die Beteiligung an der Harzburger Front erst sozusagen die Nationalsozialisten salonfähig gemacht haben. Ich konnte eine Verbindung mit Schacht zum 20. Juli 1944 darum nicht eingehen und habe, als im März 1943 an mich das Ersuchen gerichtet wurde, in eine Regierung einzutreten, die den Sturz Hitlers herbeiführen sollte, mit Berufung auf diese Machenschaften von Schacht und auf Berufung auf andere Umstände, ausdrücklich abgelehnt.


MAJOR ELWYN JONES: Was waren Ihre Gründe dafür?


SEVERING: Ich habe diese Gründe eben schon angedeutet. Mein Freund Leuschner, der neben anderen jungen Sozialdemokraten, von Harnack, Weber und Maas gehängt worden ist... mit meinem Freund Leuschner habe ich die Zusammensetzung einer solchen Regierung besprochen. Leuschner teilte mir mit, daß ein General wahrscheinlich Reichspräsident und ein anderer Kriegsminister werden würde. Ich habe darauf hingewiesen, daß man dann wahrscheinlich Herrn Schacht die Rolle eines Finanzdiktators oder eines Wirtschaftsdiktators zuweisen würde, weil vorher schon die Eignung des Herrn Schacht für einen solchen Posten bewiesen werden sollte durch seine wirklichen oder angeblichen Verbindungen mit amerikanischen Geschäftskreisen. Diese Verbindungen aber zwischen Herrn Dr. Schacht und, um es im nationalsozialistischen Jargon zu sagen, zwischen Plutokratie und Militarismus, diese Verbindung schien mir für die Sache der Demokratie, insbesondere für die Sache der Sozialdemokraten so kompromittierend, daß ich unter keinen Umständen in einem Kabinett Mitglied werden wollte, in dem Herr Schacht Finanzdiktator hätte werden sollen.


MAJOR ELWYN JONES: Danke sehr.


VORSITZENDER: Wollen Sie ein Rückverhör anstellen?


DR. SIEMERS: Herr Minister Severing! Der Anklagevertreter hat eben von einem U-Bootbau in Finnland und einem U-Bootbau in Cadiz gesprochen. Bezüglich des U-Bootbaues in Cadiz hat er sich auf D-854 bezogen. Ich vermute, daß Ihnen diese Urkunde nicht bekannt ist.


VORSITZENDER: Dr. Siemers, der Zeuge sagte, daß er nichts von diesen beiden Dingen wußte.


[305] DR. SIEMERS: Danke schön.

Erinnern Sie sich nicht, daß zwischen Großadmiral Raeder und Reichswehrminister Groener in dieser Unterhaltung von dem Finnland-U-Boot gesprochen worden ist?


SEVERING: Ich entsinne mich nicht.


DR. SIEMERS: Das wissen Sie nicht?

Eine grundsätzliche Frage: Ist es richtig, daß die Vereinbarung, die am 18. Oktober 1928 getroffen wurde, dahinging, daß der Chef der Marineleitung verpflichtet wurde, den Reichswehrminister zu orientieren, und daß der Reichswehrminister seinerseits die anderen Kabinettsmitglieder orientierte?


SEVERING: Soweit ich mich entsinne, ging die Vereinbarung oder das Versprechen der beiden Chefs der Heeresleitung dahin, das Kabinett überhaupt über alle Fragen auf dem laufenden zu halten. Technisch war das nur so möglich, wie Sie, Herr Rechtsanwalt, es eben andeuteten, daß also zunächst der Wehrminister Mitteilung bekam und daß der Wehrminister seine Information an das Kabinett weiterleitete.


DR. SIEMERS: Also bestand keine Verpflichtung von Raeder, Ihnen laufend Vorträge zu halten, oder vor dem Kabinett zu erscheinen?


SEVERING: Das wäre eine ganz unmögliche Maßnahme gewesen, wie diese Kabinettssitzung vom 18. Oktober ja schon an sich ungewöhnlich war. Die Kabinettsmitglieder setzten sich nur zusammen aus den Ministern oder ihren amtlichen Vertretern.


DR. SIEMERS: Die weitere Behandlung lag also technisch immer beim Reichswehrminister?


SEVERING: Technisch beim Reichswehrminister, politisch beim Kabinett.


DR. SIEMERS: Danke schön.

Ich habe keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen.


DR. EGON KUBUSCHOK, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON PAPEN, VERTEIDIGER FÜR DIE REICHSREGIERUNG: Auf welcher gesetzlichen Anordnung beruhte die Enthebung Ihrer Person von den Pflichten des Innenministers in Preußen am 20. Juli 1932?


SEVERING: Die Entbindung von den Pflichten?


DR. KUBUSCHOK: Ja, die Entbindung von den Pflichten.


