7. Eine Reise in die sächsische Schweiz.

[69] Ausnahmsweise waren die Eltern einen Winter zu Hause. Da ich nichts von Reisevorbereitungen hörte, meinte ich, sie würden in diesem Jahr überhaupt nicht reisen. So kam Weihnachten heran. Auf meinem Teller, zwischen Äpfeln und Nüssen, lag ein Zettel, darauf stand in der zierlichen Handschrift des Vaters: »Eine Reise in die sächsische Schweiz!« Wie denn? Ich sollte in die sächsische Schweiz?! Auf meine aufgeregten Fragen antwortete der Vater, bald nach dem Fest, noch vor Neujahr, dürfe ich mit der Mutter reisen.

Ich hatte es mit meinen Reisevorbereitungen nicht minder wichtig wie die Eltern. Alle Freundinnen wurden sofort davon in Kenntnis gesetzt. Ich ging zum Schulzen-Karl, er sollte, während wir weg waren, dem Vater den Hausstand führen. Schulzen-Karl, war ein armer, verwachsener Bursche von etwa 16 Jahren, den eine rührende Begeisterung für den Vater und dessen Tun zu uns getrieben hatte. Er half uns im Sommer, begleitete vorwiegend gern den Vater auf seinen botanischen Ausflügen, und half uns auch sonst, wo und wie er konnte.[69]

Schulzen-Karl kam und wurde von der Mutter über seine Pflichten belehrt. Dann ging's ans Packen. Hoch aufgetürmt wurden die Pflanzenpakete im Tragkorb der Mutter.

Eine unserer größten Botanisierkapseln wurde für mich gepackt. Der Riemen wurde kurz geschnallt, eine Scheidewand aus Pappe teilte die Kapsel in Speisekammer und Toiletteraum. In die eine Abteilung kam ein mäßiggroßes Brot, ein Töpfchen mit Schmalz, Salz und Messer. In den übrigen Raum kamen Strümpfe zum Wechseln und allerlei, was sonst der anspruchslose Mensch braucht. Wenn ich in meiner Freude übermütig wurde, dann machte die Mutter ein bedenkliches Gesicht und meinte: »Hoffentlich wird es nicht zu anstrengend für dich!«

Anstrengend?! Wie konnte eine Reise mit der Mutter wohl anstrengend werden! Diese Aussicht, sie für so lange Zeit ganz für mich allein zu haben, bedeutete unverkürztes Glück!

Es war noch stockdunkel, als wir aufbrachen. Die Mutter hatte mir ein großes, wollenes Tuch umgebunden, das Kopf und Oberkörper ganz bedeckte. Die dicken, groben Fausthandschuhe hatte sie an ein langes Band genäht: »Damit du sie nicht verlierst!« sagte sie, während sie sie mir umhing. Dann nahm jede ihre Bürde, und mutig traten wir unsere Wanderung durch den Schnee an.

Wir schlugen die Richtung nach Tharandt ein. »Ist der Weg lang?« »Na, – so ein fünf bis sechs Stunden werden wir immerhin brauchen,« meinte die Mutter. Wunderbar erschien mir das Marschieren im Dunkeln, – aber hier war noch der Weg bekannt, die Kräfte frisch, alle Sinne gespannt und aufnahmebedürftig. Wie interessant war uns jedes kleine Ereignis, das die Einförmigkeit[70] unterbrach! Als wir durch das nächste Dorf kamen, spähten wir, ob die Leute schon Licht hatten, ob der Rauch schon aus den Schornsteinen stieg. Wir horchten, wenn ein schwerer Schritt über den gepflasterten Hof ging, wenn die Pumpe gerührt wurde, oder wenn ein Hund bellte. Und nun hörten wir gar, wie schwerfällig ein Gefährt hinter uns her kam. Es war ein leerer Möbelwagen. Der Fuhrmann fing ein Gespräch an und lud uns schließlich ein, in seinem Gefährt Platz zu nehmen: »Platz genug!« sagte er lachend. Für uns lehnte die Mutter die Fahrt ab, aber wenn er den Korb mitnehmen wollte? Freilich, das wollte er. Im weißen Hirsch absetzen? Gut! »Das lasse ich mir gefallen!« sagte die Mutter lachend zu mir: »Gib her,« damit hing sie sich die Kapsel über die Schulter. »Sieh einer an, wie wir den Kopf jetzt aufrecht tragen können, als wären wir wunder was! So ist das Wandern eine Lust, nicht, Täschen?«

Schwach rötete sich im Osten der Himmel, die Sonne brach sich Bahn, zuerst blutrot, dann erbleichte sie, aber sie war doch da und lockte die Vögel herbei, wenn es auch nur Saatkrähen und Spatzen waren, die uns in ihrer Mundart den Morgengruß boten. Die Mutter stellte sofort einen Vergleich an, machte mich auf ihren Flug, ihre Gangart und ihre Stimme aufmerksam und erzählte mir von ihrer Lebensweise. Ihrem scharfen Auge entging nichts, und der geringfügigsten Erscheinung verlieh sie Inhalt und Bedeutung. »Hast du wohl schon beachtet, wie verschieden sich die Baumstämme uns darstellen?« fragte sie.

