XVII.

Reise nach Heidelberg und Köln.

[98] Der Winter nahm meine Tätigkeit als leitendes Mitglied des Zentralkomitees vollauf in Anspruch. Ich besorgte die Redaktion der »Verbrüderung«, indem ich den größten Teil des Inhaltes dieses zweimal wöchentlich ausgegebenen Blattes selbst schrieb, mich an der Gründung oder Förderung einiger Produktiv-Associationen beteiligte und in mehreren deutschen Städten, in Dresden, Altenburg, Magdeburg, Nürnberg, Heidelberg, Mainz, dort veranstalteten Versammlungen präsidierte oder durch Vorträge den Anschluß großer Gebietsteile Deutschlands an die allgemeine »Verbrüderung« herbeiführte. In Preußen und Sachsen waren nach und nach sämtliche Bezirksvereine dem Bunde beigetreten, fast jede Nummer der »Verbrüderung« brachte Mitteilungen über die Fortschritte der Organisation. So kamen wir in Norddeutschland ohne besondere Anstrengungen dem Ziele täglich näher. Schwieriger war die Aufgabe der Überbrückung der Mainlinie. Auch sie gelang dank dem Umstände, daß in Heidelberg ein Distrikts-Kongreß für den 28. und 29. Januar 1849 ausgeschrieben wurde, auf welchem hauptsächlich die Arbeitervereine Badens, Rheinhessens und der Rheinpfalz vertreten waren, zu dem aber auch das Zentralkomitee in Leipzig eingeladen wurde, weil es sich darum handelte, über eine ganz eigentümliche von dem Kasseler Professor Winkelblech gepredigte Lehre eine Entscheidung herbeizuführen. Von dieser Entscheidung hing der Anschluß Süddeutschlands an die allgemeine »Verbrüderung« ab.

Winkelblech war ein Meteor, das im Bewegungsjahre am dunklen Nachthimmel des deutschen Zunftwesens plötzlich erschien, um in raschem Niederfall zu versinken und zu erlöschen. Nur in einem Lande wie Deutschland, das in seiner ökonomischen Entwicklung neben der gesetzlich eingeführten, den Ideen der Neuzeit zugestandenen Gewerbefreiheit die mannigfaltigsten Gestaltungen des mittelalterlichen Zunftwesens fortleben ließ, konnte eine Prophetennatur wie Winkelblech, wenn auch nur auf einige Wochen, Gehör finden und eine Rolle spielen. Der Mann war Professor an einer höheren Gewerbeschule zu Kassel, las über Chemie und Technologie und tat keinem Menschen etwas zu lieb[99] noch zu leide, als er – das wurde sein Verhängnis – auf einer Reise in Norwegen mit einem deutschen Fabrikarbeiter zusammentraf, der, wie es scheint, in beredten Worten sein schweres Elend ihm darlegte. Ergriffen von den Leiden des arbeitenden Volkes, fühlte Winkelblech plötzlich den heiligen Beruf in sich, den Mühseligen und Beladenen ein Retter und Erlöser zu werden. Lykurg, Solon, Moses galten ihm als Gesetzgeber, die von einer himmlischen Macht geleitet, aus der Tiefe ihrer Seele das große, einheitliche System sich gegenseitig unterstützender und ergänzender Einrichtungen schufen, mit denen sie ihre Völker aus der Verworrenheit zogen und über andere Völker emporhoben. Der Gedanke, daß diese Männer aus der Erkenntnis der geschichtlich entstandenen, auf besonderem Boden gekeimten und allmählich zum Wachstum gelangten materiellen Bedürfnisse und einer mit diesen eng verflochtenen Geisteskultur ein in seinen Grundzügen schon vorhandenes wirtschaftliches und staatliches System aufbauten, lag Herrn Winkelblech fern. Er sah nicht ein, daß jene großen Intelligenzen die zerstreuten Ideen einer neuen Zeit in sich zu einer Leuchte sammelten, die sie ihren erstaunten Volksgenossen vorantrugen; ihm waren sie mit göttlicher Gewalt ausgestattete Propheten, und er selber glaubte sich zur Schöpfung eines in seinem Gehirn gereiften solonischen Werkes berufen.

