Achtes Kapitel

Die Lage der Frauenarbeit

[62] Im Anschluß an den Parteitag in Gotha habe ich eine Reihe von Versammlungen in kleinen Thüringer Städtchen abgehalten, die mir einen ganz besonderen Eindruck machten. So kam ich auch nach Waltershausen, wo die Herstellung von Spielwaren als Hausindustrie betrieben wird. Tagsüber scheinen die Straßen des hübschen Städtchens wie ausgestorben, nur hin und wieder sieht man einzelne Frauen, ein Kleines im faltenreichen bunten Kattunmantel auf dem Arm, rasch über die Straße laufen, oder die Hucke auf dem Rücken, um fertige Arbeit abzuliefern. Spielende Kinder sind nicht zu sehen. Die Allerkleinsten sind in der Kinderbewahranstalt, wo sie für 10 Pfennig den Tag über versorgt werden. Aber schon ein, zwei Jahre vor der Schulpflicht beginnt ihre Arbeitszeit. Sie müssen bei der Herstellung von Puppen für glücklichere Kinder helfen. Es war ein trauriger Anblick, eine Anzahl Kinder so still bei der Arbeit sitzen zu sehen. Die Leute haben eine Arbeitsteilung bis ins kleinste hinein vorgenommen, damit eben jedes Kind mithelfen kann, denn das ist einfache Notwendigkeit. Die Frauen, die mich nach der Versammlung baten, sie zu besuchen, haben mir sowohl ihre Arbeit wie ihre Lohnbücher gezeigt. Ich war ja an Löhne gewöhnt, bei denen man knapp das Leben hat, aber hier sträubten sich mir doch die Haare. Das Nähen von 35 Zentimeter langen Hemdchen, an Halsausschnitt und Ärmeln gekraust und mit Spitze besetzt, wurde pro Dutzend mit 30 Pfennig bezahlt. Waren sie nur 20 Zentimeter lang und an Hals und Ärmeln glatt umgesäumt, so gab es 10 Pfennig für das Dutzend. Zur Ablieferung mußten sie sauber geplättet, in bestimmter Weise gelegt und dutzendweise zusammengebunden werden. Wenn eine fleißige Arbeiterin in 5 Tagen 25 Dutzend von der größeren Sorte schaffen wollte, so mußte sie die halbe Nacht zur Hilfe nehmen. Den sechsten Tag hatte sie dann vollständig[63] mit Plätten und Zurechtlegen zu tun. Rechnet sie Garn, Nadeln, Öl, Plättfeuer ab, dann hatte sie etwa 6 Mark verdient.

In einer anderen Familie beobachtete ich die Herstellung von Nippsachen, Tierfiguren, Rehköpfen als Wandschmuck. Man hatte gerade damals als beliebtes Muster zwei kämpfende Hirsche, aus einem Gemenge von Brotmehl, Gips und Leim; die aus Blei gegossenen Beine und Geweihe lieferte die Fabrik, alles übrige: Ocker, Bleiweiß, Firniß, Englisch Rot, Terra Sienna usw., Steine und Moos für das Postament mußte der Arbeiter selbst beschaffen. Die ganze Familie arbeitete mit. Der Mann setzte Augen, Beine und Geweihe ein und färbte den Tierleib, indem er die Farbe aus dem harten Pinsel spritzte. Eine ungesunde Arbeit, deren häufige Folge Bleikolik ist. Die Frau streicht dann mit einem feinen Pinsel Hufe, Augen und Maul an. Die Kinder sammeln Steine und Moos, helfen beim Färben und stellen den Felsen zusammen. Wenn alle Familienmitglieder sich so in die Hand arbeiten und genügend Arbeit vorhanden war, so schaffte bei einer Arbeitszeit bis spät in die Nacht hinein eine Familie in einer Woche etwa zwanzig Dutzend Hirsche, das Dutzend zu 90 Pfennig. Rechnete man für die Auslagen etwa 3 Mark, dann blieben 19 Mark Arbeitsverdienst für die Woche, die aber nicht etwa aufgebraucht werden durften, denn es mußte mit der arbeitslosen Zeit gerechnet werden. Das »Gothaische Volksblatt« hatte festgestellt, daß im Jahre für etwa 225 Tage mit Arbeit und Verdienst zu rechnen war. In den Fabriken waren die Löhne für die Männer etwa 7 bis 11 Mark in der Woche, für die Frauen und jugendlichen Arbeiter 3 bis 6 Mark. Natürlich versuchten die Fabrikarbeiter dieses schmale Einkommen durch Hausarbeit zu erhöhen und merkten nicht, wie sie dadurch ihre Lage keineswegs verbesserten, sondern die Verhältnisse immer noch mehr drückten. Die Frau hat neben der Erwerbsarbeit die Sorge für den Haushalt, und wenn sie abends die Kinder ins Bett geschickt hat, oder Sonntags, steht sie noch am Waschfaß oder flickt und stopft. Die »Gleichheit« hat damals einen ausführlichen Bericht mit allen den Zahlenangaben über Verdienst und Arbeitsmöglichkeit gebracht, wie ich sie den Lohnbüchern entnommen hatte. Das hatte zu Nachforschungen Anlaß gegeben, und eine geringe Besserung in der Lage der Heimarbeit in Waltershausen war die Folge.