SEVERING: Auf Grund des Artikels 48.


DR. KUBUSCHOK: Wer hat auf Grund des Artikels 48 Notverordnungen erlassen?


[306] SEVERING: Diese Notverordnung wurde vom Reichspräsidenten erlassen, der ja allein dazu berechtigt war.


DR. KUBUSCHOK: Beruht die Tatsache, daß Sie am 20. Juli unter den geschilderten Umständen aus Ihren Amtsräumen entfernt worden sind, auf der Tatsache, daß die Anordnenden von Papen und Hindenburg auf dem Standpunkt standen, daß die Notverordnung rechtens war, während Sie auf dem Standpunkt standen, daß die gesetzmäßige Grundlage für die Notverordnung nicht vorhanden war und daß Sie infolgedessen weiterhin in Ihren Amtsräumen blieben?


SEVERING: Ich war der Meinung, der ja auch später das Reichsgericht beigetreten ist, daß der Reichspräsident wohl ermächtigt war, auf Grund des Artikels 48 Verordnungen zu erlassen für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung. Und wenn er in den preußischen Ministern, insbesondere in meiner Person als Polizeiminister, keine genügende Garantie erblickte, daß die Ruhe und Ordnung in Preußen gewährleistet war, dann hatte er das Recht, uns von den Funktionen der Polizei, insbesondere aber auch von anderen Exekutivmaßnahmen auszuschließen. Er hatte aber nicht das Recht, uns als Minister abzusetzen.


DR. KUBUSCHOK: Ist Ihnen bekannt, daß das höchste Gericht, der Staatsgerichtshof, am 25. Oktober 1932 eine Entscheidung dahin erlassen hat, daß die Verordnung des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 mit der Reichsverfassung vereinbar ist, soweit sie den Reichskanzler zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt und ihn ermächtigt, preußischen Ministern vorübergehend Amtsbefugnisse zu entziehen und diese Befugnisse selbst zu übernehmen?


SEVERING: Ich habe eben sinngemäß diesen Beschluß des Reichsgerichts schon zitiert.


DR. KUBUSCHOK: Noch eine Frage. Hat Herr von Papen damals als Reichskommissar, als er in einem gewissen Umfange Personalveränderungen vornahm, Nationalsozialisten in die Polizei berufen?


SEVERING: Das ist mir nicht bekannt, denn der politische Charakter der Polizeibeamten war nicht äußerlich erkennbar. Das war wohl der Fall bei Oberpräsidenten, bei Regierungspräsidenten und Polizeipräsidenten, aber nicht bei jedem Schutzpolizeibeamten schlechthin.


DR. KUBUSCHOK: Ist es richtig, daß Herr von Papen in die Schlüsselstellung des Berliner Polizeipräsidenten den früheren Essener Polizeipräsidenten Melcher berufen hat, also einen Mann, der bereits unter Ihrer Leitung in einer Großstadt Polizeipräsident war?

[307] Ich wiederhole. Ist es richtig, daß Herr von Papen auf den Posten des Berliner Polizeipräsidenten den vorherigen Essener Polizeipräsidenten Melcher berufen hat, der also bereits unter Ihrer Zeit Polizeipräsident einer großen Stadt gewesen ist?


SEVERING: Das ist richtig.


DR. KUBUSCHOK: Ich danke.


VORSITZENDER: Der Zeuge kann sich jetzt zurückziehen und der Gerichtshof wird sich vertagen.

Wie viele Zeugen haben Sie noch?


DR. SIEMERS: Ich habe jetzt noch die Zeugen Freiherrn von Weizsäcker und Vizeadmiral Schulte-Mönting, den Chef des Stabes. Die Vernehmung von Schulte-Mönting wird ja länger dauern, die Vernehmung von Freiherrn von Weizsäcker wird bei mir an sich kurz dauern.


VORSITZENDER: Gut.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. SIEMERS: Ich darf das Hohe Gericht bitten, den Zeugen Freiherrn von Weizsäcker zu rufen.


[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]


VORSITZENDER: Wollen Sie bitte Ihren vollen Namen sagen?

ZEUGE ERNST FREIHERR VON WEIZSÄCKER: Ernst von Weizsäcker.


VORSITZENDER: Wollen Sie mir folgenden Eid nachsprechen: Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzufügen werde.


[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]


DR. SIEMERS: Baron von Weizsäcker, Sie waren bei Kriegsausbruch Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Ist das richtig?

VON WEIZSÄCKER: Ja.


DR. SIEMERS: Sie werden sich erinnern, daß am 3. September 1939, also am ersten Tage des Krieges zwischen England und Deutschland, das englische Passagierschiff »Athenia« nordwestlich von Schottland torpediert wurde. Auf diesem Schiff befanden sich amerikanische Passagiere. Die Versenkung erregte naturgemäß großes Aufsehen. Ich bitte Sie, dem Gericht mitzuteilen, wie die Angelegenheit politisch behandelt wurde, und zwar durch Sie.


