Polyphémvs

[2052] POLYPHÉMVS, i, Gr. Πολύφημος, ου, ( Tab. XI.)

1 §. Aeltern. Diese waren, nach einigen, Neptun und Europa, des Tityus Tochter; Apollon. l. I. v. 40. nach andern aber, Neptun und Thoosa, eine Nymphe, Homer. Od. Α. v. 70. nach den dritten, Elatas und Stilbe, eine Nymphe; Andro Teius ap. Nat. Com. l. IX. c. 8. nach den vierten, Elasus und Amymone. Conon. ap. eumd. l. c. Allein, die fünften meynen, daß nicht genau zu sagen stehe, wer dessen Aeltern eigentlich gewesen, und dieses unter andern insonderheit darum, weil er oft mit dem folgenden Polyphemus vermenget wird. Nat. Com. ipse l. c.

2 §. Wesen und Gestalt. Er war ein Cyklope, und zwar der stärkeste unter allen, Homer. Od. Α. v. 69. der an Größe den hohen Bäumen auf den Felsen glich. Id. ib. 1. v. 191. Er soll nur ein Auge, nach Art der Cyklopen, auf der Stirne gehabt haben: Id. ib. v. 273. Eurip. Cycl. 315. jedoch geben ihm auch andere zwey, oder wohl gar drey Augen. Serv. ad Virgil Aen. III. 636. Man giebt ihn für einen großen Ruchlosen aus, der weder nach dem Jupiter, noch nach andern Göttern, etwas fragete, indem er sich und seines Gleichen für weit vortrefflicher hielt. Seinen Aufenthalt [2052] hatte er in einer großen Höhle in Sicilien, Hom. l. c. 182. woselbst noch hundert andere seines Gleichen sich befanden. Virgil. Aen. III. v. 643. Er besaß dabey eine große Heerde Schafe, Ziegen und d.g. die er selbst hütete, molk, u. sich daher seine Käse und Butter selbst machte. Homer. & Virgil. ll. cc. Seine Augebrauen gieng von einem Ohre zu dem andern, und hatte er unter seinem einen Auge eine ungeheuere breite Nase. Theocr. Idyll. XI. v. 31. Er konnte aber doch gleichwohl unter allen Cyklopen am besten mit der Pfeife umgehen. Id. ib. v. 38. Eine erhabene Arbeit in der Villa Albani zeiget seine Abbildung mit dem dritten Auge auf der Stirne über der Nase. Er sitzt auf Felsen, hält das Plectrum in der rechten und die Leyer in der linken Hand; neben ihm liegt die Keule. Er scheint mit den zweyen untersten Augen zu schlafen und dem obersten zu wachen. Auf dem Baume neben ihm sitzt ein Amor, der ihn mit dem linken Arme umhalset. Zu seinen Füßen neben der Keule steht ein Ziegenbock, wie er denn selbst auf einem Ziegenfelle sitzt, das um seine linke Lende geschlagen ist. Winkel man. Mon. ant. 36. p. 43. Eben so wird er mit dreyen Augen, der Leyer in der linken Hand und daneben liegender Keule auf einem herkulanischen Gemälde vorgestellet. Die Rechte strecket er nach einem Diptychon oder zweyblätterichten Täfelchen aus, welches ihm ein auf einem Delphine reitender und damit herangeschwommener Amor überreichet. Er ist nicht von so ungeheurer Gestalt, als man ihn insgemein machet, und hat eine Tiegerhaut um die Lenden geschlagen, sitzt aber unter einem Felsen auf einem Stücke desselben. Pitture ant. d'Ercol. T. I. tav. 10.

