Graeae

[1174] GRAEAE, arum, Gr. Γραῖαι, ῶν, ( Tab. IV.)

1 §. Namen. Diesen haben sie von γρᾶυς, eine alte Frau, weil sie gleich bey ihrer Geburt graue und alte Weiber sollen gewesen seyn. Hesiod. Theog. v. 270. & ad eum Cleric. l. c. Jedoch wollen einige ihren Namen lieber gar aus dem Arabischen herleiten, woselbst graah, oder griah so viel, als er ist kühn, muthig gewesen, hat gereizet, heißt, welches sich denn für sie nicht uneben schicken soll. Cleric. l. c. Sonst werden sie auch vielfältig von ihrem Vater Phorcides oder Phorcyades genannt. Hygin. Præf. p. 7. Doch muß man sie alsdann mit den Gorgonen nicht vermengen.

2 §. Aeltern. Diese waren Phorkus, des Pontus und der Erde Sohn, Apollod. lib. I. c. 2. §. 6. welcher sonst auch Phoreps oder Phorcyn genannt wird, und die Ceto. Hesiod. Theog. v. 270. Andere geben für ihre Mutter die Tetoa an. Hygin. Præf. p. 7.

3 §. Anzahl und besondere Namen. Einige zählen deren nur zwo, nämlich die Pephredo und Enyo, Hesiod. Theog. v. 273. die meisten aber drey, und setzen zu benannten beyden, bald noch die Chersis, bald die Dino. Hygin. Præf. p. 7. Allein, die erstere von ihnen nennen einige auch Pamphede, andere Pemphredo, die dritten Memphede, die vierten Pephrydo u.s.f. wie die andere auch bald Ento, bald Ennyo. Ap. Muncker. ad Hygin. l. c. Noch andere heißen sie zusammen Pemphildo, Ento und Jäno. Schol. Apollon. ad lib. IV. v. 1514.

4 §. Wesen und Gestalt. Sie waren, schon gedachter Maßen, alte graue Weiber, sonst aber Schwestern, Hesiod. Theog. v. 274. und Hüterinnen der Gorgonen. Aeschyl Prom. vinct. 792. Hygin. Astron. Poët. lib. II. c. 12. Sie hatten [1174] alle drey nur einen Zahn und ein Auge, welche sie einander wechselsweise gaben, wenn sie etwas essen, oder sehen wollten; Apollod. lib. II. c. 4. §. 2. Letzteres legten sie bey vorfallender Gelegenheit sich auf den Kopf, Palæph. de Incred. c. 32. sonst aber verwahreten sie es in einem gewissen Gefäßchen. Der Zahn war länger, als die Hauer der stärksten wilden Schweine. Dabey hatten sie eherne Hände. Schol. Aeschyl. l. c. Sie wohneten hiernächst an einem Orte, wo weder Sonne, noch Mond, hinschien, und brauchten auch ihr Auge nicht eher, als bis sie aus ihrer Wohnung ausgiengen. Nat. Com. lib. VII. c. 12.

5 §. Schicksal. Als Perseus dem Polydektes der Medusa Kopf bringen sollte, so machte er sich zuerst an diese Gräen, und ertappete deren Zahn und Auge, die er ihnen sodann wieder zu geben versprach, wenn sie ihm sagen würden, wo sich die Gorgonen befänden. Sie thaten solches und bekamen dafür ihre Schätze wieder. Apollod. lib. II. c. 4. §. 2. & Schol. Apollon. vd lib. IV. v. 514. Andere wollen, er habe sie gezwungen, ihm ihr Auge zu geben, welches er denn in den tritonischen See geworfen. Da also der Gorgonen Hüterinnen nicht mehr sehen können, so sey es ihm desto leichter gewesen, auch diese selbst zu überfallen. Aeschyl. ap. Hygin. Astron Poët. lib. II. c. 12.

6 §. Historie. Man will sie für drey wirkliche Prinzessinnen ansehen, die einen klugen Mann zu ihrem Rathe gehabt, welcher gleichsam ihr Auge gewesen: daher denn, als Perseus denselben gefangen bekommen, sie sich auch weiter nicht zu helfen gewußt. Banier Entret. XLII. ou P. II. p. 52. Man sehe dabey den Artikel Gorgones.

7 §. Anderweitige Deutung. Nach einigen sollen sie nichts mehr, als die drey Kräfte der vernünftigen Seele bedeuten, welche sofort sich vollkommen in dem Menschen befinden, und nicht mit dem Leibe wachsen, daher sie denn durch alte Frauen vorgestellet werden. Sie sollen nur ein Auge haben, welches die Vernunft ist; und wenn sie [1175] derselben folgen, sind sie fähig, die Gorgonen, oder bösen Begierden zu überwinden. Masen. Spec. ver. occult. c. 23. n. 24. Noch andere verstehen durch sie die Klugheit, welche in öffentlichen Dingen schärfer, als zu Hause, sehen muß; hingegen aber nicht nöthig ist, wo Sonne und Mond hinscheint, das ist, da alles klar und offenbar ist. Jedoch, weil sie nur öffentlich, nicht aber zu Hause, sich des Auges bedienen, so bemerken sie auch, daß man oft scheltbarer Weise seine Augen in fremden Dingen brauche, in den seinigen aber blind sey. Nat. Com. lib. VII. c. 12.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 1174-1176.
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