»Es gibt so glatte Stämme, wie etwa die Buche, sie sehen aus wie mit grauem Metall überzogen, auch der weiße Stamm der Birke ist glatt. Alle die kleinen bescheidenen Pflänzchen bleiben solchen glatten Herren fern,[71] aber nun sieh dir mal hier die rauhe, durchfurchte Rinde an, und staune, was alles Platz und Herberge bei ihr findet. Sieh, gelbe und graue Flechten und verschiedenes grünes Moos, und wenn du es untersuchst, siehst du, daß es sich vollständig entwickelt, jedes trägt Frucht. Der Baum gedeiht trotz alledem. Ist er uns nicht das Bild eines gütigen begüterten Menschen, der den verschiedensten Bedürftigen Schutz, Obdach und Gaben gewährt, ohne selbst darunter Mangel zu leiden! Wir betrachteten genau die Moose und Flechten, die Mutter nannte mir ihre Namen. Dann richtete sie ihren Blick in die Höhe und rief entrüstet: »Ach so! – Du bist auch da? – Warte nur! – Brauchen kann ich dich. Wenn wir erst wieder zurück sind, bist du vor mir nicht sicher, – dann hol' ich dich! –« Ich schaute jetzt auch zu dem Baume empor und sah ein grünes, gabelförmiges Gerank da oben.

»Die da,« fuhr die Mutter fort, »ist ein schlechtes, heimtückisches Geschöpf, und frech, – so frech –! Sie setzt sich gleich in des Baumes Krone. Hier breitet sie sich aus, saugt ihrem armen Wirte Saft und Mark aus, er kann sich ihrer nicht erwehren, er geht durch diese schlechte Person elend zugrunde. Sieh' sie dir genau an! Siehst du ihre durchsichtigen Beeren? Ist uns dies nicht auch ein Bild des Lebens? Das ist die Mistel, merk' sie dir! Im Auslande, drüben in England, da genießt sie die Ehre und wird zum Weihnachtsschmuck herangezogen. Verdient hat sie's nicht. Aber so geht's oft im Menschenleben auch. Wenn du älter bist, wirst du das besser verstehen.«

Die ganze stumme Pflanzenwelt wurde durch den Umgang mit der Mutter für mich stimmbegabt. Das alles wurden für mich Wesen, mit Charaktereigenschaften ausgerüstet, die einander bekämpften oder nützten.[72]

»Daß du das alles so genau weißt!« sagte ich staunend. Wußte ich doch, daß die Mutter aus dem kleinen Häuschen in der Niederstadt stammte, wo der Großvater Beutler gewesen war, und hatte mir die Mutter doch gelegentlich selbst erzählt, daß sie in der Schule nur notdürftig lesen und schreiben gelernt hatte.

»Das habe ich alles dem Vater zu verdanken,« sagte sie jetzt auf meine Bemerkung.