VON WEIZSÄCKER: Ich erinnere mich an diesen Fall, bin jedoch nicht sicher, ob es ein britisches oder ein amerikanisches Schiff war. Jedenfalls hat dieser Fall mich damals sehr alarmiert. [308] Ich erkundigte mich bei der Seekriegsleitung, ob irgendein deutsches Kriegsschiff ein Verschulden haben könnte bei der Versenkung. Nachdem das verneint war, habe ich den amerikanischen Geschäftsträger zu mir gebeten, Herrn Alexander Kirk, um ihm mitzuteilen, daß ein deutsches Kriegsschiff an dem Untergang der »Athenia« nicht beteiligt sein könne. Ich bat den Geschäftsträger, davon Kenntnis zu nehmen und alsbald entsprechend nach Washington zu kabeln mit der Bemerkung, daß eine solche Mitteilung sehr wichtig sei in unserem gemeinsamen, im deutschen und amerikanischen Interesse.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, Sie hatten sich vorher mit der Marine in Verbindung gesetzt?


VON WEIZSÄCKER: Ja.


DR. SIEMERS: Haben Sie bei diesem ersten Gespräch mit Großadmiral Raeder selbst gesprochen oder irgendeinem anderen Offizier?


VON WEIZSÄCKER: Das wüßte ich nicht mehr zu sagen, jedenfalls habe ich die bindende Auskunft bekommen; dieses Detail könnte ich nicht mehr angeben. Ich habe aber die bindende Auskunft bekommen, daß ein deutsches Kriegsfahrzeug unbeteiligt sei. Das genügte mir.


DR. SIEMERS: Sind Sie anschließend am gleichen Tage oder kurz darauf zu einem Besuch bei Großadmiral Raeder gewesen und haben die Angelegenheit noch mit ihm besprochen?


VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, mich dessen zu erinnern, jawohl.


DR. SIEMERS: Hat Raeder Ihnen bei dieser Gelegenheit gesagt, daß es kein deutsches U-Boot sein könne, weil die Meldungen der U-Boote dahingingen, daß die Entfernung des nächsten U-Bootes zu groß sei, nämlich etwa 75 Seemeilen betrug?


VON WEIZSÄCKER: Raeder hat mich dahin informiert, daß ein deutsches U-Boot nicht beteiligt sein könne. Die Details über den Abstand des Versenkungsortes von dem Aufenthalt der U-Boote mag er angegeben haben, ohne daß ich das heute noch bestimmt sagen könnte.


DR. SIEMERS: Haben Sie bei dieser Besprechung mit Raeder auch darüber gesprochen, daß alles getan werden müsse, um einen Krieg mit USA zu vermeiden oder gar Zwischenfälle, wie die der »Lusitania« im vorigen Kriege?


VON WEIZSÄCKER: Das habe ich ganz sicher mit Emphase getan, denn mir schwebte um diese Zeit die Erinnerung an vergangene, entsprechende Vorgänge aus dem ersten Weltkrieg noch sehr lebhaft vor. Ich habe ihn bestimmt auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam gemacht, jede Seekriegshandlung zu vermeiden, die geeignet wäre, den Krieg noch weiter auszudehnen [309] und, wie ich es damals immer nannte, die neutrale Substanz zu verringern.


DR. SIEMERS: War Raeder der gleichen Meinung wie Sie?


VON WEIZSÄCKER: Nach meiner besten Erinnerung, ja.


DR. SIEMERS: Sind Sie überzeugt, Herr von Weizsäcker, daß Raeder Ihnen wahrheitsgemäße Angaben über das machte, was er Ihnen über die »Athenia« sagte?


VON WEIZSÄCKER: Selbstverständlich.


DR. SIEMERS: Nun kehrte am 27. September 1939 das U-Boot Nummer 30 von seiner Feindfahrt zurück, also etwa drei Wochen nach der Versenkung, und der Kommandant meldete, daß er infolge eines Versehens die »Athenia« versenkt habe. Er hätte dies aber nicht gleich gemerkt, sondern erst nachträglich durch die verschiedenen Funkmeldungen. Nun erfuhr Ende September Raeder von dieser Tatsache und besprach es mit Hitler, um festzustellen, wie man sich nun verhalten sollte. Hitler gab den Befehl, zu schweigen. Dies alles ist hier schon besprochen. Ich bitte Sie, mir zu sagen, ob Sie von dieser nachträglich festgestellten Tatsache der Versenkung durch ein deutsches U-Boot Kenntnis erhalten haben?


VON WEIZSÄCKER: Nein, keinesfalls.