Die Dichtungen der deutschen Romantiker hatten das gesamte Leben des Mittelalters mit seinen ständischen Gliederungen in eine bestrickende, den Wirklichkeitssinn ertötende zauberhafte Mondscheinbeleuchtung gesetzt. Arnims »Kronenwächter«, nahm man als ein Bild des Mittelalters hin, Hoffmanns »Meister Martin und seine Gesellen« galt für diese Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse vergangener Zeiten; eine schönfärberische Poesie überwucherte die gewissenhafte Forschung, sie berauschte die Geister und erschwerte die Arbeit derjenigen, die ohne Voreingenommenheit der Wahrheit dienen wollten. Professor Winkelblech war ein Prophet und ein Romantiker auf einem Gebiet, das alle Romantik und alles Prophetentum ausschließt. Als Prophet wollte er natürlich alles Elend auf Erden ausrotten, alle Menschen glücklich machen, als Romantiker glaubte er alles Heil auf dem Wege zu finden, der zurückführt in die dichterisch verklärten Hallen des erneuerten mittelalterlichen Zunftwesens. Ihm war die moderne Produktionsweise, das Fabrikwesen mit den himmelanstrebenden Schloten, den millionenreichen[100] Herren und den bettelarmen hungernden Arbeitern ein Greuel, er war von einem starken Haß gegen die Unternehmer erfüllt, doch sah er nicht ein, daß der moderne Fabrikherr ein notwendiges Glied in der neuen Gesellschaft war, die aus der Befreiung des dritten Standes von feudalistischen Staatseinrichtungen hervorgehen mußte, und daß diese neue Gesellschaft und ihre auf dem »freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte« beruhende Produktionsform eine große Masse von Gütern geschaffen, welche dem vierten Stande zu Gute kamen, seine Lebensstellung hoben und ihn erst jetzt zu einem Kampfe für seine Selbständigkeit befähigten. Er sah nicht ein, daß man zu einer geschichtlich überwundenen wirtschaftlichen Periode unmöglich zurückkehren kann, und so gelangte er zu dem Irrtum, einer zunftmäßigen, von ihm in verführerischen Farben dargestellten Organisation das Wort zu reden, die den Bedürfnissen der Zeit durchaus nicht mehr entsprach. Diese »christlich-germanische« Organisation glaubte er durch Ideen französischer Sozialisten modern ausschmücken zu können. Er blieb immerhin ein bedenklicher Reaktionär, da er als Romantiker sogar für das absolute Königtum im Sinne Friedrich Wilhelms IV. sich begeisterte und so den Verdacht gegen sich erregte, daß er damit sich eine Unterstützung und hohe Protektion von allerhöchster Seite sichern wollte.

Professor Winkelblech entwickelte sein System in Heidelberg. Ich trat nach ihm auf, um ihn zu widerlegen. Ich muß es, wie die Zeitungen darüber berichteten, sehr gründlich getan haben; die ganze zahlreiche Zuhörerschaft, die nicht bloß aus den Vertretern süddeutscher Arbeitervereine, sondern auch aus den Professoren und Studenten der Heidelberger Universität bestand, rückte nach und nach auf meine Seite, Winkelblech fühlte sich abgelehnt, er war in dem großen Redekampf unterlegen und wartete den zweiten Debattiertag nicht ab. Der Anschluß der süddeutschen Arbeitervereine an die Verbrüderung wurde als Ergebnis des Kongresses laut proklamiert.

Die Mainzer Kongreßmitglieder, zwei Brüder Stumpf, luden mich ein, auf einige Tage ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Ich willigte ein. Sie führten mich am ersten Abend in den dortigen demokratischen Verein. Der sehr große Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch das schöne Geschlecht war reichlich vertreten. Es schien etwas verabredet worden zu sein. Nach Abfertigung einiger kurzen Vereinsgeschäfte ersuchte mich der Vorsitzende,[101] der Versammlung, die mir gewiß dafür dankbar sein würde, Bericht über den Heidelberger Kongreß abzustatten. Das tat ich. Ich habe nie eine aufmerksamere Zuhörerschaft gehabt. Als ich nach einer Stunde geschlossen hatte und mich von allen Seiten umdrängt sah, trat plötzlich mein alter Freund Wallau an mich heran, um mir die Hand zu drücken. Wir hatten vor anderthalb Jahren die Deutsche Brüsseler-Zeitung gesetzt. Er war jetzt Besitzer einer kleinen Bruchdruckerei mit einer einzigen Handpresse. Wallau entwickelte sich rasch zu einer hervorragenden Persönlichkeit in seiner Vaterstadt, er ist als Oberbürgermeister von Mainz gestorben.