3 §. Thaten. Als Ulysses auf seiner Rückreise von Troja in Sicilien anländete, so begab er sich mit zwölf Mann seiner Leute in dessen Höhle, weil derselbe nicht daheim war, sondern sein Vieh hütete. Hier hätte sich nun Ulysses mit Milch, Käse und anderm Vorrathe, der in großer Menge, ohne einigen Hüter, da stund, zur Gnüge versorgen [2053] können, wie ihm auch seine Leute riethen; allein, weil er beschlossen, mit dem Polyphemus selbst zu reden, so erwartete er dessen zu innerst in der Höhle. Es kam auch solcher nach einiger Zeit an, und warf ein ungeheures Bund dürres Holz, das er sich mit brachte, sein Abendbrod dabey zu bereiten, vor der Thüre der Höhle nieder, trieb darauf sein Vieh in selbige, und beschickte es nach seiner Art. Da er sich aber Feuer zu seinem Abendessen machte, so wurde er des Ulysses und dessen Leute gewahr. Er fragte sie, wer sie wären, und, da ihm Ulysses etwas vom Jupiter und dergleichen vorschwatzete, so hatte er sein Gespött damit, ergriff auch ohne weitere Umstände zween von des Ulysses Gefährten, schlug sie wider die Erde, zerstückte und fraß sie mit Kaldaunen, Knochen und allem. Er that einen guten Trunk Milch dazu, und legte sich damit, so lang er war, unter seinem Viehe in die Höhle hin, nachdem er gleich anfangs solche mit einem Steine verwahret, den zwey und zwanzig Wagen nicht hätten wegführen mögen. Als es Morgen wurde, so ergriff er wieder zween von des Ulysses Leuten, und verschlang sie wie die vorigen. Darauf machte er die Höhle mit besagtem Steine wieder so gemächlich zu, als ob er einen Deckel auf einen Köcher thäte. Er ließ aber hierbey seinen Hirtenstab liegen, der so groß war, als ein Mastbaum. Von solchem schnitt Ulysses ein Stück ab, brannte es im Feuer spitzig, und versteckte es unter den Mist. Darauf loosete er unter seinen Leuten, wer ihm helfen sollte, und bekam viere von ihnen, die ihm eben anstunden. Als darauf Polyphem wieder heim kam, und noch zween von des Ulysses Leuten fraß, so both ihm dieser auch einen Trunk Wein dazu an, den er zu gutem Glücke mit genommen hatte. Weil nun solcher dem Riesen schmeckte, so schenkete ihm Ulysses so lange ein, bis er sich endlich besoff, daß er von seinen Sinnen nicht wußte. Indessen fragte er doch den Ulysses um seinen Namen, der sich denn Utis nannte, und es für ein Gastgeschenk [2054] annehmen sollte, daß ihn der Cyklope zu allerletzt verzehren wollte. Allein, da sich solcher bemeldeter Maßen im Weine übernahm, und hiernächst in einen tiefen Schlaf verfiel, in welchem er Wein und Fleisch von den gefressenen Menschen wieder von sich gab, so steckete Ulysses besagtes Holz wieder in Brand, und setzete es sodann dem Cyklopen auf sein Auge. Die vier andern Gefährten mußten mit aller Macht darauf drücken, da sie es ihm denn solcher Gestalt aus dem Kopfe brenneten und bohreten. Polyphemus machte dabey ein ungeheures Gebrüll, und rief dadurch die andern Cyklopen herbey. Allein, da ihn diese vor der Höhle fragten, was ihm fehlete, so sagte er, Utis hätte ihm sein Auge ausgestochen. Weil aber Utis im Griechischen so viel, als Niemand, heißt, und die andern Cyklopen ihn in der Höhle nicht sahen, so glaubeten sie, er vexirete sich mit ihnen, und giengen also wieder ihre Wege. Indessen eröffnete er seine Höhle wieder, setzete sich aber in deren Thüre und streckete die Arme aus, damit ihm Ulysses mit seinen Leuten nicht unter den Schafen etwan davon wischen möchte. Allein, dieser band von den großen Schafböcken allezeit drey und drey neben einander, und unter dem mittelsten einen seiner Leute, er selbst aber hieng sich auf solche Weise an einen starken Widder, und ließ sich also mit zur Höhle hinaus schleppen. Polyphem befühlete zwar alle ihre Rücken sorgfältig: die dicke Wolle derselben aber machte, daß er die Wieden nicht merkete, womit die Leute angebunden waren. Er wunderte sich auch, daß sein großer Widder, der sonst immer voran eilete, dießmal so langsam hinter her schlich, und wünschete, daß er ihm sagen könnte, wo Utis steckete. Dieser war aber solcher Gestalt wieder in Sicherheit, und nahm ein gutes Theil von Polyphems Schafen dazu mit hinweg. So bald er nur ein Stück ins Meer hinein war, so schrye er dem Polyphemus zu, und rückete ihm seine Grausamkeit auf. Dieser wurde darüber so ergrimmt, daß er ein Stück von[2055] dem Felsen abriß, und es nach dem Schiffe warf. Es fiel nahebey dem Vor dertheile desselben nieder, und trieb es dadurch wieder an das Land, so daß Ulysses genug zu thun hatte, davon wieder hinweg zu kommen. Als er nun ein gutes Stück weiter in die See gerückt, so rief er dem Polyphemus abermal zu, und meldete ihm, wenn ihn jemand fragte, wer ihm sein Auge ausgestoßen, so sollte er nur sagen, daß es Ulysses aus Ithaka gewesen. Hier erinnerte sich Polyphem, daß ihm Telemus, ein Wahrsager, solches vorher gesaget: er hatte aber nicht geglaubet, daß solcher Ulysses ein so kleines Geschöpf gegen ihn seyn würde, daher er sich auch vor ihm nicht in Acht genommen. Indessen bath er seinen Vater, Neptun, um Rache, und warf noch einen Stein, wie den vorigen, nach dem Schiffe. Er fehlete aber wieder, und so kam Ulysses endlich davon. Homer. Od. 1. v. 106–541 & brevius Hygin. Fab. 125. itemque Auson. Odyss. Perioch. 9. Cf. Virgil. Aen. III. v. 616. Ovid. Met. XIII. v. 755. & XIV. v. 167. & Lucian. Dial. Deor. 14. Euripides hat von dieser Begebenheit ein noch vorhandenes Trauerspiel, unter dem Titel Cyklops, gemacht, worinnen er den Silen und die Satyren mit ins Spiel bringt, welche bey Aufsuchung des Bacchus hieher verschlagen und vom Polyphem zu seinen Knechten gemacht worden. Von ihnen tauschet Ulysses, gegen Wein, Schafe, Käse und andere Lebensmittel. Act. I. Hierüber kömmt Polyphem dazu; und weil ihm Silen saget, daß sie solche mit Gewalt genommen, so zwingt er sie in seine Höhle. Act. II. Da thut er nun die schöne Mahlzeit, und wird vom Ulysses besäufet, der ihm denn mit Hülfe der Satyren das Auge ausbrennet und unter seinen Verwünschungen davon fährt. Act. III. IV. V.