DR. SIEMERS: Haben Sie von dem Befehl Hitlers, zu schweigen, Kenntnis erhalten?


VON WEIZSÄCKER: Das natürlich auch nicht.


DR. SIEMERS: Ich lasse Ihnen nun das Dokument 3260-PS überreichen und darf Sie bitten, sich dieses Dokument anzusehen. Es ist der Artikel »Churchill versenkt die Athenia« aus dem »Völkischen Beobachter« vom 23. Oktober 1939. Erinnern Sie sich an diesen Artikel? Lesen Sie ihn erst bitte durch.


VON WEIZSÄCKER: Ja, vielleicht darf ich ihn erst durchsehen.


DR. SIEMERS: Herr Präsident! Zur Orientierung des Gerichts darf ich sagen, es ist GB-218 im britischen Dokumentenbuch 10a, Seite 97 – richtig, Seite 99.


[Zum Zeugen gewandt:]


Sie haben diesen Artikel gelesen, Herr von Weizsäcker, und ich darf Sie bitten, mir zu sagen, erinnern Sie sich an den Artikel, daß Sie ihn seinerzeit gelesen haben?

VON WEIZSÄCKER: Ich erinnere mich, daß ein solcher Artikel damals erschienen ist.

DR. SIEMERS: Dann darf ich Sie weiter fragen, wie war Ihre Einstellung, als Sie von diesem Artikel seinerzeit Kenntnis erhielten?


VON WEIZSÄCKER: Ich habe ihn als eine perverse Phantasie betrachtet.


[310] DR. SIEMERS: Sie haben also diesen Artikel verurteilt?


VON WEIZSÄCKER: Selbstverständlich.


DR. SIEMERS: Obwohl Sie seinerzeit noch nicht wußten, daß es ein deutsches U-Boot war?


VON WEIZSÄCKER: Die Frage, ob das ein deutsches U-Boot war oder nicht, konnte auf mein Urteil über den Artikel keinen Einfluß haben.


DR. SIEMERS: Sie halten den Artikel demnach auch für verwerflich, wenn es kein deutsches U-Boot gewesen war?


VON WEIZSÄCKER: Selbstverständlich.


DR. SIEMERS: Die Anklage behauptet nun, daß Großadmiral Raeder diesen Artikel veranlaßt hätte, und macht ihm daraus einen ganz besonders schweren moralischen Vorwurf, der besonders deshalb schwer wiegt, weil Raeder, wie wir gesehen haben, im Gegensatz zu Ihnen, zu dieser Zeit wußte, daß es ein deutsches U-Boot war, das die Versenkung vorgenommen hatte. Halten Sie eine solche Handlung Raeders für möglich? Daß er also den Artikel veranlaßt hat?


VORSITZENDER: Einen Augenblick, Dr. Siemers, Sie können den Zeugen nur darüber befragen, was er wußte und was er tat. Sie können aber nicht verlangen, daß er errät, was Raeder getan hat.


DR. SIEMERS: Entschuldigen Sie, Herr Präsident, ich dachte, mit Rücksicht auf das Affidavit von heute morgen sei besprochen, daß auch eine Meinungsäußerung möglich sei; aber ich sehe dann selbstverständlich davon ab.


VORSITZENDER: Von welchem Affidavit sprechen Sie?


DR. SIEMERS: Das Affidavit, bei dem ich heute morgen den Antrag stellte, die Meinungsäußerung zu streichen; das Affidavit von Dietmann.


VORSITZENDER: Das ist eine ganz andere Angelegenheit.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, haben Sie seinerzeit gehört, daß Raeder diesen Artikel veranlaßt hat?

VON WEIZSÄCKER: Nein, das habe ich nicht gehört und hätte es auch nie geglaubt. Ich halte das für ganz ausgeschlossen, daß er einen derartigen Artikel veranlaßt oder geschrieben haben könnte.


DR. SIEMERS: Ist nach Ihrer Kenntnis dieser Artikel ausschließlich auf das Propagandaministerium zurückzuführen?


VON WEIZSÄCKER: Ich kann die Frage nur negativ beantworten, nicht auf Raeder und nicht auf das Auswärtige Amt.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, können Sie beurteilen, hat es sich bei den geschichtsbekannten Verstößen der Marine gegen [311] den Versailler Vertrag um erhebliche, schwerwiegende Punkte gehandelt?


VON WEIZSÄCKER: Die Frage kann ich nur indirekt beantworten. Die Details sind mir nicht bekannt. Ich halte es aber für kaum denkbar, daß es irgendwie wichtige oder schwere Verstöße gewesen sein könnten, denn gerade das Marinegebiet ist in Bezug auf die Innehaltung von vertraglichen Abmachungen besonders leicht kontrollierbar. Man kann nicht Schiffe bauen, ohne daß das gesehen wird. Ich muß also annehmen, daß diese Verstöße geringer Natur waren.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, hat nach Ihrer Meinung der Angeklagte Raeder einen Angriffskrieg vorbereitet oder ist Ihnen ein Fall bekannt, aus dem sich die Einstellung Raeders...


VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers: gerade das ist die Anklage gegen den Angeklagten Raeder, über die der Gerichtshof zu entscheiden hat.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, haben Sie sich im Februar 1939 im Zuge von Hamburg nach Berlin mit Großadmiral Raeder unterhalten, aus welchem Anlaß war dies, und was wurde besprochen?


VON WEIZSÄCKER: Es stimmt, daß ich mit dem Admiral Raeder in dem Zuge von Hamburg nach Berlin zusammentraf, als in Hamburg ein Stapellauf stattgefunden hatte. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir der Admiral, daß er soeben einen Vortrag bei Hitler gehalten habe. In diesem Vortrag habe er dargetan, daß der Rüstungsstand der Marine auf Jahre hinaus einen Krieg gegen England verbiete. Ich nehme an, daß die Beantwortung dessen bedeutet, was Sie von mir hören möchten.


DR. SIEMERS: Das war im Februar 1939?


VON WEIZSÄCKER: Es war der Stapellauf des Schiffes »Bismarck«.


DR. SIEMERS: Dann ist es gerichtsbekannt, weil der Stapellauf des »Bismarck« in den Akten vermerkt ist.

VON WEIZSÄCKER: Es muß im Frühjahr, im Februar oder März, gewesen sein.


DR. SIEMERS: Sind Sie damals durch diese Erklärung von Raeder beruhigt worden?


VON WEIZSÄCKER: Ich habe diese Erklärung von Raeder sehr gerne gehört, denn sie konnte keinen anderen...


VORSITZENDER: Gut, es interessiert uns nicht, ob es ihn beruhigt hat oder nicht.


[312] DR. SIEMERS: Hat Raeder nach Ihrer Meinung und nach Ihrer Kenntnis als Marinefachmann oder als Politiker Einfluß auf Hitler gehabt?


VORSITZENDER: Dr. Siemers, der Zeuge kann uns sagen, was Raeder gesagt hat, aber er kann kaum sagen, in welcher Eigenschaft er sprach, als Admiral oder als Politiker. Wenn Sie wissen wollen, ob er in Uniform war...


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, haben Sie irgendwelche Unterhaltungen mit Raeder geführt oder mit anderen Persönlichkeiten?


VON WEIZSÄCKER: Worüber?


DR. SIEMERS: Über den Einfluß von Raeder auf Hitler?

VON WEIZSÄCKER: Es war bekannt, daß politische Argumente, von Soldaten vorgebracht, auf Hitler schwerlich Einfluß haben konnten, wohl dagegen militärisch-technische. Und in diesem Sinne mag ein Einfluß ausgeübt worden sein.


DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, im Winter 1938/1939 fand das übliche große Diplomatenessen in Berlin statt, bei dem Sie – soweit ich weiß – zugegen gewesen sind. Hier hat Raeder mit Sir Nevile Henderson gesprochen, und zwar über die Frage der eventuellen Rückgabe der Kolonien.


VORSITZENDER: Dr. Siemers, warum fragen Sie ihn nicht, anstatt es ihm zu sagen. Sie sagen ihm ja, was passiert ist.


DR. SIEMERS: Nein.


VORSITZENDER: Doch, Sie tun es.


DR. SIEMERS: Nein, Verzeihung, dieses Gespräch war zwischen Raeder und Sir Nevile Henderson, nicht zwischen Herrn von Weizsäcker und Henderson.

Ich frage jetzt: Herr von Weizsäcker, haben Sie derartige Gespräche mit Sir Nevile Henderson geführt oder sonst mit britischen Diplomaten? Oder wissen Sie etwas über deren Einstellung?


VON WEIZSÄCKER: Ich kann mich nicht erinnern, mit britischen Diplomaten über die Kolonialfrage meinerseits gesprochen zu haben. Dagegen ist mir natürlich geläufig, daß in den Jahren 1934 bis 1939 die Kolonialfrage von der Britischen Regierung wiederholt offiziell oder offiziös oder halboffiziös behandelt und in einem entgegenkommenden elastischen Sinne erörtert wurde. Ich glaube mich zum Beispiel zu erinnern, in einem Protokoll über den Besuch zweier britischer Minister in Berlin gelesen zu haben, daß auch hierbei die Kolonialfrage in entgegenkommender Weise erörtert wurde.


[313] DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker, können Sie etwas über das Verhalten der Marine und das Ansehen der Marine während der norwegischen Besetzung sagen?


