1. Brief.

Lieber Wilhelm!


Der Zeitpunkt ist nahe, wo Du in die Welt treten wirst. Du hast nun doppelten Fleis anzuwenden, um Dir das, was in der Welt unumgänglich nöthig ist, Höflichkeit, Anstand, feine Sitten, ganz eigen zu machen, damit Du unter den verschiedenen Menschen und Ständen, mit denen Du in nähere Verhältnisse kommst, so gefallen mögest, wie Du es für Deine Ruhe und Zufriedenheit, für Dein Vergnügen und Glück wünschen mußt.

Ich werde Dich daher in unserm Briefwechsel auf diesen so wichtigen Gegenstand oft zurückführen, und manchen Brief besonders dazu bestimmen, Dich mit den Grundsätzen der guten, seinen Lebensart näher bekannt zu machen, und Dir die vornehmsten Regeln derselben theils wieder in Erinnerung zu bringen, theils etwas umständlicher zu entwickeln und darzustellen.

Diese Unterhaltung wird mir sehr viel Vergnügen gewähren, so lange Du fortfährst, mir auch hierin Dein Zutrauen zu schenken. Um dieses bitte ich Dich recht angelegentlich. Halte diese Bitte nicht für überflüssig. Noch habe ich zwar bis jetzt nicht Ursache gehabt, an Deinem vollen Zutrauen gegen mich zu zweifeln; allein in Rücksicht dieses Punktes könnte es doch vielleicht in Gefahr kommen, zu wanken.

Du wirst schon jetzt viele und in Zukunft noch mehrere, zumal junge Leute aus Familien, in welchen man eine sehr gute Erziehung voraussetzen sollte, um und neben Dir sehen, deren Betragen sehr oft von ganz andern Grundsätzen und Maximen geleitet wird, als diejenigen sind, welche Du von mir erhalten hast und noch erhalten wirst. Es werden Dir besonders Viele vorkommen, welche vom herrschenden Geiste des Zeitalters, [2] dem Geiste des Eigendünkels, der Selbstsucht, der Liebe zur Zwanglosigkeit und Unabhängigkeit, irregeleitet, sich über Vieles, was Höflichkeit, Anstand, seine Sitten gebieten, als unnütze und lästige Dinge hinwegsetzen, welche ein bescheidenes Betragen für Schwachheit, für Mangel an eigner Kraft und Energie, wie sie es nennen, halten, mit einer Miene von Wichtigkeit und Selbstzufriedenheit, – über alles entscheiden und absprechen, den Unterschied des Alters, des Standes, der Erfahrung mit Leichtsinn und Gleichgültigkeit verachten und ignoriren, Achtung gegen den Greis, Ehrerbietung gegen den Höhern, Aufmerksamkeit und Schonung gegen das andere Geschlecht, vernachlässigen, sich Jedermann gleich dünken und gleich setzen, und ihren jugendlichen Launen, Neigungen und Einfällen, ohne Zwang, ohne Rücksichten, freyen Spielraum lassen.

Solche Grundsätze und Beyspiele sind desto verführerischer, lieber Wilhelm, je anziehender sie sind, je mehr sie der Eigenliebe schmeicheln und je weniger sie Zwang auflegen.

Auch Dir werden sie Gefahr bringen, solange, bis Du bey der Beobachtung der besten, gebildetsten [3] und geachtetsten Menschen sehen wirst, daß diese in ihrem Betragen ganz andere Grundsätze und Regeln befolgen, als jene jungen Leute; Regeln, die mehr mit der Wahrheit, der Moralität, dem gesunden Geschmacke und dem Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft übereinstimmen.

Du wirst daher die Warnung vor jenem, unter so vielen jungen Leuten herrschenden Geiste des Egoismus und des Leichtsinns, und die Bitte, mir Dein volles Zutrauen zu schenken und zu erhalten, nicht überflüssig finden. Ich verlange kein blindes, gedankenloses Zutrauen; vielmehr bitte ich Dich auch hier, wie ich Dich bey andern Lehren so oft gebeten und selbst angewiesen habe: prüfe alles und behalte das Gute. Ich bin mit der zärtlichsten Liebe,


Dein ergebenster Onkel

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[4] ** den 8. Junii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 2-5.
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