18. Brief.

[112] So wie Du siehest, lieber Wilhelm, daß Du die verschiedenen Klassen und Stände der Menschen, die Höhern, Deines Gleichen und die Niedern, das weibliche Geschlecht, nach ihren besondern Verhältnissen, Eigenheiten und Bestimmungen zu behandeln hast, wenn Du ihnen gefallen willst: so wirst Du nun die Nothwendigkeit der großen, allgemeinen Regel leicht einsehen, die Du in Deinem Umgange mit Andern zu beobachten hast: Behandle einen Jeden so, daß er mit sich und mit Dir zufrieden sey. Die Franzosen sagen: mettez chacun à son aise. Benimm Dich gegen einen Jeden so, wie er es wünschen kann und darf.

[112] Um dieß jedesmal mit dem besten Erfolge thun zu können, mußt Du das Talent haben, Dich Jedem, den Du vor Dir hast, zu verähnlichen, Dich in seine eigene, individuelle Art zu denken, in seinen Charakter, in seine Art von Kenntnissen und Urtheilskraft hinein zu denken, Dich mit ihm auf den Standpunct zu setzen, auf welchem er sich am liebsten siehet und gefällt, und sich so in einem behaglichen Zustande befindet. Hierin liegt das große Geheimniß derer, die Allen Alles seyn können, mit denen Jedermann gerne umgehet und sich in ihrer Gesellschaft wohl befindet.

Ich darf nicht fürchten, daß Du mich misverstehen und in den Irrthum fallen möchtest, als solltest Du, mit Aufopferung Deiner Selbstständigkeit, Rechtschaffenheit, Ehre und Deiner eigenen Würde, Dich Andern in verächtlichen, tadelnswürdigen und schlechten Dingen gleich machen, ihren niedrigen Neigungen nachgeben und schmeicheln, Thorheiten begünstigen, mit dem Verleumder verleumden, mit dem boshaften Spötter spotten, mit dem Lüderlichen verschwenden, mit dem Spieler spielen u. s. w. und so [113] sie und Dich betrügen. Hiervon kann gar nicht die Rede seyn. Sondern jene Verähnlichung erfordert, daß Du gegen Jeden die nöthige Schonung und Nachsicht beweisest, daß Du Dich nach seinen Kenntnissen, Talenten, Neigungen und Wünschen richtest, diesen, sobald sie gleiche gültig sind, nicht entgegen handelst, daß Du nicht von Dingen redest, die der Andere nicht verstehet, sondern von solchen, mit denen er wohl bekannt ist, nicht Dinge vorbringst, die ihm unangenehm sind, nicht Dinge geflissentlich und zwecklos erhebest und rühmest, auf welche er keinen Werth setzt. So sey daher mit jungen Leuten und dem weiblichen Geschlechte munter und frölich; gegen Alte ernsthaft, duldsam und nachgebend; gegen Gelehrte und Sachverständige kurz in Deinem Vortrage, und ein lernbegieriger Zuhörer; gegen Unwissende umständlicher in Deinen Reden; gegen Schwachköpfe und Thoren nachsichtvoll; gegen Geschwätzige kurz und stumm; den Stolzen demüthige nicht, dem Rechthaber widersprich nicht, wenn es nicht höhere Pflichten gebieten; den Geizigen verleite nicht zu Ausgaben; unter Freygebigen sey nicht sparsam; dem fleißigen Geschäftsmann raube nie seine Zeit; mit dem bescheidenen, geraden [114] Manne vermeide alle unnütze Umstände; dem Titelsüchtigen, deren wir noch so viele in Deutschland haben, zum Beweis, daß Flittergold und Folie noch im hohen Werthe sind, vergiß nie, seinen werthen Titel zu geben; laß dem Soldaten seine Bravour, dem Weibe und Mädchen seine Schönheit und Jugend; dem Lebhaften gib Beschäftigung und Unterhaltung; dem Phlegmatischen und Indolenten gestatte Ruhe; des Empfindlichen schone mit der äußersten Behutsamkeit; lerne alle die Steckenpferde der Menschen kennen, als Jagd, Pferde, Hunde, Katzen, Vögel, Tanz, Schmetterlinge, Petschafte, Kunstsachen etc. laß sie dieselben reiten, wenn es nicht Deine besondere Pflicht ist, sie abzusetzen.

So lerne Allen Alles seyn, Allen Behaglichkeit und Zufriedenheit mit Dir und mit sich zu geben, und doch dabey der Mann von Kraft, Selbstständigkeit, von Rechtschaffenheit und Ehre, mit Würde zu bleiben. –


[115] ** den 28. Sept. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 112-116.
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