VON WEIZSÄCKER: Eine Okkupationsmacht hat es immer schwer, populär zu sein. Aber mit dieser Reserve hat die Marine, soweit ich gehört habe, in Norwegen einen guten, oder sogar sehr guten Ruf genossen. Das ist mir von norwegischen Freunden während des Krieges wiederholt bestätigt worden.


DR. SIEMERS: Sie haben diese norwegischen Freunde aus Ihrer Zeit als Gesandter in Oslo. Wann war das?


VON WEIZSÄCKER: 1931 bis 1933 war ich Gesandter in Oslo.


DR. SIEMERS: Nun eine letzte Frage: Es ist gestern eine Urkunde vorgelegt worden, D-843. Sie ist unterzeichnet von Bräuer, der seinerzeit im März 1940 bei der Gesandtschaft in Oslo war. Ich darf Ihnen diese Urkunde eben zeigen.


VON WEIZSÄCKER: Soll ich sie ganz lesen?


DR. SIEMERS: Wenn Sie sie überfliegen würden, wird es, glaube ich, genügen. Hauptsächlich den mittleren Teil der Urkunde.

Herr Präsident! Es ist GB-466. Die Urkunde wurde gestern überreicht. Bräuer sagt nach dieser Urkunde, daß die Gefahr einer englischen Landung in Norwegen nicht so groß sei, wie von anderer Seite angenommen und spricht nur von Maßnahmen, durch die Deutschland provoziert werden soll.


[Zum Zeugen gewandt:]


Was können Sie zu diesen Äußerungen Bräuers sagen? Sind die Äußerungen richtig?

VON WEIZSÄCKER: Bräuer war nicht bei der Gesandtschaft, er war der Gesandte selbst, und daß er objektiv oder – ich will sagen – subjektiv richtig berichtet hat, setze ich als selbstverständlich voraus. Ob objektiv diese Nachrichten zutrafen, ist eine andere Frage, das heißt auf deutsch, ob Bräuer über die Absichten gegnerischer Wehrmachtsteile richtig informiert gewesen ist, das ist eine andere Frage.

DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker! Und was stellte sich, so wie Sie es vom Auswärtigen Amt erfuhren, nachträglich heraus? Waren die Besorgnisse Raeders richtig, oder war die Darstellung Bräuers richtig?


VON WEIZSÄCKER: Ich muß gestehen, daß meine persönliche Auffassung derjenigen Bräuers entsprach, daß sie sich aber nachträglich nicht als richtig erwies, sondern daß die Vermutungen der Marine damals berechtigt waren oder berechtigter waren als das Urteil, das der Gesandte abgegeben hat.


[314] DR. SIEMERS: Ich danke Ihnen schön.

Ich habe keine weiteren Fragen, Herr Präsident.


VORSITZENDER: Wünscht noch ein Verteidiger Fragen zu stellen?


DR. ALFRED SEIDL, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN HESS UND FRANK: Herr Zeuge! Am 23. August 1939 wurde zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein Nichtangriffsvertrag abgeschlossen. Wurden außer diesem Nichtangriffsvertrag an diesem Tage zwischen den beiden Regierungen auch noch andere Abmachungen getroffen?

GENERAL R. A. RUDENKO, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Herr Vorsitzender! Der Zeuge wurde zur Beantwortung bestimmter Fragen, welche im Antrag von Dr. Siemers enthalten sind, vorgeladen. Meiner Ansicht nach hat die Frage, die ihm jetzt durch den Verteidiger Dr. Seidl vorgelegt wird, nichts mit dem von uns untersuchten Fall zu tun, und sie sollte daher abgewiesen werden.


VORSITZENDER: Sie können die Frage stellen, Dr. Seidl, die Sie stellen wollten.


DR. SEIDL: Ich frage Sie nochmal, Herr von Weizsäcker, wurden am 23. August 1939 zwischen den beiden Regierungen auch noch andere Abmachungen getroffen, die nicht im Nichtangriffspakt enthalten sind?


VON WEIZSÄCKER: Ja.


DR. SEIDL: Worin waren diese Abmachungen enthalten?


VON WEIZSÄCKER: Diese Abmachungen waren enthalten in einem Geheimprotokoll.


DR. SEIDL: Haben Sie selbst dieses geheime Protokoll in Ihrer Eigenschaft als Staatssekretär im Auswärtigen Amt gelesen?


VON WEIZSÄCKER: Ja.

DR. SEIDL: Ich habe in meinen Händen einen Text, von dem der Botschafter Gaus kaum einen Zweifel hat, daß hier diese Abmachungen richtig wiedergegeben sind.

Ich werde Ihnen diesen Text vorhalten.


VORSITZENDER: Einen Augenblick, welches Dokument legen Sie ihm vor?


DR. SEIDL: Es handelt sich um das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939.


