Auftreten, Haltung, Benehmen.

[56] Um mit dem schönen Geschlecht zu beginnen, sei also bemerkt, daß junge Damen beim Sitzen eine freie, ungezwungene Haltung des Körpers beobachten und sich nicht an die Lehne des Stuhles usw. zurücklegen sollen. Diese Bequemlichkeit ist allenfalls Damen von vorgerücktem Alter gestattet, die einer Stütze des Körpers bedürfen. Ebensowenig ist es schön, wenn junge Damen durch Vorbeugen des Körpers den Stuhl in eine wiegende Bewegung bringen; ganz verpönt aber ist bei ihnen die leider vielfache Angewohnheit, die Beine übereinander zu schlagen. So etwas sollte bei jungen Damen nie vorkommen, schon deshalb nicht, weil dadurch, gänzlich ohne Wissen der Dame, Stellungen herbeigeführt werden können, die sich mit der Wohlanständigkeit nicht vereinigen lassen. Selbst im Kreise vertrautester Freundinnen soll ein junges Mädchen stets auf gute Körperhaltung bedacht sein. –

Aber auch junge Männer haben auf sich zu achten, daß sie nicht Anstoß erregen. Auch sie haben das Anlehnen zu vermeiden und dürfen ferner nicht während der Unterhaltung die Hände in die Taschen ihrer Beinkleider stecken, oder sich mit den Ellenbogen auf den Tisch legen, mit den Beinen schütteln oder mit den Füßen den Fußboden scharren. In Gegenwart von Damen sich rittlings auf den Stuhl zu setzen, ist höchst unpassend. Zu vermeiden sind ferner alle unnützen, Lärm verursachenden Bewegungen, z.B. Trommeln mit den Fingern an die Fensterscheiben oder auf die Tischplatte und unzeitiges Singen und Pfeifen. Das Putzen der Fingernägel in Gegenwart anderer zeugt von[56] Hat man jemandem aus der Gesellschaft etwas mitzuteilen, so rufe man ihn still bei Seite und ziehe sich mit ihm für einige Augenblicke in eine Ecke oder Fensternische zurück, um dort das nötige leise zu besprechen. Zu beachten ist hierbei nur, daß man seine Blicke während des Gesprächs nicht über die Gesellschaft schweifen läßt, sondern ernst vor sich hinblickt, weil sonst der Verdacht erregt werden kännte, es sei jemand aus der Gesellschaft Gegenstand der Unterhaltung.

Die Zigarre während des Sprechens im Munde zu behalten, ist unschicklich.

Beim Eintritt in ein Zimmer mache man der Gesellschaft eine leichte, ungezwungene Verbeugung, ebenso bei der Entfernung; freilich ist dies Sache der Übung und Geschicklichkeit, die erlernt werden muß.

Alle diese vorstehend genannten Fehler sind ja im großen und ganzen nur Kleinigkeiten und bei einer von Hause aus richtigen Erziehung sollten sie in Gesellschaften ja eigentlich gar nicht vorkommen. Trotz dem werden solche Fehler aber vielfach begangen; jungen Männern ist deshalb nichts mehr zu empfehlen, als darauf zu achten, wie die Damen sich betragen. Diese haben in solchen Dingen, wie in vielen anderen, ein viel feineres Gefühl, und der angeborene Takt verleiht ihnen die Sicherheit eines durchweg anständigen Benehmens.

Sagt doch Knigge in seinem ›Umgang mit Menschen‹ sehr richtig: »Nichts ist so geeignet, der Bildung des Jünglings die Vollendung zu geben, als der Umgang mit tugendhaften und gesitteten Frauen!«

Eine gute Haltung ist stets mit einem anständigen Benehmen verbunden. Jedem Jüngling sei daher empfohlen, genau auf sich zu achten, daß er keine Verstöße begehe. Um nur ein Beispiel aus dem Leben anzuführen: Nicht ohne Ursache stellen die Geschäftsleute als Reisende mit Vorliebe solche Leute an, deren Auftreten ihnen das Vertrauen gewährt, daß sie auch bei den Kunden einen guten Eindruck hervorrufen und auf diese Weise das Geschäft erleichtern![57]

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 56-58.
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