Gesellschaftsspiele als Festunterhaltung.

[101] Werden bei Festlichkeiten Gesellschaftsspiele in Vorschlag gebracht und aufgeführt, so wird man gut tun, sich nicht auszuschließen, auch wenn man sich aus dergleichen Vergnügen nichts machen sollte. Am allerwenigsten aber darf man dem, der ein Spiel vorschlug, Vorwürfe über die von ihm getroffene Wahl machen, denn es gibt eben nur wenige Gesellschaftsspiele, die alle Teilnehmer zugleich zu befriedigen vermögen. Der eine liebt die geistige Anstrengung nicht, die oft bei Gesellschaftsspielen unerläßlich ist, der andere findet Pfänderspiele abscheulich usw.

Man ertrage also das Unangenehme mit Geduld und bedenke immer, daß auch Gesellschaftsspiele ein Ende nehmen.

Beim Auslösen der Pfänder zumal ist es geboten, Vorsicht zu üben, damit nicht das Zartgefühl der anwesenden Damen verletzt werde; man vermeide deshalb, Küsse als den Preis anzusetzen, sofern man sich nicht im engsten Familienkreise befindet.

Eines in Gesellschaften vielfach verbreiteten Spieles, das man aber ebensogut als eine Wette bezeichnen kann,[101] sei hier noch gedacht, das unter dem Namen ›Vielliebchen‹ allgemein bekannt ist. Vielliebchen ißt man heutzutage bei jeder Gelegenheit, indem man mit seiner Dame den Doppelkern einer Mandel teilt und sie dadurch zum ›Vielliebchen‹ macht. Wer von beiden nun den anderen bei der nächsten Begegnung mit Vielliebchen anredet, hat das Recht, ein Geschenk zu erwarten.

Eine Abweichung dieses Brauches ist das ›J'y pense!‹ (Ich denke daran!) – ein Ausruf, der jedesmal erfolgen muß, wenn der eine dem anderen irgend einen Gegenstand reicht. Wer diesen Ausruf unterläßt, hat verloren und muß seine Schuld durch ein Geschenk abtragen.

Junge Damen dürfen Herren niemals Vielliebchen antragen, es sei denn ein naher Verwandter; wird aber einer Dame ein Vielliebchen angeboten, so kann sie es nicht gut ausschlagen. Ist der Herr der Verlierende, so bietet er als Geschenk einen Blumenstrauß, ein Buch oder irgend einen Kunstgegenstand; Schmucksachen darf nur der Bräutigam seiner Braut oder ein älterer Herr seiner Anverwandten geben.

Verliert dagegen das junge Mädchen, so gebe sie nur eine Kleinigkeit, eine Zigarrentasche oder dergleichen.

Selbstgefertigte Handarbeiten sind nur gegen den Verlobten oder gegen Verwandte oder alte Freunde des Hauses zulässig. Der galante Herr wird, wenn er der Gewinnende ist, bestrebt sein, der Dame ihren Verlust so wenig fühlbar als möglich zu machen, des halb aber müssen Damen stets vorsichtig im Anbieten eines ›Vielliebchens‹ sein, das heißt, dazu lieber sich auffordern lassen. Selbst Herren dürfen mit derartigen Bitten nicht allzuoft kommen; jedenfalls gehört dazu eine bereits längere Bekanntschaft. Es gibt Damen, die derartige Bitten grundsätzlich abschlagen; es sei aber bemerkt, daß sie dann niemals, auch mit anderen Herren nicht, Vielliebchen essen dürfen, falls sie sich nicht ernsten Unannehmlichkeiten aussetzen wollen!

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 101-102.
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