4 §. Liebeshändel. Er hatte solche mit der schönen Nymphe, Galatea, welche aber den Acis lieber leiden mochte. Theocrit. Idyll. XI. per integr. Allein, dieses kostete demselben das Leben, und [2056] auch beynahe ihr. Ovid. Met. XIII. v. 755–884. Sieh Galatea und Acis. Jedoch soll er einen Sohn, Galatus, mit ihr erzeuget haben. Bacchylid. ap. Nat. Com. l. IX. c. 8. p. 975. Man vermengt ihn wohl mit folgendem, wenn man ihm des Herkules Schwester zur Frau giebt. Onasus rer. Amazon. l. I. ap. eumd. l. c. p. 974. Einige wollen auch, daß Celtus, Illyrius, Henetus und Paphlagon seine Söhne gewesen. Ib. p. 975.

5 §. Eigentliche Historie und anderweitige Deutung. Man will diesen Polyphem für einen Fürsten einiger Inseln in dem mittelländischen Meere oder in Sicilien halten, bey welchem Ulysses mit eingesprochen, und so gute Bekanntschaft mit dessen Tochter, der Elpe, gemacht, daß er sie entführet, wiewohl ihm die Lästrygonen solche wieder abgenommen und ihrem Vater zugestellet. Banier Entret. XVIII. ou P. II. p. 252. Dess. Erl. der Götterl. V B. 258 S. Andere halten ihn für einen klugen Mann, dem aber doch Ulysses noch überlegen gewesen. Serv. ad Virg. Aen. III. 636. Allein, noch andere wollen, daß er bloß ein Bild eines Tyrannen sey, der nur ein Auge habe, womit er auf seinen Nutzen sehe, sonst aber weder nach Gott noch Menschen etwas frage. Boccacc. l. X. c. 14. Wenigstens giebt er ein Exempel, wie leicht es sey, auch den stärkesten Riesen in der Völlerey zu bezwingen, und daß List und Klugheit aller Gewalt und Stärke weit überlegen seyn. Omeis Mythol. in Polyphemus, p. 215.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 2052-2057.
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