[112] Wenn wir den platonischen Idealstaat in die Reihe der Utopien stellen, so soll damit nicht gesagt sein, daß Plato selbst der Meinung gewesen wäre, ein Ideal menschlicher Zustände zu schildern, an dessen[112] Verwirklichung nicht zu denken sei. Er bezeichnet zwar diese Schilderung als ein dichterisches Phantasiegebilde462 und betont mit aller Entschiedenheit, daß schon die bloße Aufstellung eines solchen »Musterbildes«,463 die rein theoretische Belehrung über das Seinsollende an und für sich von hohem Werte sei, weil sie eben dem Handeln der Menschen Ziel und Richtschnur gibt. Auch räumt er ausdrücklich ein, daß zwischen Theorie und Praxis immer eine gewisse Entfernung bleiben werde, daß bei der Umsetzung der theoretischen Erkenntnis in die Wirklichkeit eine absolut genaue Übereinstimmung zwischen dem praktischen Ergebnis und der Idee nicht zu erzielen sei;464 weshalb man sich auf jeden Fall mit dem Nachweis begnügen müsse, daß die Wirklichkeit dem Ideale wenigstens nahe zu kommen vermöge.465 Allein je eifriger sich Plato im weiteren Verlaufe der Darstellung bemüht, eben diesen Nachweis zu erbringen und die Mittel und Wege zur Verwirklichung seines Ideals darzulegen, um so mehr Nachdruck wird von ihm gerade auf die Ausführbarkeit desselben gelegt. Und beim Abschluß des ganzen Entwurfes spricht er die zuversichtliche Überzeugung aus, man werde ihm rückhaltlos zugeben, daß er keineswegs nur fromme Wünsche geäußert habe, und daß die Ausführung seiner Vorschläge, wenn auch nicht leicht, so doch möglich, und zwar in keiner anderen, als der von ihm angegebenen Weise möglich sei.466
Das Kriterium aber für die Realisierbarkeit seiner Staatsidee findet er darin, daß die Forderungen derselben zugleich Forderungen der Natur seien, während das Bestehende mehr oder minder naturwidrig sei.467 Er folgert daraus, daß Reformen auf dem Boden des Bestehenden nichts als dürftige Notbehelfe sind, welche auf die Dauer doch nie zu wirklichen[113] Verbesserungen, sondern im Gegenteil nur zu einer Verschlimmerung der gesellschaftlichen Mißstände führen können. Er vergleicht die Tätigkeit der Staatsmänner, welche immerfort Gesetze gäben und an dem Bestehenden nachzubessern suchten, mit dem Herumschneiden an der Hydra, der für jeden abgeschlagenen Kopf zehn neue nachwachsen.468 Dem Staate gehe es bei all dieser nur auf Symptome gerichteten Reformarbeit wie dem Kranken, der durch fortwährendes Medizinieren gesund zu werden hofft und dabei doch die Lebensweise fortsetzt, die ihn krank gemacht hat.469
Freilich folgt aus diesem Widerstreben der kranken Gesellschaft gegen einen radikalen, das Übel an der Wurzel fassenden Eingriff, daß sie sich den Postulaten der Natur und Vernunft niemals freiwillig unterwerfen wird. Soll daher der beste Staat keine bloße Utopie bleiben, so müssen diejenigen, welche das »Urbild« desselben in der Seele tragen, die Möglichkeit erhalten, mit unumschränkter Machtvollkommenheit über die Geschicke des Staates zu entscheiden.470 Ein »glücklicher Zufall« muß es fügen, daß die im bestehenden Staat zur Untätigkeit verurteilten Denker (τὸ φιλόσοφον γένος)471 an das Staatsruder gelangen und in die Notwendigkeit versetzt werden, sich des Staates anzunehmen, oder daß aus der Reihe der Fürsten ein philosophischer Geist ersteht, der von »göttlicher Begeisterung ergriffen« die Machtmittel der absoluten Monarchie in den Dienst des großen Werkes stellt.472 Der Staatsmann, der zum Retter und Befreier von der Unnatur des Bestehenden werden soll, muß den Staat in seiner Hand haben, wie der Maler seine Tafel, auf daß er die Umrisse des Neubaues ganz nach dem göttlichen Urbild entwerfen und dies Abbild dann im einzelnen »hier auslöschend, dort hinzuzeichnend« – frei ausgestalten könne.473
Nur im Besitze solch absoluter Autorität kann er auch der Hindernisse Herr werden, welche die Gemüter der Menschen vernunftgemäßer Belehrung unzugänglich macht, und so das Volksleben mit einem neuen sittlichen Geist erfüllen, ohne welchen die beste staatliche Organisation keinen Bestand hätte.474
