Harpocrates

[1190] [1190] HARPOCRĂTES, is, eine sehr alte Gottheit der Aegyptier, die den Griechen vor Alexanders des Großen Zeiten schwerlich bekannt geworden. Iablonski Panth. ægypt P. I. p. 241. Sein Namen besteht aus den ägyptischen Mörtern Ar-phoch-rat, und bedeutet einen, der am Fuße hinket, oder einen Lahmen. Ibid. p. 247. Es soll ihn Osiris erst nach seinem Tode mit der Isis erzeuget haben. So bald sie sich nun schwanger merkete, so hieng sie sich ein Amulet an, und gebar ihn um die Zeit des kürzesten Tages im Jahre, zu einer Zeit, da die Vorläufer des Frühlinges, besonders der Lotus, hervorsprosseten. Er war aber sehr zart, unvollkommen, schwach und gebrechlich, vornehmlich an dem Untertheile des Leibes. Plutarch. de Is. & Osir. p. 358. & 377. T. II. Opp. Zu diesen Gebrechen gehörete, daß er mit an den Lippen klebendem Zeigefinger auf die Welt kam. Damascius ap. Phot. Bibliot. cod. CCXLII. col. 1049. Es scheint, daß er auf einige Zeit verloren gegangen, weil ihn seine Mutter gesuchet, und bey dieser Gelegenheit die Segel erfunden haben soll. Hygin. Fab. 277. Man muthmaßet, daß sein Dienst anfänglich nur in Oberägyten und den Priestern zu Theben besonders eigen gewesen sey: in den andern Provinzen aber sey er mit auf den Horus gezogen worden. Iablonski l. c. p. 244. Denn er war gewisser maßen mit diesem einerley und ein Sinnbild der Sonne. Cuperi Harpocrates p. 6. Iæblonki l. c. p. 211. 248. In dieser letzten Absicht kam er auch mit dem Osiris überein; und es ist daher kein Wunder, daß man sie oft mit einander vermenget hat; wiewohl sie bey genauerer Bestimmung unterschieden waren. Iabl. l. c. p. 257. Er bildete; aber die wieder aufgehende Sonne ab. Caper. l. c. p. 19. &c. Jedoch wollte man darunter nicht so wohl die Morgensonne eines jeden Tages, als vielmehr die nach dem kürzesten Tage im Winter wieder zurückkehrende Sonne, verstanden wissen. Iabl. l. c. p. 249. Man hat hierbey die Frage aufgeworfen, mit welchem Horus er eigentlich einerley [1191] sey, mit dem ältern oder jüngern? Schlegel beym Banier II B. 159 N. Es war aber leicht zu erkennen, daß es der jüngere seyn müsse, weil der ältere oder eigentliche Horus die Sonne und deren Kraft um die Zeit des längsten Tages und nach demselben abbildete. Iablons. l. c. p. 245. Die Aegyptier stelleten ihn daher auch fast allezeit als ein junges schwaches Kind auf einer Lotusbluhme sitzend und mit dem Finger an dem Munde vor. Plutar. de Is. & Osir. p. 378. & de Pyth. Orac. p. 402. Sie wollten dadurch andeuten, daß die Kraft zu wirken bey der zurückkehrenden Sonne im Anfange noch sehr schwach und unvollkommen und kaum von jemanden zu bemerken sey, der Lotus aber eben um diese Zeit hervor zu kommen pflege. Iabl. l. c. p. 261. & 265. Andere muthmaßen, man habe durch den Finger am Munde auf die Ge wohnheit gezielet, die aufgehende Sonne durch eine Bewegung der Hand vom Munde zu grüßen. Cuper. l. c. p. 76. Indessen nahmen doch die Griechen und Lateiner solches für ein Zeichen der Verschwiegenheit und für eine Erinnerung an, die Religionsgeheimnisse nicht auszuplaudern. Plutarch. l. c. p. 378. Varr. de L. L. lib. IV. p. 17. Sie macheten also einen Gott des