Freilich, der Vater! Er war so ganz anders wie alle anderen Leute. Er mied die Menschen. Wenn ihn sein Weg an die andere Seite des Städtchens führte, so machte er einen weiten Bogen, um die Häuser zu vermeiden. Er nahm an keiner allgemeinen Freude teil. Die Zeit war ihm immer zu knapp, er saß bis spät in die Nacht und schrieb, und tagsüber arbeitete er rastlos an seinen Sammlungen, und er verlangte von jedem, der um ihn war, dieselbe Arbeitsfähigkeit. Dem Sohne des Apothekers gab er lateinische Stunden, und wenn Leute kamen, die die Sammlungen sehen wollten, dann wurde er beredt und sprach mit Begeisterung von allem, was er zeigte. Besuch, wie andere Leute ihn bekamen, hatten wir nie, auch zu meiner Mutter kamen keine Bekannten, um etwa Persönliches zu erörtern oder Stadtgespräche zu führen. Das gab's bei uns nicht. Alles drehte sich um das eine Interesse und um Reisen. Kinder, die mich besuchen wollten, hatten nur unter der Bedingung Zutritt, daß sie beim Pflanzen-Ein- und -Umlegen helfen wollten. Diese Hilfe aber war im Sommer, wenn die Eltern gerade vom Sammeln heimgekommen waren, oft sehr erwünscht. Das war die Zeit, wo ich meine Gunst walten und Einladungen ergehen ließ. Merkwürdig, – die Kinder drängten sich zu diesen Einladungen, trotzdem ihnen keine Spur von Vergnügen geboten wurde, nicht einmal plaudern durften sie! Der[73] Vater war für alle, die um ihn waren, solche Respektsperson, daß jeder ganz gehorsam und selbstverständlich das tat, was er verlangte. Er teilte dann jedem seine Arbeit zu, gab Papier, Pflanzen und die nötige Anleitung. Wenn alle schweigend in ihre Arbeit vertieft waren, dann fing er an, zu erzählen, – wunderschön, – Märchen aus dem Naturleben. Die Pflanzen und die Insekten waren die Helden. Wir Kinder saßen und lauschten, während unsere Hände emsig die Blättchen nach Vorschrift ausbreiteten. Die Bewirtung bestand in einer Sirups- oder Fettbemme. Die Freundinnen zeigten eine rührende Geduld und Ausdauer dabei, und hätten gern auch nach der Zeit den Verkehr fortgesetzt, sie brachten dann wohl zu dieser Einführung einen Nachtfalter, eine Raupe oder dergleichen. Dafür bekamen sie eine Kleinigkeit und – waren entlassen. War es das Erzählen, was die Kinder anlockte? Oder war es doch ein gewisser Zauber, den des Vaters eigentümliches Wesen auf andere ausübte, daß man es als eine Gunst ansah, wenn man für nichts und wieder nichts stundenlang helfen durfte? –

Nach leichtem, mühelosem Wandern erreichten wir Tharandt. Wir gingen noch, nachdem wir gegessen und geruht, zu Professor Willkomm, wo wir herzliche Aufnahme fanden. Die andere Professorenfamilie wurde dazu geladen. Die Mutter zeigte, was sie mit hatte, aber auch wir bekamen allerhand Interessantes zu sehen. Die Mutter zog mich mit heran, ich durfte auch durchs Mikroskop sehen, und sie flüsterte mir zu, ich möge ja aufmerken, wenn die Herren sprächen, ich könne viel daran lernen. Am nächsten Tag sahen die jungen Herren von der Forstakademie die Sammlungen und kauften oder machten Bestellungen.

Als die Mutter hier fertig war, wanderten wir nach[74] Dresden. Hier wurden zunächst alle Apotheken aufgesucht. Meist lief ich mit und half beim Tragen der Pakete. War ich aber müde vom vielen Herumlaufen, so ging ich in die Salomonisapotheke, wo ich freundliche Aufnahme und schöne Bilderbücher fand. Als die Mutter mit dem Geschäftlichen fertig war, nahm sie mich mit in die Bildergalerie. Hier setzte sie sich still mit mir vor die sixtinische Madonna und ließ mich lange in die himmlisch überirdischen Augen des Heilandkindes und seiner Mutter schauen.

Dann ging's eines Morgens wieder vorwärts. Unser nächstes Ziel war Stolpen. Auf meine Frage nach der Länge des Wegs meinte die Mutter, es könne wohl wieder fünf Stunden dauern. Als wir Dresden im Rücken hatten, merkten wir erst, wie kalt und eisig der Ostwind über die frei gelegene Chaussee fegte. Er schnitt uns scharf ins Gesicht und trieb uns seine Eissplitter von den Bäumen entgegen. Dicht zog ich das Tuch übers Gesicht und verschränkte die Arme, um die Wärme festzuhalten. Da stellte sich die Mutter in den Schutz einer Scheunenmauer und wartete mein Kommen ab, dann zog sie ihr Beutelchen, löste das Band und sagte: »Kind, das ist ein böses Wetter heute! In der Stadt hat man's nicht so gemerkt. Weißt du, es ist wohl am besten, du gehst nach Hause! Ich geb' dir ein paar Groschen, damit du dir unterwegs mal was Warmes kaufen kannst. Den Weg wirst du schon finden. Du fragst in der Stadt, wo es nach Wilsdruff geht. Hast du nur erst die Chaussee, dann gehst du immer geradeaus. Ich denke, in etwa sieben Stunden kannst du zu Hause sein. Du gehst nach einer anderen Richtung, da bläst der Wind wohl nicht so scharf. Es kann ja noch schlimm werden, da ist's besser, du gehst heim.«

