Gratiae

[1176] GRATIAE, arum, Gr. Χάριτες, ων, ( Tab. X.)

1 §. Namen. Der lateinische Namen Gratiæ kömmt von dem griechischen χάρις her, Voss. Etymol. in Charistia, s. p. 156. wie dieser von χαρὰ, die Freude, Phurnut. de N.D. c. 15.

2 §. Aeltern. Daß ihr Vater Jupiter gewesen, sind fast alle einig. Für ihre Mutter aber halten einige die Eurynome, des Oceans Tochter, Hesiod. Theog. v. 907. andere die Eunomia, Orpheus Hymn. in Charites, v. 2. die dritten die Eurydomene, die vierten die Eurymedusa, die fünften die Juno, die sechsten die Evanthe, die siebenten die Aglaia, Phurn. de N.D. c. 15. die achten die Harmonia, Lactat. ad Stat. Theb. I. v. 286. die neunten die Autonoe, Ap. Nat. Com. lib. IV. c. 15. die zehenten die Venus, nach welchen aber zugleich auch ihr Vater Liber, oder [1176] Bacchus gewesen seyn soll. Serv. ad Virg. Aen. I. v. 720. Nach den eilften soll Aegle sie mit dem Sol gezeuget haben. Antimachus ap. Paus. Bœot. c. 35. p. 596.

3 §. Anzahl und besondere Namen. Einige zählen deren zwo, nämlich die Auro und Hegemone, oder auch die Klite und Phaenna; Pausan. Bœot. c. 35. p. 596. andere, und zwar die meisten, drey, als die Aglaia, Thalia, und Euphrosyne. Hesiod. Theog. v. 907. & Orpheus Hymn. in Char. v. 3. Den letztern Namen ändern einige in Euphrone. Phurnut. de N.D. c. 15. Die jüngste heißt zuweilen Pasithea. Hom. Il. Ξ. 267. Stat. Theb. II. 282. Diesen fügen einige noch die vierte bey, nämlich die Pitho oder Suadela. Hermesianax ap. Pausan. l. c. Sie nennen sie auch wohl nur Pitho, Aglaia und Thalia. Schol. Aristoph. ad Nub. v. 771.

4 §. Wesen. Sie waren die Göttinnen der Annehmlichkeit, Wohlthaten und Dankbarkeit. Diod. Sic. lib. V. c. 73. Ohne sie war nichts anmuthig und gefällig. Theocrit. Idyll. XVI. 108. Sie ertheileten den Menschen die Freundlichkeit, das aufgeräumte Wesen, die Holdseligkeit und Gesprächigkeit. Pindar. Olymp. XIV. 7. Daher rieth man den gar zu ernsthaften, finstern und verdrüßlichen Leuten, den Gratien zu opfern, θύειν ταῖς χάρισι, Gratiis lita, welches zum Sprichworte geworden. Eras. Adag. Chil. p. 620. Die Götter stelleten keinen Tanz und kein Gastmahl ohne sie an. Pind. l. c. 11. Dabey waren sie Gefährtinnen der Venus. Fulgent Mythol. lib. II. c. 4. Man hält sie insgemein für Jungfrauen. Seneca de Benef. lib. I. c. 3. Gleichwohl wird die eines an den Schlaf und eine andere an den Vulcan verheurathet. Hom. Il. Ξ. 267. & Σ. 382. Phurnut. de N.D. c. 15. Sie hatten nebst dem Amor ihre Wohnung bey den Musen. Hesiod. Theog. 64. Da sie sonst sich mit auf der Erde unter den Menschen befanden, so verließen sie diese endlich mit den übrigen Göttern um derselben Bosheit willen. Poëta Græc. anonym. ap. Nat. Com. l. IV. c. 15.

5 §. Bildung. Sie wurden als drey schöne Jungfrauen vorgestellet, und [1177] zwar entweder ganz nackend, Phurnut. de N.D. c. 15. & Fulgent. Mythol. lib. II. c. 4. oder auch mit einem dünnen durchsichtigen Zeuge bekleidet. Senec. de Benef. l. I. c. 3. Dieses letztere geschah von den ältesten Künstlern dem Bupalus, Apelles, Pythagoras, Parius, Sokrates und andern. Pausan. Bœot. c. 35. p. 596. Man hat noch einen geschnittenen Stein, auf welchem zwo derselben bekleidet sind, die eine aber, die dem Anschauenden den Rücken zukehret, allein unbekleidet ist. Lipperts Dactyl. I Taus. 765. Einige meynen daher, daß sie nach der Zeit unter die Straßenräuber verfallen, die ihnen die Kleider ausgezogen, weil es sonst wider den Wohlstand sey, dergleichen Frauenzimmer nackend aufzustellen, sie auch im Winter ziemlich würden haben frieren müssen. Nat. Com. lib. IV. c. 15. Man weis aber nicht, wer sie zuerst so nackend gebildet hat. Paus. l. c. Sie stunden alle dreye so beysammen, daß ihrer zwo die Gesichter gegen den, der sie ansah, zu, und nur eine dasselbe ihm abkehrete, Fulgent. l. c. & Serv. ad Virg. Aen. I. v. 720. Sie hatten dabey die Hände sämmtlich in einander geschlossen, lacheten, und schienen in einem Kreise zu tanzen. Senec. de Benef. lib. I. c. 3. Einige stelleten sie dabey zu der Venus auf ihren Wagen; Chartar. Imag. 83. andere gaben ihnen den Mercurius zum Führer, Pausan. Bœot. l. c. oder geselleten ihnen doch sonst denselben bey. Seneca l. c. Allein, an statt, daß sie sonst einander bey den Händen hielten, geben einige auch der einen eine Rose, der andern etliche Würfel, und der dritten einen Myrtenzweig in dieselben. Pausan. Eliac. poster. c. 24. p. 391. Auf einem herkulanischen Gemälde leget jede die rechte Hand auf die Schulter der andern und in der linken hält eine Blumen, die zweyte einen Apfel und die dritte Lilien. Pitture ant. d'Ercol. T. III. tav. 11. Andere Denkmäler von ihnen findet man beym Montfauc. Ant. expl. T. I. P. I. t. 109. & 110.

