Segenssprüche

[920] Segenssprüche. Nach dem ältesten wie dem neuesten Volksglauben soll in dem ausgesprochenen Segen oder Fluch eine unmittelbare, magische Wirkung liegen, die sich aber nie auf allgemeine, sittliche Dinge, sondern auf die zeitlichen Vorteile des Menschen, auf Abwehr von zeitlichen Übeln, Erlangung irdischer Güter und Vollbringung des persönlichen Hasses bezieht. Die älteste Form des Besegnens oder Besprechens ist die Rune oder das Lied: diese können töten und vom Tode wecken wie gegen den Tod sichern; heilen und krankmachen, Wunden binden, Blut stillen, Schmerzen mildern, Schlaf erregen, Feuer löschen, Meerstürme sänftigen, Regen und Hagel schicken, Bande sprengen, Fesseln zerreissen, Riegel abstossen, Berge öffnen u. schliessen, Schätze aufthun, Kreissende entbinden oder verschliessen, Waffen fest oder weich, Schwerter taub machen; Knoten schürzen, die Rinde vom Baum lösen, Saat verderben, böse Geister rufen und bannen, Diebe binden. Nach heidnischem Brauche wurden auf Totenhügeln und Gräbern Lieder ausgesprochen, damit ein Toter Rede stehe oder etwas herausgebe. Die älteste Form der Segen ist die erzählende, so zwar, dass immer etwas erzählt wird, was mit dem zu besprechenden in einer gewissen gleichlaufenden Beziehung steht, ursprünglich dem Kreise des Mythus, später dem der heiligen Geschichte und Sage oder dem Gebiete der natürlichen Wirklichkeit. (Mond nimmt zu, Warze nimmt ab), oder der dichtenden Phantasie entnommen; auf die Erzählung kann der Befehl kommen, der in spätern Segensformeln oft allein herrscht, indem einfach die Krankheit, der Dieb, Dämon und dergl. angeredet und beschworen wird zu weichen. Ursprünglich ist der Beschwörungsspruch in alliterierender Form gehalten; seit dem Untergang dieser Reimart hat er sich in prosaischer Form erhalten oder sich dem Nachfolger des Stabreimes, dem Reimpaar oder Knittelvers anbequemt. Die ältesten erhaltenen Segen, welche zum Teil an indische Segenssprüche erinnern, sind die beiden s.g. Merseburger Zaubersprüche auf den verrenkten Fuss eines Pferdes und auf die Fesseln eines Kriegsgefangenen; es folgen dann der Wiener Hundsegen, Wurm-, Blut- und Reisesegen u.a., abgedruckt bei Müllenhoff und Scherer, Denkmäler. Darnach soll die Entstehung der meisten christlichen Segen mit Wahrscheinlichkeit in die Zeit fallen, wo mit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die geistliche Dichtung in der Volkssprache einen neuen Aufschwung nahm und dann bis gegen den Ausgang des 12. Jahrhunderts mit Eifer[920] gepflegt wurde. Oft sind in christlich geformten Segen die heidnischen Grundlagen noch unverkennbar; an Stelle Wodans, Donars, der Frigg traten Christus, Petrus und Maria. So ist die häufige Formel: »Christus und Petrus gingen über Land«, den Wanderungen Wodans mit andern Göttern entnommen; in böhmischen Besprechungen der Würmer heisst es: »Es war eine makellose Jungfrau Maria, die hatte drei eigene Schwestern: die eine spann, die andere wickelte auf, die dritte segnete die Würmer«, oder: »die heilige Lucia hatte drei Töchter: die erste spann, die zweite wickelte auf, die dritte weifte«, es sind Frigg mit den drei Nornen. Einzelne Formeln sollten von den Ägyptern, von Salomon, den Arabern stammen, bei einigen Formeln zum Festmachen wird gesagt, sie seien vom König Karl d. Gr. gebraucht. Wuttke hat u.a. Beispiele zusammengestellt gegen das Fieber, gegen Friesel, Schlaflosigkeit, Schwinden, Gicht, Verrenkung, gegen ein Fell auf den Augen, gegen Blutungen, Zahnschmerz, Würmer im Leibe, Kolik, die Rose, Entzündungen, gegen Mundfäule, gegen Warzen, den Schlangenbiss, gegen Wunden, Brandwunden, gegen Versengungen überhaupt, wenn man von einem Hunde angefallen ist, gegen Aufblähung des Rindviehs, Feuersegen, um sich kugelfest zu machen, wenn man vor Gericht geht, gegen Diebe. Grimm, Mythologie, Kap. 38; die Sammlung von Segen, die als Anhang der ersten Ausgabe beigegeben war, ist in der zweiten Ausgabe weggeblieben; Wuttke, Aberglauben, §. 221–242.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 920-921.
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