Davon wollte ich aber durchaus nichts wissen. Ich[75] schob die Hand mit dem Gelde zurück und bat, wir möchten nur weiter gehen. »Nun gut!« sagte die Mutter und setzte ihr energisches Gesicht auf, »daß du nun aber nicht hinterher hängst oder mir etwas vorklagst. Du hast mit dir selbst fertig zu werden. Ich hab' den schweren Korb und kann mich nicht mit Trösten abgeben! Komm!«

Ich nahm einen guten Anlauf, aber es dauerte nicht lange, so entstand zwischen der Mutter und mir ein Zwischenraum, und der wurde zu meinem Schrecken immer größer und größer! Das kam wohl vom Rückwärtslaufen, ich wollte mich vorm Wind schützen, kam aber dann nicht so schnell vorwärts. Da kam mir ein Einspänner nachgefahren. Der Mann hielt dicht bei mir und fragte, wohin ich wolle.

»Komm, steig auf!« sagte er, »dahin will ich auch.« Ich kletterte hinauf und fuhr vornehm an meine Mutter heran.

»Ich kann nur die Kleine mitnehmen,« sagte der Mann, »wo soll ich sie denn absetzen?« »In Fischbach. Du gehst so lange in den Gasthof und wartest auf mich. Vergiß nicht, dem Manne zu danken!« Sie nickte lachend, ich winkte fröhlich, und vorwärts ging's. Der Wind ließ keine zusammenhängende Unterhaltung zustande kommen, aber ich war dem fremden Manne dankbar, als er fürsorglich eine Pferdedecke über meine Knie breitete.

Nach Verabredung holte mich die Mutter ab, und wir wanderten nach Stolpen. Am Marktplatz war der einfache Gasthof. Die Mutter ging ohne mich in die Apotheke. Ich saß auf dem Fensterbrett, drückte das Gesicht gegen die Scheiben und schaute träumerisch unverwandt auf den kleinen, eingeschlossenen, steil ansteigenden Marktplatz, auf dem ich niemanden sah. Weiche, große Flocken senkten sich mit der Dämmerung auf den[76] stillen Platz, ich spähte vergebens nach Menschen und war froh, als ich die Mutter endlich kommen sah.

Am nächsten Morgen gingen wir nach Hohnstein. Das Wetter war nicht mehr so bös, Sturm und Kälte belästigte uns nicht, da hatte ich wieder viel von der Mutter. Draußen vorm Städtchen zeigte sie auf Schloß Stolpen. Sie machte mich auf die wunderbar schönen Basaltsäulen aufmerksam, auf denen sich das Schloß erhebt, und beim Weiterschreiten erzählte sie mir die ganze Geschichte des Schlosses.

So war es bis Hohnstein ein fröhliches Wandern. Auch hier gingen wir in die Apotheke. Der Apotheker geleitete uns vor die Tür und zeigte uns die Richtung nach Königstein. »Aber,« sagte er draußen, »ich würde mit dem Kinde lieber hier bleiben bis morgen. Die Tage sind kurz, ich fürchte, Sie kommen nicht weit.« Wir wanderten aber nach der kurzen Ruhe mutig zum Städtchen hinaus, machten eine mäßige Steigung und erreichten endlich eine Ebene, deren Begrenzung wir bei der herannahenden Dämmerung nicht mehr erspähen konnten. Auf dieser einsamen, verschneiten Flur konnten wir auch kein Haus entdecken. So war es uns zur Linken. Aber rechts von uns? Was war das? Ein Grauen packte mich, so daß ich mich furchtsam an die Mutter schmiegte, denn groß, finster und drohend erhob sich eine schwarze, nackte Wand gen Himmel. Wir standen still und fühlten uns der schweigenden Natur gegenüber verzagt. Die Mutter sah ängstlich nach allen Seiten, der Weg war nicht mehr zu erkennen, nur Schnee. Weiß war es unter uns, und grau über uns. Die hereinbrechende Dämmerung dämpfte unwillkürlich unsere Stimmen, ich hatte das Gefühl, wir dürften den toten Riesen zur Rechten nicht stören. »Das ist der Lilienstein!« flüsterte die Mutter. So standen wir unschlüssig,[77] ratlos und spähten ängstlich nach allen Seiten. Dabei wurde es unaufhaltsam dunkler. Kein menschliches Wesen! – Da, – horch! Kinderstimmen! Sie singen:


»Seht, wie die Sonne dort sinket

Hinter dem nächtlichen Wald,

Glöcklein zur Ruhe uns winket,

Hört nur, wie lieblich es schallt.

Trauliches Glöcklein, du läutest so schön.