6 §. Verehrung. Ihren Dienst führete, nach der Böotier Vorgeben, zuerst Eteokles ein. Paus. Bœot. c. 35. p. 595. [1178] einige nennen sie daher dessen Töchter. Theocrit. Idyll. XVI. v. 104. & ad eum Schol. l. c. Diese Ehre aber eigneten die Lacedämonier ihrem Könige Lacedämon zu, welcher den Gratien den ersten Tempel soll erbauet haben. Paus. Lacon. p. 196. Zu Clis hatten sie dergleichen, Idem Eliac. post. c. 24. p. 391. wie ihnen denn auch zu Athen von alten Zeiten her ihre Orgia gefeyret wurden und man ihre Tempel, Altäre und Bildsäulen an noch viel mehrern Orten fand. Idem Bœot. c. 35. p. 595. Sie sollen auch einige Tempel mit andern Göttern gemein gehabt haben, und vornehmlich diejenigen, welche dem Amor gewiedmet worden, zugleich ihnen seyn gewiedmet gewesen. Man pflegete ihnen auch in dem Tempel des Mercurius einen Platz einzuräumen; weil man überzeuget war, daß der Gott der Beredsamkeit ihrer nicht Umgang haben konnte. Vor allen aber sollen sie mit den Musen ordentlicher Weise nur einen Tempel gehabt haben. Es soll ihnen auch besonders der Frühling gewiedmet gewesen seyn. Massieu dans les Mem. de l'Ac. des I. T. IV. p. 27. Sonst aber pflegten ihre Tempel mitten auf die Märkte gebauet zu werden, ut gratia meriti cuivis in promtu esset atque ad promerendum quisque esset sacilis & expeditus. Alex. ab Alexand. lib. V. c. 1. p. 7. T. II. Man feyerte ihnen zu Ehren ein Fest, welches Charisien, und nicht Charitien, wie einige schreiben, Ban. Erl. der Götterl. I B. 601 S. genannt wurde. Man begieng es mit Tanzen die ganze Nacht hindurch, und wer am längsten wachen konnte, bekam einen Kuchen, der Pyramus hieß. Potter. Archæol. gr. T. I. 437. Man muß es mit einem andern Feste die Charistien bey den Römern nicht verwechseln, welches den 11ten vor den Kalenden des Märzes oder den 19ten Febr. einfiel, und wobey kein Fremder erscheinen durfte. Alle Verwandten eines Hauses kamen an demselben zusammen, macheten einander Geschenke und sucheten ihre Zwistigkeiten gütlich beyzulegen. Ovid. Fast. II. 617. 638. Valer. Max. L. II. c. 1. n. 8.

[1179] 7 §. Eigentliche Historie. Dergleichen aus dem, was von ihnen vorgegeben wird, heraus zu klauben, würde vergebliche Arbeit seyn, weil sie an sich nichts als bloß erdichtete poetische Personen sind, wie sofort ihre Namen am deutlichsten zu erkennen geben. Banier Entret. VII. ou P. I. p. 180.

8 §. Deutung. Ihrer sind drey, weil eine die Wohlthat giebt, die andere sie annimmt, und die dritte sie wieder giebt oder vergilt. Sie halten sich bey den Händen und stehen gleichsam im Kreise, weil eine Wohlthat herum geht, bis sie wieder an den Geber kömmt. Sie lachen, weil Geber und Nehmer der Wohlthat freudig sind. Sie sind jung, weil das Andenken an die Wohlthaten nicht veralten soll. Sie sind Jungfern, weil Wohlthaten rein und aufrichtig seyn sollen. Sie sind ungegürtet, weil keine Verbindlichkeiten und Bedingungen bey den Wohlthaten seyn sollen. Ihre Kleider sind durchscheinend, weil die Wohlthaten wollen gesehen seyn. Seneca de Benef. lib. I. c. 3. Sie halten einander angefaßt; weil die Bande, die uns mit einander verknüpfen, durch gegenseitige Wohlthaten enger zusammen gezogen werden. Sie tanzen in einen Kreis herum, weil die Wohlthaten unter den Menschen umher laufen sollen, und solche vermittelst der Dankbarkeit natürlicher Weise wieder zu dem Orte kommen, von welchem sie ausgegangen. Ban. Erl. der Götterl. III B. 328 S. Zwo kehren das Gesicht gegen uns, und eine von uns, weil die Wohlthat oder Gefälligkeit, die wir einem andern erweisen, doppelt wieder zu kommen pfleget. Serv. ad Virg. Aen. I. v. 720. & Fulgent. Mythol. lib. II. c. 4. Sie sind schön, weil diejenigen angenehm sind, welche sich freygebig und gutthätig erweisen; und eine von ihnen ist Vulcans Gemahlinn, weil die Werke guter Künstler ihre besondere Gratie und Annehmlichkeit haben. Phurnut. de N.D. c. 35. Was jede von ihnen insonderheit bedeute, sieh unter ihren besondern Namen.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 1176-1180.
Lizenz:
Faksimiles:
1176 | 1177 | 1178 | 1179 | 1180

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

Seltsame Leiden eines Theaterdirektors

»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon