Boreas

[555] [555] BORĔAS, æ, Gr. Βορέας, ου, ( Tab. VII.)

1 §. Namen. Diesen soll er nach einigen von βοὴ, Geräusch, haben, weil er ein sehr sausender Wind sey; Gell. N. A. lib. II. c. 22. nach andern aber von βορὰ, cibus, oder pabulum, entweder, weil die mitternächtlichen Länder an dergleichen einen Ueberfluß haben, Porphyr. ap. Voss. Etymol. in Boreas, s. p. 89. oder, weil alles mehr Luft zum Essen hat, wenn solcher Wind geht, als sonst; oder auch, weil er den Früchten ihr Wachsthum, und uns damit unsere Nahrung giebt. Etymologus ap. eumd. l. c. Sonst heißt er lateinisch eigentlich Aquilo, und solches nach einien wiederum von Aquila, weil er so schnell geht, als ein Adler fliegt; Festus lib. I. p. 1131. oder vielmehr von Ἀκιρὸς, Caninius & Nunnes. ap. Voss. l. c. in Aquilo, s. p. 45. welches eben so viel, als der Nordwind heißt. Hesych. in Ἀκιρὸς, s. p. 50.

2 §. Aeltern. Einige wollen nicht gelesen haben, daß ein Mythologus gemeldet, wer des Boreas Aeltern gewesen; Nat. Com. lib. VIII. c. 11. Allein Hesiodus Theogon. v. 379. und Hyginus Præf. p. 10. melden doch ausdrücklich, daß Asträus mit der Aurora den Zephyrus, Boreas, Notus und Favonius gezeuget. Und da von solchen beyden, nach andern, die Winde überhaupt entstanden seyn sollen, Apollod. lib. I. c. 2. §. 4. so ist glaublich, daß sie Boreas auch zu Aeltern gehabt haben muß. Ja, wenn man auch den Typhöus für den Vater der übrigen Winde angiebt, so werden doch obgedachte viere davon ausgenommen. Hesiod. l. c. v. 870. Gleichwohl machen ihn einige auch zu einem Sohne des Strymons. Schol. Apollon. ad lib. I. v. 211.

3 §. Wesen und Thaten. Er wird zwar insgemein für den Nordwind angegeben, ist aber eigentlich doch der, welcher von der Gegend des Himmels herkommt, wo die Sonne des Sommers bey ihrem Stillstande oder am längsten Tage aufgeht. Plin. H. N. lib. XVIII. c. 34. Er hatte seinen Aufenthalt in einer Höhle an dem Berge Hämus [556] in Thracien, Callim. Hymn. in Delum. v. 65. & ad eum Spanhem. l. c. oder auch an dem Meerbusen Salmydessus. Schol. Sophocl. ap. Spanh. l. c. Er raubete insonderheit seine Gemahlinn, die Orithyia, des Königs Erechtheus zu Athen Tochter, als sie sich mit ihren Gespielinnen am Flusse Ilissus, in Attica, belustigte, Pausan. Att. c. 19. und brachte sie in die Landschaft der Ciconen, Ovid. Metam. VI. v. 710. oder, nach andern, auf den sarpedonischen Felsen in Thracien. Simonides & Apollon. ap. Nat. Com. lib. VIII. c. 11. So entführete er auch die Chloris, des Arkturus Tochter, und brachte sie auf den Niphates, welcher daher Boreæ Thorus oder des Boreas Brautbette hieß, da er zuvor Caucasus genannt wurde. Cleanthes ap. eumd. l. c. Rühmlicher aber war seine Verrichtung, da ihn die Griechen, nach des Orakels Geheiße, um Hülfe wider den Xerxes anriefen, und er einen großen Theil der Schiffe desselben versenkete. Herodot. L. VII. sect. 189. So leistete er auch den Megapolitanern, in Arkadien seine Hülfe wider die Lacedämonier, indem er ihre ungeheuere Kriegesmaschine, welche sie wider besagte Stadt aufgeführet hatten, über den Haufen warf, und damit machte, daß solche Stadt unerobert blieb. Pausan. Arcad. c. 27. Als er hiernächst seine Liebe auch auf die Pitys geworfen hatte, diese ihm aber den Pan vorzog, so schlug er sie, als er sie dereinst allein auf einem weiten Felde antraf, wider einen Stein, daß sie davon sterben mußte: die Erde aber nahm sie in ihren Schooß auf, und verwandelte sie in eine Fichte. Dousa ad Propert. lib. I. Eleg. 18. v. 20. ex Constant. Geopon. 11. Einige wollen, daß er die Wurfscheibe dem Hyacinthe auf den Kopf geführet, als er mit dem Apollo gespielet, welchen er ihm vorgezogen hatte: Serv. ap. Boccacc. lib. IV. c. 57. allein sie vermengen ihn so dann mit dem Zephyrus, weil dieser, und nicht Boreas, den Hyacinth zur Rache für dessen Verachtung auf besagte Art hinrichtete. Palæphat. de Incredibil. c. 47. & quos ad eum laudat Thom. Gale l. c.