Läute, ach läute nur zu,

Läute zur süßen Ruh.«


Wie das auf mich wirkte in dieser winterlichen Einsamkeit! Wir meinten, wo Kinder wären, müsse auch eine menschliche Wohnung sein. Die Dunkelheit nahm in beängstigender Weise zu. Wir stapften ohne Weg und Steg durch den Schnee, immer der Stätte zu, von wo wir den Gesang gehört hatten, und wirklich kamen wir vor ein einsam gelegenes Gehöft. Die geräumige Hausdiele, die wir zögernd betraten, wurde von einem prasselnden Herdfeuer behaglich erleuchtet. Die Bauerfrau saß mit Knecht und Magd vor einem Haufen Runkelrüben, die sie in Stücke schnitten. Soeben mochten auch die kleinen Sänger angekommen sein, sie standen kleinlaut seitwärts, die Stiefel mit Schnee bedeckt. Die Bauerfrau schalt sie aus und sagte ihnen, sie möchten schnell helfen. Durch unseren Eintritt wurde sie unterbrochen, sie hielt erstaunt in ihrer Arbeit inne. Die Mutter erzählte kurz, daß wir den Weg verloren hätten, und bat, ob wir nicht die Nacht hier bleiben könnten, wir seien durchaus fremd hier, und sie wage sich bei der hereinbrechenden Dunkelheit nicht weiter. Wir wollten gern mit einem Plätzchen auf der Ofenbank fürlieb nehmen. Die Frau wies uns aber kalt und entschieden die Tür, hier sei kein Wirtshaus, sagte sie. Der Blick der Mutter fiel mitleidig auf mich: »Das Kind!« sagte sie, »das Kind! Ihre Kinder sangen so verheißungsvoll von einer[78] süßen Ruh! Sollten die Töne keine gute Vorbedeutung für uns gehabt haben?« »Nein,« sagte die Frau, »was kann ich dafür, was die Kinder singen! Wo wollen sie hin?« »Nach Königstein.« »So weit kommen Sie nicht heute abend, aber Sie können bis zur Ebent, da mögen Sie versuchen, ob man Sie aufnimmt. – Ich werde mit hinausgehen und Ihnen den Weg beschreiben.« Sie schüttelte ihre Schürze ab und trat mit uns auf das weite Schneefeld. »Dahin müssen Sie,« sagte sie und streckte den Arm nach dem schwarzen Ungeheuer aus. »Sie haben nur aufzupassen, daß Sie den Lilienstein rechter Hand behalten, immer dicht am Felsen entlang, wenn Sie darauf achten, können Sie nicht fehlgehen. Der Weg führt Sie nach der oberen Ebent.

Weg war sie. Die Tür wurde geschlossen, die Fenster warfen einen hellen Schein auf die Schneefläche. Wir wanderten weiter. »Komm, gib mir dein Händchen,« sagte die Mutter, »und nimm dich in acht, daß du nicht in einen Graben oder in ein Wasserloch fällst. Es ist ja noch nicht spät, wir haben also keine Eile, – laß uns recht vorsichtig gehen! Ich muß mich wundern,« fuhr die Mutter fort, »wie durchaus entgegengesetzt der Eindruck ist, den ein und dieselbe Gegend auf uns macht, ob wir sie im Sommer, im goldigen Sonnenglanze, oder im Winter bei Nacht und Nebel sehen. Derselbe Felsen, der dir jetzt Furcht und Grauen einflößt, der ist in der schönen Sommerzeit das Entzücken der Menschen, man macht weite Reisen, um die Gegend hier zu sehen, und man bewundert diesen Berg. Ich selbst habe mich nicht satt sehen können, wenn die Sonne Licht und Schatten auf die zerklüfteten Wände wirst, sie bekommen dann geradezu Leben, sie sehen aus wie ein altes, durchfurchtes Gesicht, in das die Jahrtausende tiefe Falten gegraben haben.«[79]

So hatten wir uns an der Wand weiter bewegt, bis sie plötzlich eine scharfe Biegung machte, und damit traten wir in einen Wald. Nun leuchtete uns nicht einmal der Schnee mehr, undurchdringliche Finsternis umgab uns, aber wir fühlten zur Rechten die Wand, wenn wir sie zur Rechten behielten, so würden wir an menschliche Wohnungen kommen. Wir hatten nun den Eindruck, als ob links, vielleicht tiefer unter uns, ein Wasser fließe, wir hörten sein Rauschen, aber von nichts anderem konnten wir uns eine Vorstellung machen, als von der dunklen Felsenwand. Die Mutter versuchte auszufinden, wie breit wohl der Weg sei, sie meinte, er sei nur schmal.

»Halt dich nur ja ganz dicht am Felsen! – Geh vor mir her! – So, – nun ganz vorsichtig vorwärts, damit du nicht links in den Abgrund stürzest.« Ach, welch ein unsicheres Gehen! Der Weg kam mir unendlich vor. Mein ängstlich lauschendes Ohr vernahm das Rauschen des Wassers, es hörte hoch oben den Flug eines aufgeschreckten Vogels und den schweren Fall der Tropfen vom Felsen. Nur so habe ich den Lilienstein kennen gelernt! Dann und wann kam ein tröstender oder mahnender Zuruf von der Mutter: »Heb doch die Füße hoch! – Du stolperst ja beständig! – Du wirst noch auf die Nase fallen! – Na, verzage nur nicht, ich bin ja bei dir, – auch das dunkelste Tal wird endlich einen lichten Ausblick haben!«

Ich verhalte mich während dieser unheimlichen Wanderung ganz still, aber es ist mir ein Trost, wenn ich hinter mir die Stimme der Mutter höre. Sehnsüchtig durchspähen die Augen das Dunkel. Der Wald ist endlich zu Ende, wir machen wieder eine Biegung an der Felswand entlang, aber es ist jetzt freier, wir können merken, daß wir keinen Abgrund mehr an der Seite[80] haben, nur noch rechts die Wand – und – o die Freude! – in der Ferne Lichtschein aus einem Fenster. Wir kommen wieder unter Menschen!

Ist mir diese Wanderung durch das dunkle Tal nicht oft zum Bild und Gleichnis geworden, wenn im späteren Leben die Seele durch Trübsal hindurch mußte? Wie lang erscheint auch dann der Weg, wie unsicher stolpert der Fuß vorwärts. Wie tastet die Seele nach einem Halt, damit sie nicht links im Abgrunde versinkt. Aber getrost! Wenn sie sich nicht in Mutwillen oder Leichtsinn losreißt, so wird auch sie von unsichtbaren Händen gehalten, und wenn sie überhaupt ein Verhältnis zu Gott hat, so wird sie auch seinen tröstlichen Zuruf hören, bald ermutigend, bald warnend.

Wir sind dem Hause nahe, so nahe, daß wir deutlich hören können, wie jugendliche Stimmen drinnen singen:


In der Heimat ist es schön,

Auf der Berge lichten Höhn,

Auf den schroffen Felsenpfaden,

Auf den Fluren grüner Saaten,

Wo die Herden weidend gehn,

In der Heimat ist es schön!«


Atemlos lauschen wir. O den Vers kenne ich! Die Töne greifen warm ans Herz, ist mir doch, als höre ich die Stimme eines Bekannten.

Wir betreten das Haus, niemand hört unser Klopfen, da muß die Mutter schon öffnen. Neugierig schiebe ich meinen Kopf an der Mutter vorbei und betrachte staunend das Bild vor mir. Burschen und junge Mädchen sitzen in weitem Kreis in der großen Stube und singen. Die letzteren haben Spinnrocken, geschmückt mit bunten Bändern, vor sich stehen und drehen mit anmutigen Bewegungen die Spindel. In der Mitte steht eine Art[81] Riesenleuchter, daran ist festgeklemmt ein brennender Kienspan, der einen unruhigen düsteren Schein auf die Versammlung wirst. Beim Ofen liegen mehr Kienspäne.

Das Bild da vor mir, so kurz ich es auch nur schaute, hat einen unauslöschlichen Eindruck bei mir hinterlassen. Noch nie hatte ich weder eine derartige Beleuchtung, noch je eine Spinnstube gesehen.

Als wir nun so in der offenen Tür stehen, verstummt der Gesang, und aller Blicke richten sich erstaunt auf uns. Hinter dem Kachelofen tritt eine Frau hervor und fragt nach unserem Begehr. Dringlicher wie zuvor bringt die Mutter die Bitte nach Unterkunft vor, aber auch hier findet sie kein Gehör.

»Gehen Sie doch,« sagt die Frau, »hier ist kein Wirtshaus. Ich habe geladene Gäste, ungebetene will ich nicht.« Sie sagt etwas von Herumstreichern, und daß die Stube kalt wird.

Die Mutter tritt mit mir herein und schließt die Tür. »Ja, ja,« sagt sie als Antwort auf das enttäuschte Gesicht der Frau: »ich habe Sie ganz gut verstanden! Aber wir sind Menschen!« Hier richtet sich die Mutter trotz des Korbes aufrecht in die Höhe, und wirst der Frau einen gebietenden Blick zu: »Ich kann wohl auf eine höfliche Frage eine anständige Antwort erwarten! Wenn Sie uns hinausweisen, so sagen Sie uns wenigstens, wo wir ein Unterkommen finden, wir sind fremd und kennen den Weg nicht. Gehen Sie mal vor die Tür und sehen Sie selbst, wie dunkel es ist!« Die Hände der jungen Mädchen ruhten bei der Rede der Mutter, sie horchten und schauten auf die kleine Frau, die eine so entschiedene Sprache führte.