Stillschweigens und Vorsteher der Verschwiegenheit aus ihm. Alex. ab Alex. L. II. c. 19. p. 437. Weil nun fast in allen Tempeln, wo Isis und Serapis verehret wurde, ein solches Bildniß befindlich war, so meyneten sie, daß man dadurch ermahnet würde, still und verschwiegen zu seyn. August. de C. D. l. XVIII. c. 5. Ovid. Metam. IX. 691. Er wurde daher auch Sigalion genannt. Auson. Ep. XXV. 27. von σιγάω, ich schweige, und λέως, das Volk; weil er nämlich dem Volke das Schweigen andeute oder auflege. Gyrald. Synt. I. p. 58. Hieraus läßt sich denn leicht die Ursache entdecken, warum man ihn den unterirdischen Göttern beygezählet habe, weil doch im Tode alles still ist. Cuper. l. c. p. 124. Er wurde aber auch zu denen Göttern mitgerechnet, welche die Menschen aus den alleräußersten [1192] Gefahren retten. Artemid. Oneir. l. II. c. 44. p. 139. Daher, wo nicht aus andern Ursachen, kam es vielleicht, daß man zu Rom Ringe mit seinem Bildnisse trug. Plin. H. N. l. XXXIII. c. 3. sect. 12. Zu Buto pflag man ihm so wohl, als dem Horus, jährlich gewisse Feyerlichkeiten an dazu bestimmten Tagen anzustellen, wo ihn einige alte Männer säugen oder Milch geben mußten. Alle Bürger, jung und alt, kamen alsdann zusammen und trugen nebst den Priestern eine läppische, kindische und abscheuliche Gestatt herum. Diese letztern pflagen, um dem Volke ein Blendwerk zu machen, ihr Gesicht zu beschmieren. Sie kratzeten aber diese Schmiere zum Theile wieder ab, und gaben sie denen, welche sie verlangeten, als ein kräftiges Arzeneymittel. Epiphan. expos. fid. cath. §. 5. p. 1092. T. I. Opp. Dieß ist die einzige Verehrung desselben, wovon man Nachricht findet. Jedoch pflegeten ihm auch die Erstlinge der aufwachsenden Bohnen, so wie noch andere Hülsenfrüche, geopfert zu werden, bey deren Darbringung man denn zu sagen pflegete: γλῶσσα τύχη, γλῶσσα δαίμων, die Zunge ein Glück, die Zunge ein Geist. Außer dem Lotus war ihm noch die Persea heilig, weil deren Frucht die Gestalt eines Herzens, ihr Blatt aber eine Zunge vorstellete Plutar. l. c. p. 377. 378. Sein Dienst kam zeitig nach Rom: er wurde aber nebst des Serapis und der Isis ihrem unter den Bürgermeistern Piso und Gabinius in so weit wieder abgeschaffet, daß ihre Altäre umgestürzet, und ihre Priester wieder aus der Stadt vertrieben wurden. Tertull. apolog. c. 6. Dieses war schon zu verschiedenen Malen geschehen: gleichwohl aber wurde er immer wieder hergestellet. Havercamp. ad h. l. n. 40. & 41. Man hat sehr viele Abbildungen in allerley Arten alter Denkmäler von ihm. Cuperi Harpocrat. & Montfauc. Antiq. expliq. T. II. P. II. pl. 123, 124 & 125. Die meisten darunter aber sind von der Griechen Erfindung und zeugen mehr von deren Aberglauben, als den ägyptischen Lehrsätzen. Sie[1193] sind auch mit so vielen Nebensinnbildern und Veränderungen derselben, versehen, daß es schwer wird, sie alle anzumerken und zu erklären. Iablonski l. c. p. 243. Sein allgemeines Kennzeichen indessen ist der zum Munde gebrachte Zeigefinger der rechten Hand. Montfauc. l. c. Liv. V. ch. 12. §. 