Gesta Romanorum

[290] Gesta Romanorum heisst eine im späteren Mittelalter weit verbreitete Sammlung von moralisierten Parabeln, Fabeln und Erzählungen, die um das Jahr 1472 zuerst in lateinischer Sprache, 1489 in deutscher und oft in englischer Sprache gedruckt erschien. Nach den Untersuchungen Oesterley's liegt die Entstehung der Gesta Romanorum darin, dass zu einer Zeit, zu der das Fremdartigste und Widerwilligste moralisiert, d.h. in einem geistlichen oder christlichen Sinn gedeutet zu werden pflegte, wirklich Erzählungen aus der römischen Geschichte, oder vielmehr Stücke aus römischen Schriftstellern, wie sie schon seit langer Zeit zu Predigtzwecken gesammelt waren, auch lediglich zum Zwecke der Moralisierung zusammengestellt und früher oder später mit der Bezeichnung Historia oder Gesta Romanorum moralizata oder ähnlichem versehen wurden. In ein solches Grundwerk wurden zuerst Parabeln eingefügt oder angehängt, welche einer geistlichen Auslegung sich leicht anschmiegten; dann nahm man nach Neigung oder Gelegenheit Stücke auf, welche zum Besten der Moralisation umgestaltet wurden, und endlich erfand man, oft ungeschickt genug, Erzählungen lediglich zum Zwecke ihrer geistlichen Deutung. Schliesslich fanden auch blosse Mönchs- und Heiligengeschichten ohne Moralisation einen Platz, und endlich kehrte sich das ganze Verhältnis um, so dass die Erzählungen in den Vordergrund traten und die Moralisationen Nebensache wurden. Es ist wahrscheinlich, aber nicht unwiderleglich beweisbar, dass die Gesta Ramanorum in England entstanden sind; doch könnte das Werk auch bloss in England, und zwar aus Deutschland, eingeführt und erweitert worden sein. Der Name des ersten Verfassers oder Sammlers ist nicht mehr nachzuweisen, die Zeit der Abfassung ist gegen Ende des 13. Jahrh.; ohne Zweifel haben Predigermönche, wenn nicht an der Abfassung, so doch an der Fortbildung und Verbreitung des Buches Anteil. Inhaltlich sind die einzelnen Erzählungen kitzliche Rechtsfalle, gewandte Antworten, listige und schalkhafte Streiche, Ehegeschichten und andere Vorfälle des täglichen Lebens, auch legendarische Stoffe, und bald treu erhaltene, bald wunderlich entstellte Anekdoten und Erzählungen aus der alten Geschichte und Mythologie, sowie aus der klassischen Geschiente, herrührend aus klassischen, orientalischen und abendländischen Quellen. Das Buch ist vor der Reformation ausser in den genannten in französischer und niederländischer Sprache gedruckt worden; infolge der Reformation und der Verbreitung klassischer Studien geriet es allmählich in Vergessenheit. Kritische Ausgabe von Hermann Oesterley, Berlin, 1872; deutsche Übersetzung von Grässe, 1847.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 290.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: