Das Betragen in der Kirche.

[111] Da werden gewiß viele fragen: ist denn sogar in der Kirche eine Verletzung der guten Lebensart möglich? Und wir antworten darauf kurz und bestimmt: Sicherlich! Denn wenn schon die Kirche Gottes Haus ist, das wir nur in der Absicht betreten sollen, Gott zu dienen, und vor dessen Tür wir alle Gedanken an Mensch und Welt zurückzulassen haben, so treffen wir dennoch unter den Besuchern der Kirche oft auch Menschen, die nicht aus Herzensbedürfnis gekommen sind, sondern aus Neugier. Solche Menschen besuchen die Kirche, lediglich um zu sehen oder um gesehen zu werden. Nicht die Befriedigung ihrer Andacht ist ihnen die Hauptsache; anerzogene Gewohnheit veranlaßt sie zu dem Gange in das Gotteshaus, und die liebe Eitelkeit beherrscht während des Aufenthaltes ihre Herzen, die die wahre Frömmigkeit nicht kennen. Das ist eine Tatsache, traurig, aber wahr. Indessen ist es nicht unsere Sache, über die notwendigen Mittel und Wege, solchen Irrungen ein Ziel zu setzen, hier zu sprechen; indem wir erwähnten, was unbestreitbar ist,[111] wollen wir nur sagen, was beim Kirchenbesuch zu vermeiden ist, soll nicht Anstoß erregt werden. –

Damen haben eine Kleidung zu wählen, die nicht auffällt! Geht man zur Beichte oder zum heiligen Abendmahl, so lege man ein dunkles, möglichst schwarzes Kleid an und begebe sich still und gemessenen Schrittes an seinen Platz. Ein auffallender Anzug läßt immer auf ein leichtfertiges Gemüt und auf hoffärtige Eitelkeit schließen, abgesehen davon, daß sich die Trägerin in den Augen der anderen herabsetzt und lächerlich macht.

Durchaus ungebührlich ist es, in die Kirche zu spät zu kommen, weil dadurch andere in ihrer Andacht gestört werden. Wenn es aber vorkommt, daß man sich versäumte, so ist, während man sich auf seinen Platz begibt, wenigstens jedes störende Geräusch zu vermeiden; man dränge sich nicht vor und bedenke, daß man selbst die Folgen seines Zuspätkommens zu tragen haben soll!

Während des Gottesdienstes hat man ebenfalls jedes auffallende Benehmen zu vermeiden. Man soll also nicht die anderen Kirchenbesucher mit musternden Blicken verfolgen, sondern andachtsvoll in sein Gesang- oder Gebetbuch blicken, oder aufmerksam den Worten des Predigers lauschen und im übrigen ein durchweg ernstes Benehmen zur Schau tragen.

Es gibt Leute, die während des Gottesdienstes einschlafen; daß so etwas durchaus unschicklich ist, braucht wohl nicht erst besonders gesagt zu werden. Außerdem machen sich solche Leute recht lächerlich. Wer also infolge körperlicher Überanstrengung oder großer Sommerhitze von Müdigkeit befallen wird, hat tapfer dagegen anzukämpfen und darf sich keinesfalls von ihr überwältigen lassen! –

Trifft man in der Kirche Bekannte, so grüße man sie nur durch ein leichtes Kopfnicken, und wünscht man sie nach dem Gottesdienst zu sprechen, so erwarte man sie am Ausgange der Kirche. Beim Verlassen des Gotteshauses hüte man sich jedoch, durch Schieben oder Drängen die vor uns Gehenden zur Eile anzutreiben.

Werden an der Kirchentür Almosen eingesammelt, so soll man sich davon nicht ausschließen; jedes Scherflein[112] ist Gott wohlgefällig und viele Pfennige machen eine große Summe aus. »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb,« deshalb kommt es nicht auf die Größe der Gabe an, sondern darauf, in welchem Sinne sie dargebracht wird. Hat man aber Ursache, eine reichliche Gabe zu spenden, so tue man dies in einer Weise, daß es die anderen nicht merken.

Begegnen wir einem Geistlichen auf der Straße, so ist es unsere Pflicht, zuerst zu grüßen, er sei jung oder alt. Die Person ist hierbei Nebensache; das Kleid und das Amt des Geistlichen erfordern diese Rücksicht.

Sind wir in der Lage, ein Gotteshaus zu besuchen, das einer anderen Religion als der unsrigen, oder einem anderen Bekenntnisse dient, so vermeide man, seiner Verwunderung über das, was wir von unseren eigenen gewohnten Gebräuchen abweichend finden, Ausdruck zu geben, wollen wir nicht die anderen in ihren heiligsten Gefühlen verletzen und deren Entrüstung hervorrufen. Am allerwenigsten darf man aber gar spottend über die Eigentümlichkeiten Andersgläubiger urteilen; das würde eine Roheit des Herzens bekunden, die Verachtung verdient. Gut ist es deshalb stets, sich vor dem Betreten eines Gotteshauses Andersgläubiger über deren kirchlichen Gebräuche zu unterrichten und seinen Platz so zu wählen, daß man durch Nichtbeachtung dort üblicher Bewegungen (Niederknien, Bekreuzigen usw.) kein Ärgernis erregt und die Andächtigen stört. –

Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 111-113.
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