Einmal in Mainz, wollte ich auch die Männer der »Neuen Rheinischen Zeitung«, Marx, Engels, Wolf e tutti quanti wiedersehen. Wer heute die gehässigen Worte liest, mit denen Engels vierzig Jahre später meiner gedenkt, muß wohl meinen, daß die Häupter der Partei längst mit mir gebrochen hatten. Das war durchaus nicht der Fall. Schließlich hätten sie mir keinen anderen Vorwurf machen können, als den, daß ich, ohne ihr Kommandowort einzuholen, ganz und gar auf eigene Faust gehandelt hatte. Aber niemand gab mir nur durch eine Miene irgend welche Unzufriedenheit zu erkennen. Marx nahm mich aufs freundlichste auf, ebenso Frau Marx. Sie ließen mich nicht in ein Hotel einkehren, sie betrachteten mich als ihren Gast. Und da fällt mir eine Bemerkung ein, die Marx bei Tische machte, und die wohl, weil sie für seine Art und Weise charakteristisch ist, festgehalten zu werden verdient. Zum erstenmale kam in meiner Gegenwart das Gespräch auf Familienverhältnisse. Es war die Rede von der politischen Stellung des Herrn von Westphalen in dem Revolutionsjahr, er war ein ausgesprochener Reaktionär. »Dein Bruder«, sagte lachend Marx zu seiner Frau, »ist so dumm, daß er noch einmal preußischer Minister wird.« Frau Marx, die über diese mehr als freimütige Bemerkung errötete, lenkte das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Die Prophezeiung ihres Mannes ist bekanntlich eingetroffen. Ich habe einige Jahre später mich manchmal jenes Wortes erinnert und dabei an den Gegensatz zwischen den beiden Geschwistern gedacht. Er der höchste Staatsbeamte in der Zeit der härtesten Reaktion und deren willigster Diener; sie im Exil und nur zu oft die Beute der drückendsten Lebenssorge, doch treu sich anschließend an den Gegenpol ihres Bruders, von dem[102] eine Welt sie für immer schied. Mich berührte der Gedanke daran stets als tief tragisch.

Am andern Morgen besuchte ich die Herren der Redaktion. Engels, jedenfalls der Hauptarbeiter in derselben, denn keiner besaß wie er eine so große Leichtigkeit der Produktion, machte sich ein Viertelstündchen frei, um mit mir wie in früheren Zeiten ein wenig zu plaudern, richtiger gesagt, um mir sein Herz auszuschütten. Er war nicht zufrieden. Nur Wilhelm Wolf, der schlesische Bauernsohn, der in der »Neuen Rheinischen Zeitung« dem hohen feudalen Adel seiner Provinz allen Raub vorrechnete, den dieser an dem ihm unterworfenen armen Landvolk begangen, fand Gnade vor ihm. Der zweite Wolf, ein verbummelter und verkommener Literat, der, man weiß nicht wie und warum, unter die Kommunisten geraten war, kam mit den geringen Nebenarbeiten, die man ihm auftrug, niemals nach. Wenn er eine halbe Stunde an einer Übersetzung gedrechselt hatte, erhob er sich mit verzweiflungsvoller Miene von seinem Stuhl und seufzte: »Ich leide«, nach dem kölnischen Dialekt das ei in zwei Vokale trennend. Am bittersten klagte Engels über Marx. »Er ist kein Journalist«, sagte er, »und wird nie einer werden. Über einem Leitartikel, den ein anderer in zwei Stunden schreibt, hockt er einen ganzen Tag, als handle es sich um die Lösung eines tiefen philosophischen Problems; er ändert und feilt, und ändert wieder das Geänderte, und kann vor lauter Gründlichkeit niemals zur rechten Zeit fertig werden.« Es war Engels eine wahre Erleichterung, das was ihn ärgerte, einmal aussprechen zu können. Im Grunde aber hatte er einen tiefen Respekt vor Marx, den er als einen ihm überlegenen Geist stets anerkannte. Und wenn es Marx, der sehr zum Jähzorn geneigt war, auch zeitweise für geboten erachtete, ihn an seinen Platz zu stellen – er hatte ihn einmal in meiner Gegenwart einen Elberfelder Gassenjungen gescholten und darauf die Tür hinter sich zugeschlagen – so erwiderte wohl Engels: »Das werde ich ihm gedenken!« Indessen, er dachte nicht lange an das Vorgefallene.

»Das werde ich der Schweiz gedenken!« sagte Engels auch, als ich nach dem Übertritt der badischen Armee im Sommer des Jahres 1849 in Bern auf offenem Platze zufällig mit ihm zusammentraf. Es war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen. Er erzählte mir in höchster Aufregung, daß er auf einem Ausflug in den Jura mit einem Landjäger zusammengestoßen sei, der ihn nach seinen[103] Legitimationspapieren gefragt und ihm, da er dies ungehörig fand und in der freien Republik von der Polizei sich nichts gefallen lassen wollte, die Handschellen anlegte und so einem Straßenräuber gleich in die nächste Stadt transportierte. – »Warum bist Du auch so widerhaarig gegen diesen rauhen Diener des Gesetzes gewesen? Mit solchen Leuten kommt man durch Höflichkeit weiter.« Das mochte ich gesagt haben, anstatt in lebendige Entrüstung auszubrechen, und das hat er mir wahrscheinlich nie vergeben. Sein »Das werde ich der Schweiz gedenken« hat er hingegen vergessen.

Quelle:
Born, Stephan: Erinnerungen eines Achtundvierzigers. Berlin, Bonn 1978, S. 98-104.
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