[114] Auf dies psychologische Moment legt Plato begreiflicherweise das höchste Gewicht. Die Verfassungen, meint er, wachsen nicht wie Eicheln auf den Bäumen, noch entspringen sie wie Quellen aus den Felsen, sondern die Sinnesart der Bürger ist es, worin sie wurzeln und wodurch sie ihr ganzes Gepräge erhalten.475
Der große Reinigungsprozeß, welchen die Gesellschaft durchmachen muß,476 wenn der Aufbau des Idealstaates möglich werden soll, besteht daher vor allem darin, daß der reformatorische Staatsmann das Werk der Erziehung in die Hand nimmt. Diese Erziehung soll gemeinschaftliche Massenerziehung sein, weil nur sie jenes ideelle Massengefühl und jene durch eine Anschauungs- und Gefühlsweise, eine Meinung und Gesinnung, eine Absicht und ein Ziel ideell verbundene Masse schaffen kann, deren der Sozialstaat zu seinem Bestande bedarf. Plato hofft, daß eine Jugend, die von Anfang an den disziplinierenden Einfluß der Gemeinschaft an sich verspürt, diesen Einfluß auch in ihrem späteren Leben nicht verleugnen und selbst in den individuellsten Äußerungen die Rücksicht auf das Ganze nicht außer acht lassen wird.
Es ist derselbe Vorschlag, mit welchem an der Schwelle unseres Jahrhunderts patriotische deutsche Denker hervortraten, als dem einzigen Mittel, welches dem Verfall alles Bürgergeistes und aller Bürgerkraft wehren und von neuem die Gemeinschaftsbande entstehen lassen könne, die zu einem wahren Bürgertum erziehen. »Die Zöglinge dieser neuen Erziehung«, sagt Fichte in den Reden an die deutsche Nation, »werden, obwohl abgesondert von der schon erwachsenen Gemeinschaft, dennoch untereinander selbst in Gemeinschaft leben und so ein abgesondertes und für sich selbst bestehendes Gemeinwesen bilden, das seine genau bestimmte, in der Natur der Dinge begründete und von der Vernunft durchaus geforderte Verfassung habe. Das allererste Bild einer geselligen[115] Ordnung, zu dessen Entwerfung der Geist des Zöglings angeregt wird, sei dieses der Gemeine, in der er selber lebt, also daß er innerlich gezwungen sei, diese Ordnung Punkt für Punkt gerade so sich zu bilden, wie sie wirklich vorgezeichnet ist, und daß er dieselbe in allen ihren Teilen als durchaus notwendig aus ihren Gründen versteht.«477
Verwirklicht denkt sich Plato das Prinzip der Massenerziehung in der Weise, daß die ganze jugendliche und noch bildsame Generation unter zehn Jahren von der unter den alten Zuständen aufgewachsenen getrennt und, ungestört durch die schädlichen Einflüsse der letzteren, nach den oben entwickelten Grundsätzen erzogen wird. Eine Isolierung, die dadurch erreicht werden soll, daß alle über zehn Jahre alte Bewohner der Stadt dieselbe zu räumen und sich draußen im Landgebiet anzusiedeln haben!478 In der Stadt bleibt nur die Regierung mit ihren Schutzbefohlenen, aus denen sie sich das für die Zwecke des neuen Staates nötige Beamten- und Soldatenmaterial heranzieht. So – meint Plato – würde sich derselbe am schnellsten und leichtesten verwirklichen lassen und die Glückseligkeit, die er gewährt, offenbar werden.
Daß dieser »Dioikismos« eine gewaltige Umwälzung der Besitzverhältnisse, eine unendlich tiefgehende Störung der ganzen Volkswirtschaft bedeutet hätte, hat für den rücksichtslosen Reformeifer Platos nichts Bedenkliches.479
Eine radikale volkswirtschaftliche Revolution ist ja ohnehin die unvermeidliche und von vorneherein gewollte Konsequenz seines ganzen Systems. Er bedarf ihrer nicht bloß zur Erreichung des bereits genannten Zweckes, sondern auch zur Verwirklichung seines wirtschaftspolitischen Ideales. In der »Stadt« soll zugleich das Zentrum und die Herzkammer[116] der verhaßten kapitalistischen Geldwirtschaft unschädlich gemacht und so die Umkehr des Handels- und Industriestaates zum Ackerbaustaat erzwungen werden.