Ähnliche Verhältnisse habe ich bei den Geraer Textilarbeiterinnen gefunden. Die Frauenarbeit war in den dortigen Fabriken so vorherrschend,[64] daß man es schon glauben konnte, wie es damals hieß, daß die Männer zum größten Teil arbeitslos daheim saßen und den Haushalt besorgten, während Frauen und Mädchen in der Fabrik den Lebensunterhalt verdienten. Konnte in Zeiten guten Geschäftsganges eine geschickte Arbeiterin gleichzeitig zwei Webstühle bedienen, so war mit einem Wochenlohn von 18 Mark zu rechnen, dafür mußte sie aber für schlechte Zeiten mit 5 bis 7 Mark in der Woche sich begnügen. Dazu kamen aber fast immer noch Abzüge für kleine Versäumnisse, für fehlerhafte Stellen im Gewebe. Den Lohn allzu stark zu drücken, wagten die Geraer Fabrikanten nicht, denn die Arbeiterschaft hatte dort schon bewiesen, daß sie zusammenzuhalten verstand. Aber die Herren hatten einen anderen Ausweg gefunden, um ihre Gewinne zu erhöhen; sie schickten Ketten und Garne in das benachbarte Vogtland, wo das Weben unter einer Art Schwitzsystem zu den billigsten Preisen geschah. Dort verdienten Frauen, die oft stundenweite Wege bis zur Arbeitsstätte hatten, 4 bis 5 Mark in der Woche.

Aber auch die Verhältnisse bei den Berliner Weißnäherinnen waren keineswegs besser geworden. Die Herstellung der einfacheren Damenwäsche geschah unter den denkbar elendsten Bedingungen. Hungerlöhne in des Wortes vollster Bedeutung wurden auch hier gezahlt. Das »Schwitzsystem« war hier ebenso im Gange, wie z.B. in der Mäntelkonfektion. Nur sind hier die »Schwitzer« häufig die Frauen kleiner Beamten gewesen, die durch das geringe Gehalt des Mannes auf Erwerb angewiesen waren. Sie hatten keine Arbeitsstube, verstanden selten selbst zu nähen, lernten aber meistens sehr rasch den Geschäftsbetrieb. Auf die Arbeiterin wurden nicht nur die Arbeit, sondern auch die Kosten für den Betrieb abgewälzt: Nähmaschine, Garn, Nadeln, Wohnung, Beleuchtung, vor allem aber auch das Risiko für den Ausfall der Arbeit. Und diese Arbeiterin, die so »aus zweiter Hand« arbeitete, gehörte meist zu den ärmsten ihrer Klasse. Das »Du sollst und mußt etwas verdienen, oder du verhungerst« war ihr von dem verkümmerten Gesicht abzulesen. Ich habe einmal nach einem Arbeitsbuch berechnet, daß eine Arbeiterin in 34 Wochen insgesamt 364,95 Mark verdient hat. Nach Abzug aller Unkosten behielt sie für die Woche 8,46 Mark bei etwa 14stündiger Arbeitszeit täglich, d.h. also bei unermüdlicher Arbeit die Stunde 10 Pfennig. Man irrt sich aber, wenn man meint, daß eine Person diese paar Pfennige in der Stunde erarbeitet; fast immer müssen Familienangehörige helfen, in diesem Falle mußte[65] die alte Mutter Knopflöcher machen, Knöpfe annähen, Stickerei beschneiden u.a. Dabei kommt auch hier hinzu, daß das nur für die Zeit des flotten Geschäftsganges gilt. In einem Prozeß ist einige Jahre vorher für den notwendigsten Lebensunterhalt einer Arbeiterin 12 bis 13 Mark in der Woche festgestellt worden. Die Wäschenäherin verdiente aber im Durchschnitt kaum die Hälfte, dabei war sie durch das Elend und die Arbeitshast so gedrückt, daß es schwer hielt, Auskunft über ihre Verhältnisse zu bekommen. Und die Mutter, von der Sorge um die Nahrung der Kinder angespornt, mußte sie auf der anderen Seite verkümmern sehen, aus Mangel an Pflege und Aufsicht. Betritt man des Vormittags eine Wohnung und glaubt die Näherin beim Kochen, so sitzt sie an ihrer Maschine und näht in fieberhafter Hast. Die Betten sind noch nicht gemacht, ein kleines, ungewaschenes Kind liegt in dem einen und schreit, ein älteres spielt an der Erde. Die Mutter kann sich nicht darum kümmern, denn es ist Liefertag, und die Arbeit muß unbedingt fertig werden. Zum Sprechen ist keine Zeit, denn es lenkt die Gedanken von der Arbeit ab. Über die vom Arbeitgeber festgesetzte Zeit hinaus wird die Arbeit nicht abgenommen. Denn dann gibt es für die Woche keine Lohnzahlung. Das Leben dieser Frauen war zu einer stumpfsinnigen Fronarbeit geworden. Es war schwer, sie daraus wachzurütteln.

Die Verhältnisse waren so in der gesamten Wäscheindustrie, hier und da um ein geringes besser, kümmerlich aber überall da, wo Frauen um ihrer und ihrer Familie Lebensunterhalt arbeiten mußten. Zur Kenntnis der Allgemeinheit sind die Dinge durch den großen Konfektionsarbeiterstreik gekommen, der Anfang Februar 1896 in Hamburg, Stettin und Breslau ausbrach, und dem dann Berlin, Halle, Erfurt und Dresden folgten. Eine Fünferkommission stellte 7 Forderungen auf:

1. Anerkennung von Lohntarifen.

2. Errichtung von Betriebswerkstätten.

3. Einsetzung einer Kommission, bestehend zu gleichen Teilen aus Geschäftsinhabern oder deren Vertretern und aus Schneidern zur Austragung etwaiger Streitigkeiten.

4. Anständige, menschenwürdige Behandlung. Rohe Redensarten oder gar Handgreiflichkeiten müssen unterbleiben.

5. Schnelle Abfertigung bei Empfangnahme und Ablieferung der Arbeit. Bei länger als einstündigem Warten wird pro Stunde 40 Pf. vergütet.[66]

6. Mindestens wöchentliche Lohnzahlung am Schluß jeder Woche.

7. Anerkennung der Arbeitsnachweise in Händen der Arbeiter.

Die Forderung der Betriebswerkstätten wurde bei den Verhandlungen von den Vertretern der Arbeiterschaft für später zurückgestellt, dagegen konnte die Forderung fester Tarife nicht preisgegeben werden, wenn man nicht zahllose Arbeiterinnen weiterhin der schlimmsten Ausbeutung durch Unternehmer und Zwischenmeister aussetzen wollte. Wenn man jetzt die geforderten Lohnsätze liest, so lassen sich die jammervollen Zustände, unter denen die Konfektionsarbeiter und -arbeiterinnen bis dahin gelebt haben, denken.

Gefordert sollte für die Anfertigung einer zweireihigen, gefütterten Joppe mit 4 Taschen 2,50 Mk. werden, für die eines gefütterten Lüsterjacketts 1,50 Mk. Die Arbeiterinnen wollen 3 Mk. für einen gefütterten Knabenanzug aus Plüsch oder Samt, 1 Mk. für einen Waschanzug, 1,25 Mk. für einen Trikotanzug oder weißen Waschanzug, 2,25 Mk. für einen Knabenpelerinenpaletot, 4 Mk. für einen Damenregenmantel mit abnehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Regenmantel, 2,50 Mk. für einen Damenmantel mit abnehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Regenmantel, 2,50 Mk. für einen wattierten Radmantel usw.