2. Unter denen Vorstellungen, die man noch wirklich für ägyptisch hält, giebt es einige, wo er das Haupt mit Stralen oder Hörnern umgeben zu haben scheint, etliche, wo er Flügel hat, desgleichen, wo er eine Ruthe, oder vielleicht besser ein Instrument zum Heuspinnen, in der Hand hält, und endlich, wo er ein Horn des Ueberflusses trägt. Alle diese Sinnbilder zeigen an, daß man ihn für die Sonne gehalten. Der Mohn, der ihm gleichfalls manchmal zugegeben ist, soll ein Sinnbild der Fruchtbarkeit seyn, welche die Sonne wirket, so wie sein Köcher und seine Pfeile die Sonnenstralen anzeigen. Die Schlange, welche in gebogenen Krümmungen einen Cippus oder auch wohl einen Baumstock umringet, soll den schiefen Lauf des Thierkreises bedeuten. Ban. Erl. der Götterl. II. B. 203 S. Wenn er auf einer Lotuspflanze sitzt, so sollen die Aegyptier dadurch haben zu verstehen geben wollen, daß sich die Sonne von Dünstennähre. Plutar. l. c. p. 355. In einer mystischen Bedeutung soll es anzeigen, daß Gott über das Irdische viel zu erhaben sey, als daß er es auch nur berühre. Iamblich. de myster. Aegypt. sect. VII. c. 2. Daß sie ihn lahm gebildet, soll daher rühren, weil die Sonne um die Zeit ihres Stillstandes langsamer zu gehen scheint. Iablonski l. c. p. 269. Ordentlicher Weise ist er ganz nackend: jedoch findet man ihn auch zuweilen mit einem langen Rocke bekleidet. Spon. misc. erud antiq. p. 16. Eine der sonderbarsten Vorstellungen vieleicht aber ist, wo er auf einem runden Fußgestelle sitzt, auf der linken Schulter einen Köcher mit Pfeilen trägt, der losgelassene Bogen aber unter einem langen Kleide bis auf die Füße stößt; wobey doch der Kopf, die Arme und ein Theil des rechten Fußes [1194] bloß sind. In der linken Hand hält er eine brennende Fackel und drey Lotushäupter, unter dem Arme aber einen Hahn bey dem Halse. Hinter sich hat er eine Nachteule, die auf ihrem Kopfe ein aufgerichtetes Eselsohr hat, welches aber einige lieber für die Bluhme der Colchas oder Kolokasia ausgeben, die eine solche Gestalt hat, und ein Sinnbild der Fruchtbarkeit war. Er scheint selbst dergleichen auf dem Hintertheile seines Kopfes zu haben: auf der Stirne aber trägt er einen halben Mond, und um den ganzen Kopf ist eine Schlange gewickelt. Alles dieses deutet man auf die Betrachtung himmlischer Dinge, wobey man sich aus Demuth für ein Kind halten, die Welt nicht achten, mehr hören, als reden, wie der Mond zunehmen, wie die Schlange ihre Haut, also seines Ortes den alten Menschen ausziehen, die Einsamkeit lieben, wie der Hahn wachsam seyn, und also alle seine Gedanken, wie die Pfeile, zum Ziele richten sollte. Gorop. Becan. ap. Masen. spec. ver. occ. c. 22. n. 47. Einige geben ihm gar keinen Mund, wohl aber einen Leib voller Ohren und Augen, einen Wolfspelz zum Kleide und wollene Pantoffeln, welches denn bedeuten soll, daß ein kluger Mensch gern viel höret und sieht, wenig redet, wachsam und still ist. Cæl. Calcagnin. ap. eumd. l. c. Andere machen die gewöhnliche Vorstellung desselben zu einem Sinnbilde des Friedens und der guten Policey unter den Bürgern nach den Aernden und bey der Freude, welche die Ruhe des Winters eingiebt. Pluche Hist. du Ciel. T. I. p. 92.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 1190-1195.
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