Der Verkehr zwischen Eltern und Kindern.

[11] Wir haben oben bereits gesagt, daß es niemand erlaubt sei, sich in seinen vier Wänden gehen zu lassen, wie es ihm beliebt, und daß es notwendig ist, auch im Familienkreise jene Gesetze zu beachten, die der sogenannte ›gute Ton‹ vorschreibt, und die in der Brust eines jeden feinfühligen Menschen verborgen sind.

Da sind zunächst die Eltern, die ihren Kindern als Vorbild gesitteter Menschen dienen müssen. Die Eltern dürfen sich unter keinen Umständen etwas zu schulden kommen lassen, was gegen den guten Ton verstößt. Ihnen liegt die Verpflichtung ob, darauf zu achten, daß im häuslichen Kreise stets eine den Gesetzen des Anstandes genügende Sprache geredet werde und daß bei aller Vertraulichkeit nie jene Höflichkeit verloren gehe, welche die Hauptbedingung eines angenehmen Zusammenlebens ist.

Auch zwischen den Geschwistern muß die Vertraulichkeit ihre Grenzen haben. In der Geschwisterliebe wurzelt die Liebe zu unseren anderen Mitmenschen, und wer gegen seine Geschwister unhöflich oder ungezogen ist, wird sich auch leichter zu verletzenden Verstößen gegen Fremde hinreißen lassen.[11]

Den Eltern Vorschriften zu machen, wie sie mit ihren Kindern zu verkehren haben, ist nicht der Zweck dieses Buches. So viel aber sei gesagt, daß bei aller Liebe und Zärtlichkeit die Eltern ihren Kindern in besonderen Lagen doch auch eine ruhige, besonnene Festigkeit zu zeigen haben, als deren Folge dann jener kindliche und ehrerbietige Gehorsam der Kinder entsteht, der ihr schönster Schmuck ist. Gehorsame, wohlerzogene, artige, freundliche Kinder hat jedermann gern.

Damit sei aber nicht gesagt, daß der Ton der Kinder gegen ihre Eltern anders als achtungsvoll und ehrerbietig sei, was weit entfernt ist von sklavischer Unterwürfigkeit und steter Furcht. Glaubt sich ein Kind zu Gegenvorstellungen berechtigt, so gestatte man diese, sofern sie in bescheidenen Ausdrücken erfolgen, und gebe dann die Antwort in ruhigfreundlicher, dabei erzieherischer, den kindlichen Geist anregender Weise.

Es wäre töricht, von dem Kinde zu verlangen, daß es bei jedem Stückchen Brot mit überschwenglichen Redensarten danke; aber doch darf die übliche Höflichkeitsformel nicht außer acht gelassen werden. Ein einfaches: »Ich danke, lieber Papa!« genügt und erfreut das Elternherz. Es ist gut, diese Höflichkeit den Kindern auch beim Verkehr mit dem Dienstpersonal einzuprägen; das einfache Wörtchen: »Ich danke!« macht die Dienerschaft für die nächste Hilfsleistung williger und freudiger.

Knaben müssen bei Zeiten an die Rücksichten gewöhnt werden, die das weibliche Geschlecht zu fordern hat. Da ist zunächst darauf zu achten, daß der Mutter stets mit zarter Rücksicht begegnet werde, und auch den Schwestern gegenüber hat der Bruder sich stets eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf den mündlichen Verkehr aufzuerlegen. Wo die Verhältnisse es gestatten, mögen die Schlafräume der Knaben von denen der Mädchen schon in der Jugend getrennt werden.

Vollkommen falsch ist es jedoch, die Kinder aus übertriebener Zärtlichkeit als die Hauptpersonen im Hause zu behandeln. Es kommt vor, daß sich die ganze Lebensweise der Eltern nach ihnen richtet: da wird den Kindern bei den Mahlzeiten zuerst vorgelegt, und alle Unarten, die sie begehen,[12] werden liebevoll als ›den Kindern eigentümlich‹ entschuldigt. Die Folge davon ist, daß die Kinder mit der ihrem Alter eigenen Selbstliebe sich wirklich für die wichtigsten Personen im Hause halten, daß sie alles, was die Eltern ihnen aus Liebe erweisen, als selbstverständlich betrachten, und daß sie bald auch außerhalb des elterlichen Hauses die gleichen Rücksichten beanspruchen, ja daß sie sogar auf ihre Eltern mit einer gewissen Geringschätzung herabsehen, weil sie sich ihnen überlegen dünken. Diese allzugroße Milde und Nachsicht der Eltern ist ebenso verwerflich, wie allzugroße Strenge, und beide wirken höchst nachteilig auf die Entwicklung des kindlichen Gemütes. Aber auch die Eltern dürfen sich in ihren Launen Kindern gegenüber nicht gehen lassen, und es ist immer gut, wenn sich die Eltern soweit beherrschen lernen, daß sie auch bei Verdrießlichkeiten, die im Leben ja nie ausbleiben, ihren Kindern stets gleichmäßige Milde und freundliche Festigkeit zeigen.

Ein arger Verstoß gegen den guten Ton in der Erziehung ist es, wenn Kinder vor Fremden zum Mittelpunkt gemacht werden. Man vergesse nie, daß die Kinder es nie merken dürfen, daß Erwachsene auf sie eitel sind!

Sobald die Kinder anfangen, die Schule zu besuchen, achte man mit verdoppelter Sorgfalt darauf, daß sie von dort nicht üble Angewohnheiten mit nach Hause bringen. In der Schule, wo ja alle Elemente zusammengewürfelt sind, lernen die Kinder zuweilen nicht nur das ihnen Notwendige, sondern im Umgange mit weniger gut erzogenen Kindern eignen sie sich, da der Trieb zum Unrechten ja nun einmal jedem Menschen angeboren ist, auch leicht Untugenden an, die die ganze häusliche Erziehung gefährden können. Einige Einzelheiten: das Kind lerne vom frühesten Alter an, höflich und artig zu grüßen und guten Tag zu sagen. Sobald sie schulpflichtig sind, haben die Knaben eine leichte Verbeugung, die Mädchen einen Knicks zu machen. Instinktiv dürfen Kinder etwa vom zehnten Jahre an nie mehr der Mutter oder einer Dame voran durch die Tür gehen. Dann verlangt man von Kindern im Alter von sieben Jahren, daß sie anständig essen. Mit den Dienstboten haben Kinder nie anders als höflich zu verkehren.[13]

Ferner haben die Kinder zu vermeloen: Schaukeln mit dem Stuhl, Übereinanderschlagen der Beine, Hin-und Herreiben mit den Füßen, Anlehnen an Möbel und Wände oder Auflegen der Ellenbogen und Stützen des Kopfes, ungeniertes Gähnen, Räuspern und Husten. Das alles sind Untugenden, die ein junger Mann oder ein junges Mädchen erst nach vielen Demütigungen in der Gesellschaft abzulegen lernt, wenn in der Jugend seitens der Eltern nicht darauf geachtet wurde, daß sie überhaupt nicht Platz greifen konnten.

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 11-14.
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