Unsere Genossinnen taten ihr möglichstes, um den kämpfenden Schwestern und Brüdern beizustehen. Wir sprachen in den Versammlungen, sammelten Gelder, halfen in den Streikbüros, standen Streikposten, kurzum: wir halfen unermüdlich bei allen Arbeiten. Das gesamte Volk war aufgerührt, der Kampf hatte die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gelenkt. In Breslau trat das Unternehmertum in Verhandlungen mit der Arbeiterschaft, und der Streik erreichte hier bald sein Ende. Die Unternehmer bewilligten namhafte Forderungen. Auch weite Kreise des Bürgertums erklärten ihre Sympathie mit den Kämpfenden, versprachen sowohl moralische wie materielle Unterstützung und leisteten auch manches. Noch im Februar fanden Verhandlungen statt, die in Breslau, Dresden, Erfurt und Berlin zu einer Einigung führten. Der Erfolg des Streikes war eine entschiedene Besserung der Lage, und er war um so bedeutungsvoller, weil er unter ungünstigsten Verhältnissen errungen war und weil er als ein Anfang den Kampfeswillen der Arbeiter stärkte. Über ein Jahr verging aber noch, ehe durch eine Verordnung des Bundesrates Schutzbestimmungen auch für die Konfektions- und Wäschearbeiter geschaffen wurden.[67]

Auf dem im Juli 1897 in Eisenach abgehaltenen Kongreß der deutschen Schneider und Schneiderinnen war es hauptsächlich das Elend in der Konfektionsindustrie, in dessen Zeichen die Verhandlungen standen. Die große Mehrzahl der Delegierten konstatierte den zwar geringen materiellen, aber doch sehr bedeutenden moralischen Erfolg des Streikes. Breite, bis dahin stumpfsinnig dahinlebende Proletarierkreise waren zum Klassenbewußtsein erwacht; es galt nun, in ausdauernder Arbeit diese Massen zu organisieren und zu schulen. Nur eine energische Fortführung des Kampfes konnte Linderung der elenden Lage schaffen.

Kurz vorher waren auch die Wäscherinnen in Isenburg in Hessen in den Streik getreten. Die Verhältnisse in diesen Betrieben waren so erbärmlich, daß man sich wundern muß, wie Menschen diese Quälerei ertragen haben. Der allgemeine Frauen- und Mädchenverein in diesem Orte, dem bei seiner Gründung Anfang 1897 gleich 69 Frauen beitraten, zählte zur Zeit des Streikes bereits 178 Mitglieder. Der Genossen Gustav Freitag, der ihn leitete, hat für die Aufklärung und Schulung der Arbeiterinnen für ihren Kampf sehr viel getan, und dieser Kampf war bitter notwendig, denn es kam dort vor, daß Arbeiterinnen bis 20 Stunden von morgens früh 7 Uhr bis zum anderen Morgen 3 Uhr arbeiten mußten. Sechzehn Stunden Arbeitszeit war gar nichts Seltenes. Die Entlohnung und die Kost, die sie erhielten, waren aber ganz ungenügend. Nun forderten die Streikenden einen Normalarbeitstag von 10 Stunden, und zwar an den Waschtagen von 7 Uhr morgens bis abends 7 Uhr und an den Bügeltagen von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Eine Verbesserung der Kost wurde gefordert. Die Behandlung soll eine menschenwürdigere sein. Der Lohn soll für erste Arbeiterinnen auf 15 Pfg., für mittelmäßige auf 14 Pfg. und für die jüngeren Arbeiterinnen auf 10 Pfg. die Stunde erhöht werden. Bereits nach der ersten Streikversammlung hatten 13 Wäschereien, darunter 5 große, diese Forderungen bewilligt. Nach siebenwöchiger Dauer wurde der Streik beigelegt und die Forderungen der Wäscherinnen im wesentlichen erfüllt. Die Arbeitszeit wurde geregelt, und zwar im Sommer auf 13, im Winter auf 12 Stunden, einschließlich der Pausen. Über Kost und Lohn wurden ebenfalls Zugeständnisse gemacht. Die Streikenden hatten sich musterhaft gehalten. Der Opfermut der Genossinnen, die die Hälfte der Unterstützungsgelder aufgebracht hatten (1300 Mark), hat wesentlich zum Sieg beigetragen. Die Isenburger[68] Wäscherinnen haben Nachahmung gefunden, ihr Erfolg hat ermutigend auf die Arbeiterinnen der Branche um ganz Frankfurt gewirkt. Es wurde Mitte der neunziger Jahre eine große Reihe von Erhebungen über die Lage der weiblichen Arbeiterinnen in den verschiedensten Industrien angestellt, deren Ergebnis dann für Artikel in der »Gleichheit« verarbeitet wurde. Es ist das große Verdienst Clara Zetkins, den Genossinnen immer wieder Anregungen gegeben und sie zu Mitarbeiterinnen herangezogen zu haben. Sie war auch hier, wie auf so manchem anderen Gebiet, unsere geistige Führerin.

