Zehntes Kapitel

Um die Jahrhundertwende »Unser Alter«

[76] Wollten wir die Aufgaben, vor die uns der Parteitag in Hannover gestellt hatte, vor allem die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, wirksam ausführen, so mußten wir trotz der vereinsgesetzlichen Beschränkungen zu einem gut vorbereiteten, einheitlichen Handeln kommen, bei dem die vorhandenen geistigen und materiellen Kräfte mit möglichstem Nutzen verwendet werden konnten. Wir hatten bisher in den meisten Orten keine Organisation, die Trägerin dieser Agitation hätte sein können. Die Arbeiterinnenvereine, die in einigen Städten existierten, durften sich nirgends erkühnen, für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz zu agitieren, wollten sie nicht wegen Beschäftigung mit den verpönten »politischen Angelegenheiten« der Auflösung verfallen. Die Genossinnen waren also im allgemeinen auf die Tätigkeit ihrer Vertrauenspersonen angewiesen. Diese hatten sich die tatkräftige und fördernde Sympathie der politisch und gewerkschaftlich organisierten Genossen zu sichern. Wo die Wahl einer weiblichen Vertrauensperson bisher noch nicht möglich war, wurden die Genossen gebeten, die Agitation selbst in die Wege zu leiten. Eine große Anzahl von Versammlungen wurde in allen Teilen des Reiches abgehalten und der außerordentlich zahlreiche Besuch bewies, wie stark das Interesse für diese Forderungen in der Arbeiterschaft war. Die im Juni 1900 angenommene Novelle zur Gewerbeordnung brachte von allen Forderungen, die für einen verbesserten Arbeiterinnenschutz erhoben wurden, so gut wie nichts. Es mußte also weiter in dieser Richtung gearbeitet werden. Vor allem wurden die Erhebungen über die einzelnen Arbeitsarten fortgesetzt und dauernd in der »Gleichheit« veröffentlicht.

Für Preußen war nun endlich, nachdem andere Länder, auch deutsche Einzelstaaten, seit langem damit vorangegangen waren, die Anstellung[77] zweier Assistentinnen bei der Gewerbeinspektion beschlossen worden. Damit sich die Regierung aber noch ein Hintertürchen offen behielt, sollte diese Anstellung zunächst nur versuchsweise erfolgen. Die von den Berliner Genossinnen eingesetzte sogenannte Beschwerdekommission nahm das zum Anlaß, in einer Eingabe an die Regierung auf diesen Beschluß hinzuweisen und zu sagen:

»Da es für die Arbeiterinnen von größter Wichtigkeit ist, daß die Assistentin aus den Reihen der gewerblich Tätigen hervorgeht, und die Mitglieder der Beschwerdekommission über die Kenntnisse verfügen, welche für dieses Amt erforderlich sind, so ersuchen wir, bei der Besetzung des betreffenden Amtes eine Frau aus der Kommission zu wählen. Wir sind gern bereit, geeignete Vorschläge zu machen.«

Die echt »preußisch« ausgefallene Antwort erfolgte sehr bald, »daß die im Staatshaushaltsetat für 1900 vorgesehene Stellen für weibliche Hilfskräfte des Gewerbeaufsichtsdienstes bereits vergeben sind«.

Daß diese Beschwerdekommission den behördlichen Stellen keine sehr angenehme Einrichtung war, darauf wies Emma Ihrer in ihrem gleichzeitigen Jahresbericht hin. Sie sagte dort:

»Bekanntlich hat es die Fabrikinspektion abgelehnt, eine geregelte Verbindung mit den Vertrauenspersonen der Arbeiterinnen zu unterhalten und ihnen Auskunft darüber zu geben, ob die übermittelten Beschwerden als begründet befunden wurden und welche Folge ihnen seitens der zuständigen Behörden zum Zwecke der Abhilfe gegeben worden war.«

33 Fälle wurden in dem Jahre der Kommission gemeldet, geprüft und dem Gewerkschaftsbüro überwiesen.

Ich kann von diesem Jahr, das für die Arbeiterinnenbewegung und auch für mich selbst ein so bedeutendes war, nicht sprechen, ohne »unseres Alten«, Wilhelm Liebknechts, zu gedenken, dieses herrlichen, guten Menschen, den ein schneller Tod im August 1900 von uns nahm. Ihm und seiner Familie bin ich gerade in den letzten Monaten noch nahegetreten. Ich stand damals schon recht allein und habe häufig den Sonntag mit Liebknechts verbracht. Da wurde dann ein großer Pompadour mit Stullen gepackt und nach dem Grunewald gewandert. Liebknecht verstand ebenso herzlich gemütlich zu plaudern, wie anregend zu erzählen. Auch in Frauenveranstaltungen hat Liebknecht oft gesprochen. Wenn er es irgend machen konnte, ließ er uns sicher nicht[78] umsonst bitten. Zu seinem 70. Geburtstag hatten ihm die Berliner Genossen und Genossinnen eine schöne Feier bereitet.

Mir hat Liebknecht zuletzt noch eine besondere Freude gemacht. In Paris war in dem Sommer die große Weltausstellung und im September, nach unserem Parteitag, sollte dort ein internationaler Sozialisten- und Gewerkschaftskongreß stattfinden. Auf meinen Aufruf in der »Gleichheit« waren die Genossinnen Zetkin, Ihrer, Zietz und Luxemburg zur Teilnahme delegiert worden. Zur Weltausstellung hatte die Stadt Berlin auf ihre Kosten einige Handwerker und Arbeiter nach Paris entsandt, jedoch keine Sozialdemokraten. Wilhelm Liebknecht bekam nun von einem reichen Parteifreund Geld für drei Personen, ganz gleich ob Mann oder Frau, zum Besuch der Weltausstellung; er bedachte zu meiner großen Freude darunter auch mich. Als ich dann, wie verabredet, das Geld mir von Paul Singer abholen wollte, fand ich ihn ganz verstört. Auf meine Frage, was denn passiert sei, sagte er: »Unser Alter ist tot!« Ich ging gleich in die Wohnung und fand ihn noch wie lebend, nur ruhig eingeschlafen. Am Abend vorher war er sehr angeregt und lebhaft nach Hause gekommen, hatte seiner Frau von mancherlei Arbeitsplänen, von Aufträgen der Reichstagsfraktion, die ihm Freude machten und von denen er sich viel versprach, erzählt. Mit dieser Freude im Herzen ist er ganz kurze Zeit nachher gestorben. Einigen seiner Kinder fiel auf ihrer Ferientour plötzlich ein Zeitungsblatt in die Hände mit der Nachricht: Wilhelm Liebknecht ist gestorben! Da sie tags zuvor noch Nachricht von daheim hatten, wollten sie es nicht glauben.

Auch uns allen fiel es schwer, daran zu glauben. Mir war die Freude auf meine Reise nach Paris weg und ich wollte das Geld zurückweisen, aber Singer sagte: nun erst gerade müßte ich es nehmen; die Freude, die der Alte mir damit hätte machen wollen, dürfte ich ihm und mir nicht verderben. Und der Gedanke an »unseren Alten« hat mich denn auch auf meiner ganzen schönen Reise, später im Herbst, nicht verlassen.

Vorher aber galt es, alle Gedanken für die Vorbereitung zu unserer ersten sozialdemokratischen Frauentagung zusammenzuhalten.

Quelle:
Baader, Ottilie: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Auflage, Berlin, Bonn 1979, S. 76-79.
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