VORSITZENDER: Ist das nicht das Dokument... Was ist das für ein Dokument, das Sie jetzt dem Zeugen vorlegen? Es gibt ein Dokument, welches Sie bereits dem Gerichtshof vorgelegt haben und welches zurückgewiesen worden ist. Ist das dasselbe Dokument?


[315] DR. SEIDL: Es ist das Schriftstück, das ich im Dokumentenbeweis dem Gericht unterbreitet habe, und das vom Gericht als Dokument abgelehnt wurde, und zwar offenbar – ich nehme an – deshalb, weil ich mich geweigert habe, die Herkunft dieses Dokuments anzugeben. Das Gericht hatte mir aber genehmigt, daß ich eine neue eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus vorlege zu diesem Gegenstande.


VORSITZENDER: Haben Sie das nicht getan? Sie haben es nicht getan?

DR. SEIDL: Nein, ich möchte aber jetzt zur Unterstützung des Gedächtnisses des Zeugen, im Zuge der Zeugenvernehmung, diesen Text verlesen und im Anschluß daran den Zeugen fragen, ob nach seiner Erinnerung in diesem Schriftstück diese geheimen Abmachungen richtig wiedergegeben sind.


GENERAL RUDENKO: Hoher Gerichtshof! Ich möchte gegen diese Frage aus zwei Gründen protestieren:

Erstens behandeln wir hier den Fall der deutschen Hauptkriegsverbrecher und nicht die Außenpolitik von anderen Staaten.

Zweitens wurde das Dokument, das Dr. Seidl dem Zeugen vorzulegen versucht, bereits vom Gerichtshof abgewiesen, da es eigentlich ein gefälschtes Dokument ist und deshalb keinen Beweiswert haben kann.


DR. SEIDL: Darf ich dazu vielleicht folgendes sagen, Herr Präsident. Dieses Dokument ist ein wesentlicher Bestandteil des Nichtangriffsvertrages, der von der Anklage bereits als Beweisstück vorgelegt wurde unter GB-145. Wenn ich nun dem Zeugen den Text vorlege...


VORSITZENDER: Die einzige Frage ist, ob es das Dokument ist, welches vom Gerichtshof zurückgewiesen wurde. Ist es nun das Dokument, das vom Gerichtshof abgelehnt wurde?

DR. SEIDL: Es wurde als Beweisstück im Rahmen des Dokumentenbeweises nicht zugelassen.


VORSITZENDER: Gut, dann ist die Antwort »Ja«.


DR. SEIDL: Aber es scheint mir ein Unterschied zu bestehen zu der Frage, ob bei der Zeugenvernehmung dem Zeugen dieses Dokument vorgehalten werden kann. Ich möchte diese Frage deshalb bejahen, weil die Anklagevertretung im Kreuzverhör ihrerseits die Möglichkeit hat, dem Zeugen das in ihren Händen befindliche Dokument vorzuhaben, und es wird sich dann auf Grund der Aussagen des Zeugen ergeben, welcher Text der richtige ist, oder ob die beiden Texte übereinstimmen.


VORSITZENDER: Wo kommt das Dokument, das Sie jetzt vorlegen wollen, her?


[316] DR. SEIDL: Ich habe das Dokument vor einigen Wochen bekommen, von einem mir zuverlässig erscheinenden Mann von der alliierten Seite. Ich habe es aber nur unter der Bedingung bekommen, daß ich die genauere Herkunft nicht angebe, und es scheint mir das auch durchaus verständlich.


VORSITZENDER: Sie sagen, Sie hätten es vor einigen Momenten bekommen?


DR. SEIDL: Vor einigen Wochen.

VORSITZENDER: Ist es dasselbe Dokument, von dem Sie eben gesagt haben, Sie hätten es dem Gerichtshof vorgelegt und der Gerichtshof habe es zurückgewiesen?


DR. SEIDL: Ja, aber das Gericht hat auch entschieden, daß ich über diesen Gegenstand eine neue eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus vorlegen darf, und diese Entscheidung hat ja nur dann einen Sinn...


VORSITZENDER: Ich weiß, aber Sie taten es nicht. Wir wissen nicht, welches Affidavit Dr. Gaus gegeben hat.


DR. SEIDL: Ich habe bereits die eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus, die neue; sie ist aber noch nicht übersetzt worden.


MR. DODD: Herr Präsident! Ich stimme mit General Rudenko durchaus überein, wenn er Einspruch gegen die Verwendung dieses Dokuments erhebt. Wir wissen heute, daß es aus irgendeiner anonymen Quelle stammt. Die Quelle kennen wir überhaupt nicht. Jedenfalls steht es nicht fest, daß dieser Zeuge sich nicht selbst erinnert, was dieser angebliche Vertrag betraf. Ich weiß nicht, warum er ihn nicht befragen kann, wenn er das will.