»Sie müssen nach der unteren Ebent,« sagte die Frau ganz zahm und schaute prüfend an uns herunter.

»Und wie komme ich dahin?«[82]

»O, da führen viele, viele Stufen hinunter.«

Die Mutter überlegte, dann sagte sie: »Bitte, beschreiben Sie uns den Weg, und borgen Sie uns eine Laterne, unten im Gasthof kann sie ja abgeholt werden.«

»Warten Sie, ich lasse die Magd mitgehen.« Dafür war die Mutter sehr dankbar. Ich trennte mich nur ungern von dem lebensfrischen Bilde. Im unsicheren Schein, den die große Stallaterne auf die verschneiten Stufen warf, kletterte ich an der Hand der Mutter die vielen Stufen hinunter. Unten im Gasthof fanden wir endlich die ersehnte Ruhe und eine warme Suppe.


***

Am kommenden Morgen wurden wir in einem Kahn nach dem Städtchen Königstein übergesetzt. Hier erstiegen wir eine steile Anhöhe, wo ein kleines, dürftiges Häuschen stand, da gingen wir hinein. Den Hauptraum in dem ärmlichen Stübchen nahm ein Webstuhl ein, hinter dem ein blasses, kleines Männchen saß, das bei unserem Eintritt mit einem Ausruf lebhafter Verwunderung herunter kletterte und der Mutter die Hand zum Willkomm bot. Die Frau stand vom Spulrad auf und nahm der Mutter den Korb ab. Ein Kind mit ungekämmtem Haar stand scheu am Ofen, der nur spärliche Wärme abgab, denn die kleinen Scheiben waren mit den schönsten Eisblumen bedeckt. Der Mann rieb sich lebhaft die Hände und sagte:

»Das ist auch eine Zeit, in die sächsische Schweiz zu reisen! Sie wollen sich wohl ein Herbarium von diesen anlegen?« – und er zeigte lachend auf die Eisblumen.

Die Mutter zuckte die Achseln, nahm ein Paket aus dem Korbe, ging damit an den Tisch, löste die Bänder der Mappe und legte einige Bogen heraus. »Herr[83] Poppe,« sagte sie, »sehen Sie sich mal diese Pflanze genau an, es ist eine Distel. Haben Sie sie schon auf Ihren Bergen beobachtet?«

Der Mann sah sie an und las stockend die Unterschrift : »Car – li – na acau – lis!«

»Gewiß!« sagte die Mutter, »acaulis heißt stengellos. Diese wunderschöne Blume« – dabei fuhr die Mutter mit der Handfläche gleichsam liebkosend, ganz zart und leise über die Blume hin, – »die wächst nicht bei uns, wohl aber hier. Es ist wunderbar, wie sie auf dürrem, steinigem Boden doch eine solche Schönheit entfalten kann. Niedrig, ganz bescheiden sitzt sie dicht an der Erde. Ist sie nicht wie aus mattem Silber gewoben! Dieser Glanz, den die Blumenkrone entfaltet, wie sie da zwischen den sein geformten, grünen Blättchen prangt! Sie ist genügsam. Damit sie sich aber auf dem mageren Boden entfalten kann, muß sie ihre Wurzel tief in das Erdreich senken. Nicht wahr, Herr Poppe, wir beide verstehen, was dürrer Boden ist! Diese schöne Blume hält mir eine ganze Predigt. Ihnen auch? Ich komme zu Ihnen, um Sie zu bitten, mir eine Schachtel voll zu sammeln. Ich schreibe Ihnen noch die Blütezeit und die vermutlichen Fundorte auf. Was diese Blätter enthalten, das kennen Sie von früher her, diese Zwergwinde, und hier einiges – damit wissen Sie schon ›Bescheid‹.«

Poppe ging lebhaft auf alles ein und versprach, den Auftrag gut auszuführen, dann gingen wir.

