Nornen

[734] Nornen heissen in altnordischer Sprache die Schicksalsgöttinen; der Name ist noch nicht genügend erklärt; bei den Angelsachsen heissen sie Mettena, d.h. die abmessenden, abwägenden, oder Vyrdha, alts. Wurthi. Sie werden oft als Spinnerinnen genannt; doch ist die griechische Vorstellung von einem Spinnen und Abschneiden des Lebensfadens, wie dies den Parzen zugeschrieben wird, auf deutschem Gebiete nicht nachweisbar. Abbilder ihres Gespinstes erkannte man im feinen Gespinste des Spätsommers, der deshalb Mädchensommer, Alteweibersommer heisst. In Bayern heissen die Schicksalsgöttinnen Heilrätinnen, d.h. Wesen, die das Glück der Menschen beraten und beherrschen. Zwei von ihnen sind gut und freundlich, die eine ist kreideweiss, die andere trägt ein rot und weisses Kleid, die dritte Schwester dagegen ist böse und furchtbar, am Körper schwarz, mit feurigen Augen. Die Nornen sind wie im Ganzen die Göttinnen überhaupt, von der Grundgestalt der Wolkenfrau ausgegangen, wobei sich an die schwarze Wolke die Idee des nächtigen Todes, an die weisse die Idee der Geburt und Heirat knüpfte. Aus der Schar der Wolkenfrauen traten nun drei besondere Schicksalsgöttinnen hervor, von denen zwei, die Vertreterinnen der lichtweissen Wolke, vorzüglich bei Geburt und Hochzeit, die Jungfrau der schwarzen Wolke beim Tode die Schicksalsmacht ausübte; eine Erinnerung an die drei Schwestern ist in dem weitverbreiteten, mancherlei Variationen unterliegenden Kinderliedchen enthalten, dessen eine Form z.B. lautet:


Sonne, Sonne schein!

Fahr über den Rhein,

Fahr über das goldne Haus,

Da schauen drei alte Jungfrauen heraus.

Eine spinnt Seide,

Die andre wickelt Weide,

Die dritte geht ans Brünnchen,

Tränkt ein goldenes Kindchen.

Eine oberdeutsche Form ist:


Rite, rite, Rössli.

z' Bade stoht e Schlössli,

z' Bade stoht e goldis Hus,

Lueget drei Mareie drus.

Di eint spinnt Side,

Die ander schnätzlet Chride,

Die dritt spinnt Haberstrau,

Bhüet mer Gott mis Chindli au.

An die sächsische Schicksalsgöttin Vyrdh oder Wurth, d.h. das Gewordene, die Vergangenheit, scheint sich die Vorstellung angeschlossen zu haben, dass sie, berufen in der Schlacht die zum Tode bestimmten Männer auszusuchen,[734] selbst ihrem Opfer einen Speer oder spitzen Nagel in den Kopf treibe und es so in ewigen Schlaf versenke. Eine Erinnerung daran ist die alte spinnende Frau, welche Dornröschen mit ihrer Spindel sticht, und die Königin, welche Schneewittchen eine Blume oder einen Kamm in das Haar steckt, worauf beidemal Schlaf oder Tod erfolgt. Nach einer andern, höhern Auffassung wohnten die Vyrdhen als Beisitzerinnen dem Göttergericht bei und sprachen als Schöffinnen das Urteil aus, welches als ewiges Schicksal jedem Menschen zukommt. Ähnlich, nur weiter ausgebildet, haben die nordischen Deutschen ihre Nornen entwickelt; hier sind es ihrer drei: Urdhr, d.i. Vergangenheit, dasselbe Wort wie Wurth, die älteste; Verdhandi, d.i. Gegenwart, die zweite, und Skuld, oder Zukunft die jüngste. Sie sind aus dem See. unter der Esche Ygydrasil hervorgestiegen, sitzen nun zwischen den Zweigen des Weltbaums oder an ihrem Fusse, und hüten den Lebensborn, der unter einer der drei Wurzeln des Baumes liegt und Urdharbrunnen heisst. Mit seinem heiligen Wasser begiessen sie Tag für Tag den Weltbaum, der davon immer grün in ewiger Jugend prangt. Mit weissem Nebel begossen sendet die Esche den Tau in die Thäler der Erde; die Bienen nähren sich davon. Die Nornen legen hier die Gesetze, erkiesen den Zeitenkindern das Leben, urteilen beim Götterricht, das sich täglich unter der Esche versammelt. Ihr Spruch ist unabwendbar, sie steigen selbst zur Erde nieder, um seine Ausführung zu bemerken; sie fördern hilfreich das Licht der Sonne, treten an die Wiege des Menschen und neben die Bande, welche sein künftiges Geschick umspannen sollen. Mannhardt, Götter der deutschen und nordischen Völker. S. 321–328.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 734-735.
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