[557] 4 §. Gemahlinn und Kinder. Erstere war besagte Orithyia, mit welcher er den Kalais, Zetes und die Kleopatra zeugete. Apollod. lib. III. c. 14. §. 2. Ohne solche aber machen einige auch noch zu dessen Töchtern die Upis, Loxo und Hekaerge, Callimach. Hymn. in Del. v. 292. wie auch die Chione, Chthonia, Schol. Appollon. ad lib. I. v. 212. und Hyrpace, von der Chloris, Cleanth. ap. Nat. Com. lib. VIII. c. 11. zu Söhnen aber noch den Lykurgus, Butes, Diod. Sic. lib. V. c. 50. p. 224. und Aemus. Steph. Byz. in Αἶμος.

5 §. Bildung. Er wird als eine Mannsperson gebildet, deren Haare, Bart und Flügel voller Schnee liegen, Chartar. Imag. 38. sonst aber statt der Füße Schlangenschwänze hat, Pausan. Eliacor. prior. c. 19. hinter sich her einen Schweif seines Kleides schleppet, mitwelchem er einen ungemeinen Staub auf der Erde erreget, und wenn er seine Flügel schwingt, welche voller goldenen Tropfen liegen, Apollon. lib. I. v. 221. und daher gelb genannt werden, See und Erde mit Winde erfüllet. Ovid. Metam. lib. VI. v. 703.

6 §. Verehrung. Er wurde so wohl zu Athen, Plato ap. Voss. Theol. gent. lib. III. c. 1. als auch von den Thuriern, Spanhem. ad Callim. Hymn. in Delum v. 26. und anderweits mehr, insonderheit aber von denen zu Megalopolis in Arkadien verehret, weil solche ihm nicht nur seinen besondern Altar aufgerichtet, sondern auch sein jährliches Fest feyerten, überhaupt aber für einen ihrer vornehmsten Götter hielten, weil er ihnen ehemals seinen Schutz, wie vorhin erwähnet worden, wider die Spartaner geleistet hatte. Pausan. Arcad c. 36.

7 §. Eigentliche Beschaffenheit. Dafern er nicht bloß oben benannter Wind ist, welcher die Orithyia von einer Höhe hinab in den Fluß Ilissus gestürzet und sie daher entführet zu haben gesaget wird: Plato in Phædro p. 1211. Opp. so hält man ihn doch nicht unwahrscheinlich für einen König oder vornehmen Thracier, welcher dieselbe entführet hat. Voss. Theol. gent. l. III. c. 1. & [558] Banier Entret. XV. ou P. II. p. 144. Vielleicht ist solcher eben des obgedachten Strymons Sohn gewesen; wie denn solches einige ausdrücklich vorgeben, und zwar soll er solche Orithyia entführet haben, als er sie im Guten nicht zur Gemahlinn bekommen können. Hesagoras ap. Nat. Com. l. c. p. 864. Ovid. Metam. VI. 683 sqq. Jedoch wollen andere, daß sie nur einige Thracier auf des Boreas Anstiften, oder wie man auch wohl ihre Worte verstehen kann, für den Boreas entführet, Ovid. Heroid. VI. v. 343. nicht aber, daß er selbst der Anführer derselben gewesen. Cnipping. ad eumd. l. c. Conf. Boccacc. lib. IV. c. 57. Diese Heurath soll auch so gar dem Vater der Orithyia, Erechtheus, nützlich geworden seyn, weil sein Schwiegersohn eine Flotte habe ausrüsten lassen, ihn wider seine Feinde zu vertheidigen, welche die Küsten von Attica beunruhigten. Pausan. in Attic. p. 33. 34.

8 §. Anderweitige Deutung. Wenn er ja auf den Apollo des Hyacinths wegen so eifersüchtig gewesen seyn soll, daß er endlich solchem Hyacinth selbst das Leben genommen, weil er dem Apollo geneigter, als ihm, gewesen, so soll solches nichts mehr bedeuten, als daß die Hyacinthen bey warmem Sonnenscheine angenehm blühen und wohl stehen, hingegen aber von dem kalten Nordwinde welk werden und verderben; Boccac. lib. IV. c. 57. welches sich denn auf gleiche Art von dem Zephyr, dessen andern Liebhaber, nach andern, wird auslegen lassen, weil auch eine allzu große Hitze, dergleichen die Sonne und Zephyr, als ein laulichter Wind, verursachen können, ebenfalls machen, daß Hyacinthen und andere Blumen verderben. Daß sein Raub der Orithyia ebenfalls eine bloße Wirkung des Nordwindes gewesen seyn könne, ist schon gesaget worden; und wenn er auch die Chloris, des Arkturus Tochter, entführet haben soll, so kann solches nichts mehr bemerken, als daß die Blumen, deren Göttinn sonst die Chloris war, in den nordischen Ländern nicht arten und daher gleichsam von diesem Winde entführet [559] sind. So hat auch seine Bildung nichts mehr hinter sich, als die Eigenschaften solches Windes. Seine Flügel bedeuten seine Geschwindigkeit, oder das Erregen der Luft, gleichwie auch die Schwenkung derselben; sein Schweif und die Erregung des Staubes, das Austreiben desselben durch sein Blasen; die goldenen Tropfen auf seinen Flügeln die glänzenden Schneeflocken, welche er mit sich bringt, von welchen daher, nach andern, auch seine Haare und Bart voll liegen; Chartar. Imag. 28. seine Schlangenfüße, sein unbekanntes Entstehen aus der Erde, und was für dergleichen physikalische Deutungen man mehr machen kann.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 555-560.
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