Martha Rohrlack-Tietz hat sich damals in Wort und Schrift vor allem den Fabrikarbeiterinnen gewidmet. In den Fabriken mit stark weiblicher Arbeiterschaft gab es nur selten weibliche Aufsichtspersonen, meist führten Männer die Aufsicht. Häufig genug behandelten sie die Arbeiterinnen als ihnen auf Gnade oder Ungnade ergebene Geschöpfe. Es gab Betriebe, die geradezu als Harem der Aufsichtspersonen anzusehen waren. Für weibliche Aufsicht galt es also Propaganda zu machen, ebenso für die Anstellung weiblicher Gewerbeinspektoren. Und nachdrücklich wurde diese Forderung immer wieder hervorgehoben. Emma Ihrer hat sich ein unvergängliches Verdienst erworben durch ihre eifrige und wirksame Arbeit unter den im kaufmännischen Beruf stehenden Frauen. In der Hauptsache handelte es sich dabei zunächst um Verkäuferinnen, deren Lage ganz besonders schlecht war. Die erste Handlungsgehilfenversammlung, die im Februar 1893 in Berlin stattfand, war im ganzen von 500 Personen besucht, darunter 400 Handlungsgehilfinnen. Es wurde beschlossen, sich der allgemeinen Arbeiterinnenbewegung anzugliedern. Die Verhältnis se waren aber auch unerträgliche. Fast unbegrenzte Arbeitszeit und Mangel an sanitären Einrichtungen gingen mit niedrigen Löhnen Hand in Hand. Es fehlte an Sitzgelegenheiten für Verkäuferinnen, ja es bestand sogar vielfach das direkte Verbot des Sitzens. Es war kein Wunder, daß Krankheiten aller Art die Folge waren. Diesen so besonders Ausgebeuteten galt auch fernerhin die allgemeine Aufklärungsarbeit. Arbeiterinnen trugen die Einladungszettel für die Versammlungen in die Warenhäuser und steckten sie heimlich den Angestellten zu oder gaben sie ihnen beim Verlassen der Geschäftsräume. Auch dieses mußte sehr vorsichtig geschehen.

Im April 1896 tagte in Berlin der erste Kongreß aller auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Handlungsgehilfen und[69] -gehilfinnen Deutschlands. Ein Teil der 26 Delegierten war der Ansicht, daß die Handlungsgehilfenbewegung frei von Politik bleiben solle und abseits der Arbeiterbewegung zu stehen habe. Es wurde aber dann doch, entgegen dieser Ansicht, beschlossen, daß diese Bewegung sich der allgemeinen Arbeiterbewegung anzuschließen und sich als sozialdemokratische zu bekennen habe. Es wurden Forderungen auf Einführung des Achtstundentages, Schutzbestimmungen und Ausdehnung der Versicherungsgesetze und der Gewerbeordnung auf die Handlungsangestellten aufgestellt. In einer besonderen Resolution wurde gleicher Lohn bei gleichen Leistungen für Männer und Frauen gefordert. Im Mai desselben Jahres entschloß sich endlich der Bundesrat zur gesetzlichen Festlegung des zwölfstündigen Arbeitstages, allerdings mit vielen Ausnahmen. Es rief diese karge Verbesserung für die im Handelsgewerbe Beschäftigten seitens der Unternehmer einen Sturm der Entrüstung hervor, desgleichen auch gegen den beabsichtigten 8-Uhr-Ladenschluß.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 62-70.
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