Im Städtchen hielten wir uns nicht auf. Draußen vor der Stadt sahen wir über uns in schwindelnder Höhe die Festung Königstein. Die Mutter war oben gewesen, sie erzählte mir eingehend davon. Während des Plauderns waren wir in ein bewaldetes Tal gekommen und standen plötzlich vor einer verschneiten Waldmühle. Eine Frau saß am Fenster, sie hatte unser Kommen bemerkt,[84] öffnete weit die Tür, aber noch weiter die Arme und rief mit freudig erregter Stimme: »Sieh! Meine gute Frau Dietrich?! Bei der Kälte! Und Ihr Mädelchen haben Sie mit?!«

Sie hatte der Mutter den Korb abgenommen und drückte sie nun in einen großen, weichen Stuhl. Der Mutter kullerten ein paar Tränen über die Backen, während sie lachend rief: »Na, nun kommen wir aber in Abrahams Schoß! Bind dein Tuch ab und setz dich da auf die Hitsche.«

»Nun, und was macht denn der gute Friedel? Sammelt er denn noch tüchtig?« fragte die Mutter.

»Ach,« sagte die Müllersfrau betrübt und streichelte die Hände der Mutter, »wir sind in großer Sorge um ihn. Denken Sie – wenn?! Er ist unser Einziger! – Wir hoffen auf den Frühling. – Aber, Sie werden sehen, er sieht schlecht aus – so blaß und so zart, wie ein bleichsüchtiges Mädel! Ich laß ihn auch noch nicht wieder aufs Seminar, – wer weiß, ob er überhaupt wieder hin kommt.«

»Darauf war ich ja gar nicht vorbereitet, ich dachte, wir wollten uns recht mit Botanik beschäftigen, wenn wir jetzt auch nicht sammeln können, so habe ich doch vieles bei mir, und er wird ja auch allerhand herbeigeschleppt haben.«

»Hat er auch! Hat er auch! Und seinetwegen bin ich ja so besonders froh, daß Sie gekommen sind. Auch mein Mann wird sich freuen. Sie haben doch ein paar Tage Zeit? Ja? Sagen Sie ja!«

»Na, gut,« sagte die Mutter, »ich kann mich wohl ein paar Tage ihm widmen. Während er ruht, geh ich noch mal in die Stadt, ich bin noch gar nicht in der Apotheke gewesen, möchte auch mal im Winter auf den Königstein, das muß ja auch jetzt ein herrlicher Ausblick[85] sein. Und nun noch eins« – fuhr die Mutter bittend fort, »ich möchte dem Friedel noch ein verspätetes Weihnachtsgeschenk machen, lassen Sie ihn von meinen Sammlungen aussuchen, was ihm Freude macht.«

Das nahm die Müllersfrau mit lebhaftem Dank an, dann holte sie Mann und Sohn. Ich sah, wie die Mutter erschrak, als sie den blassen Friedel sah, sie wußte ihn aber sofort zu interessieren und zu beschäftigen.

»Geh,« sagte sie zu mir, »hilf dem jungen Herrn mal alles herunter tragen, was er gesammelt hat. Haben Sie denn auch Steine und Insekten?«

»Ja,« sagte der junge Mensch erfreut, »Sie müssen mir bei allem helfen. Ich habe auch so schöne Lebermoose gefunden!«

Als wir den Tisch ganz voll gepackt hatten, sagte die Mutter: »Setz dich mit hin und paß auf!«

Wir drei! Das war ein Spaß! Wie eine kleine Schule, die Mutter die Lehrerin. Sie examinierte, erklärte und belehrte, und wir, ihre Schüler, waren voll freudiger Begeisterung. Es paßte uns kaum, als der Tisch zum Essen abgeräumt wurde und die freundliche Müllersfrau die Plinzen auf den Tisch setzte. Wenn der Friedel oben war und die Mutter in der Stadt zu tun hatte, dann ging ich der Müllersfrau zur Hand, sie gab mir die zärtlichsten Kosenamen, vorwiegend nannte sie mich ihr »Goldtöchterchen«, was mir gar gut gefiel, und der Müller meinte, jetzt müsse er mich mit zu seinen Bekannten nehmen, die müßten doch mal sehen, wie er Staat mache mit einem Mädel, wenn es auch nur ein geborgtes sei.

Nach dem mühsamen Herumwandern taten uns ein paar Tage friedlicher Ruhe sehr wohl. Wir gingen von hier nach Pirna, von Pirna nach Dresden, und nun nach Hause.[86]

Ob mein Weihnachtsgeschenk, wenn ich es im Sommer genossen hätte, wohl einen ebenso tiefen Eindruck hinterlassen haben würde, wie jetzt? Mit verschieden gearteten Menschen, mit den entgegengesetztesten Verhältnissen war ich in Berührung gekommen. Schaden an Leib und Seele hatte ich trotz aller Fährlichkeit nicht genommen.

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 69-87.
Lizenz:

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