Dabei ist Plato so ganz und gar von dem Glauben an die unwiderstehliche Macht seiner reformatorischen Ideen erfüllt, daß er trotz der Verletzung zahlloser Interessen, welche eine solche Umwälzung zur Folge haben müßte, nicht auf die Hoffnung verzichtet, auch die erwachsene Generation für die neue Ordnung der Dinge zu gewinnen. Er meint: Wenn die Bürger nur einmal die Segnungen des neuen Staates aus Erfahrung kennen und wahre Staatsmänner am Werke sehen würden, dürfte es gewiß nicht unmöglich sein, sie allmählich zu freiwilligem Gehorsam zu bestimmen.480 Denn was hindert, daß »das, was uns gut erscheint, auch anderen so erscheine«?481
Wenn sich die große Masse gegenwärtig den Forderungen des Denkers verschließe, so sei dies nur die Folge mangelnder Erfahrung und absichtlicher Irreführung.482 Würde das Volk durch freundliche Belehrung über die wahren Intentionen der Philosophie auf den richtigen Weg geleitet, so würde es einsehen, daß dieselbe nur sein Bestes will, und ihr nicht länger widerstreben.483 Denn warum sollte man feindselig gegen den Gütigen, gehässig gegen den Wohlwollenden gesinnt sein, wenn man selbst frei von Mißgunst ist und ein gutes Herz hat?484
Daß sich aber das Volk in seiner großen Mehrheit so gut geartet erweisen werde, wird von Plato gegenüber einer skeptischen Beurteilung der Masse ohne weiteres behauptet,485 obwohl er selbst kurz vorher die Ausschreitungen des – allerdings von den Demagogen mißleiteten – Demos in den düstersten Farben geschildert hatte.486 Das Volk, dessen leidenschaftliches Gebaren in der Agora ihn an die Unbändigkeit und Wildheit eines plumpen Riesentieres erinnert,487 das Volk, welches das gut heißt, was ihm angenehm, schlecht, was ihm zuwider ist,488 welches dem, der sich um seinen Beifall bemüht, einen wahrhaft unerträglichen Zwang auferlegt,489 dieses selbe Volk wird sich, wenn es nicht mehr als[117] einheitliche Masse zu souveränen Machtentscheidungen zusammentreten kann, willig und neidlos der Leitung der geistig Höherstehenden überlassen und zur lammfrommen Herde werden!
So wird ein Staat entstehen, der zwar das Los alles Irdischen, die Vergänglichkeit, auch von sich nicht abzuwenden vermag, der aber doch nach der Meinung seines Urhebers die denkbar beste Bürgschaft für lange ungestörte Dauer gewährt.490
Eigentlich ist es nur ein Moment, von dem Plato eine Schwächung und Zerrüttung seines Staates befürchtet: der Naturlauf, der in einer Lebensfrage des Ganzen: in bezug auf die stetige Wiedererzeugung der für den Staatsdienst geeigneten Kräfte und Talente alle menschliche Berechnung illusorisch zu machen vermag.491 Ebensowenig wie Mißwachs kann menschliche Voraussicht verhüten, daß einmal ein Geschlecht geboren wird, dem die Natur die für die höchsten Berufe notwendigen Anlagen versagt hat, das aber trotzdem den Zutritt zu denselben erlangt. Dann aber werde die unvermeidliche Folge sein, daß die Einheit der Gesinnung unter den Trägern und Organen der Staatsgewalt verloren geht und Zwiespalt einreißt, womit die Auflösung des Vernunftstaates entschieden ist.492 Man sieht, was diesen Staat bedroht, ist einzig und allein ein Naturprozeß, dem gegenüber Menschenwille und Menschenklugheit ohnmächtig ist. Soweit es sich um rein geschichtliche Verhältnisse, um Schwierigkeiten und Gefahren handelt, welche dieser Wille und diese Einsicht zu beherrschen vermag, glaubt der Vernunftstaat des Erfolges unbedingt sicher zu sein.
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