VORSITZENDER: Dr. Seidl, Sie können den Zeugen fragen, wie weit er sich dieses Abkommens noch entsinnen kann, ohne ihm das Dokument vorzulegen. Fragen Sie ihn, ob er sich an den Vertrag oder an das Protokoll erinnert.


DR. SEIDL: Herr Zeuge! Schildern Sie dann den Inhalt des Abkommens, so wie er in Ihrer Erinnerung noch vorhanden ist.


VON WEIZSÄCKER: Es handelte sich um ein sehr einschneidendes und sehr weitgreifendes geheimes Zusatzabkommen zu dem damals geschlossenen Nichtangriffspakt. Die Tragweite dieses Dokuments war deswegen sehr groß, weil es eine Interessensphäreneinteilung betraf, die eine Grenze zog zwischen denjenigen Gebieten, die unter gegebenen Umständen der sowjetrussischen, und denjenigen, die in einem solchen Falle der deutschen Sphäre angehören sollten. Zur sowjetrussischen Sphäre sollte gehören: Finnland, Estland, Lettland, ein östlicher Teil von Polen und meiner Erinnerung nach war auch über gewisse Gebiete Rumäniens Bestimmung [317] getroffen worden. Was wesentlich westlich von den eben genannten Gebieten lag, sollte zur deutschen Interessensphäre gehören. Allerdings ist dieses Geheimabkommen in dieser Form nicht aufrechterhalten geblieben. Es ist bei einer späteren Gelegenheit entweder im September oder im Oktober des gleichen Jahres eine gewisse Veränderung, ein Amendement zu den damaligen Geheimabkommen zustande gekommen, wobei der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Dokumenten nach meiner Erinnerung darin bestand, daß Litauen, oder wenigstens der größere Teil von Litauen, zur sowjetrussischen Interessensphäre geschlagen wurde, während umgekehrt auf dem polnischen Gebiet die Trennungslinie der beiden Interessensphären um ein erhebliches Stück nach Osten gerückt wurde.

Ich glaube damit, den wesentlichen Inhalt des Geheimabkommens und des späteren Zusatzabkommens angegeben zu haben.


DR. SEIDL: Ist es richtig, daß für den Fall einer territorialen Umgestaltung eine Demarkationslinie im Gebiet des polnischen Staates vereinbart wurde?


VON WEIZSÄCKER: Ob der Ausdruck Demarkationslinie in diesen Protokollen enthalten war, oder ob es sich um eine Trennungslinie der Interessensphäre dem Wortlaut nach handelte, das könnte ich nicht mehr angeben.


DR. SEIDL: Es wurde aber eine Linie bezeichnet.


VON WEIZSÄCKER: Eben die Linie, von der ich soeben sprach, und ich glaube auch, mich zu besinnen, daß diese Linie später bei der Verwirklichung dieses Abkommens im großen innegehalten wurde, im Detail vielleicht nicht.


DR. SEIDL: Ist Ihnen erinnerlich – das ist meine letzte Frage –, ob in diesem geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 auch noch eine Vereinbarung in Bezug auf das künftige Schicksal Polens enthalten war?


VON WEIZSÄCKER: Dieses Geheimabkommen schloß ja eine völlige Neuregelung des polnischen Schicksals in sich. Es kann also sehr wohl sein, daß explizite oder implizite eine solche Neuregelung durch das Abkommen vorgesehen war. Auf den Wortlaut möchte ich mich nicht festlegen.


DR. SEIDL: Herr Vorsitzender! Ich habe keine weiteren Fragen mehr.


VORSITZENDER: Zeuge! Haben Sie das Original des Geheimvertrages gesehen?


VON WEIZSÄCKER: Ich habe eine Photokopie davon gesehen, vielleicht auch das Original. Jedenfalls die Photokopie, die habe ich in der Hand gehabt, wiederholt sogar. Ich hatte ein Exemplar, eine Photokopie, in meinem persönlichen Safe eingeschlossen.


[318] VORSITZENDER: Würden Sie eine Kopie davon erkennen, wenn man sie Ihnen zeigen würde?


VON WEIZSÄCKER: Oh, das glaube ich bestimmt. Es waren auch die Originalunterschriften darunter, auch daran würde man sie ja ohne weiteres erkennen.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.


[Beratungspause.]


VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat beraten, ob dem Zeugen das im Besitz des Dr. Seidl befindliche Dokument vorgelegt werden soll.

In Anbetracht der Tatsache, daß der Inhalt des Originaldokuments vom Zeugen und von anderen Zeugen bereits wiedergegeben wurde, und weil die Herkunft des Dokuments, das sich im Besitz von Dr. Seidl befindet, unbekannt ist, hat der Gerichtshof entschieden, das Dokument dem Zeugen nicht vorzulegen.

Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

22. Mai 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 14, S. 291-320.
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