Der Verkehr der jungen Leute untereinander

Der Verkehr der jungen Leute untereinander.

[304] Wir nannten die Geselligkeit ein Findemittel der Herzen und ein Bindemittel der Geister. In diesen beiden Bezeichnungen liegen gewissermaßen die Elemente, denen sie dienen soll, eingeschlossen, nämlich: der Jugend und dem Alter. Der Jugend soll sie ein Mittel sein, durch das die Herzen sich finden; aber sie soll in ihrer weitesten Bedeutung dazu dienen, nicht etwa nur in ihrer Gestalt als Tanzvergnügen.[304]

Und dies letztere ist bei uns in Deutschland allzusehr der Fall. Unsere Knaben und Mädchen treffen sich zuerst in der Tanzstunde, später, als junge Herren und junge Damen, auf dem Ball. Beides aber ist nicht der natürliche Boden: man tanzt eben nicht durchs Leben, sondern man geht und steht darin, und es ist viel wichtiger, daß Menschen, die sich fürs Leben vervinden wollen, wissen, wie sie in den täglichen, einfachen Umgebungen, »gehen und stehen«, als wie sie in der künstlichen Atmosphäre auf dem Parkett des Ballsaales »tanzen«.

Kurz, und um ohne Metapher zu sprechen: unsere jungen Leute lernen sich nicht genügend kennen. Die Schule trennt Knaben und Mädchen, und wie bei der Arbeit, sind sie auch beim Spiel nur selten vereinigt. Die höhere Töchterschülerin, welche ihre Freundinnen einlädt, würde sehr erstaunt sein, wenn ihr Bruder, der Sekundaner, in ihrer Gesellschaft erscheinen wollte; und der Sekundaner würde sehr linkisch sein, und die Mädchen würden kichern und niemand etwas anzufangen wissen. Interessant aber wäre es den Mädchen ohne Zweifel, einen »lebendigen Sekundaner« so ganz in der Nähe zu sehen, und er, seinerseits, würde auch für sein Leben gern mit der hübschen Blondine, oder der lebhaften Brünette, der Freundin seiner Schwester, ein paar Worte wechseln, – allein er weiß es nicht anzufangen. Das geht wohl in der Tanzstunde, aber hier, im eigenen Hause, ist er das nicht gewohnt.

Ist das nicht unnatürlich, ja, und gefährlich? Die Schranke, welche man von früh auf zwischen den beiden Geschlechtern zieht, hat, wie jedes künstliche Hindernis, nur die Wirkung, die Phantasie zu erhitzen und in beiden Teilen falsche, übertriebene Vorstellungen voneinander zu erzeugen. Sie reizt die Sinne – um nicht zu sagen die Sinnlichkeit; die Person erscheint jenseits der Schranke[305] doppelt lockend, und da man sie auf dem geraden Weg nicht erreichen kann, nun, so flüstert man durch den Mauerspalt hindurch mit ihr, oder – übersteigt die Schranke, um sie heimlich zu sehen. Es erscheint uns unzweifelhaft, daß eine große Anzahl sittlicher Vergehen nur die Folge dieser unnatürlichen Absperrung sind.

Als ein Beispiel vom Gegenteil müssen wir England anführen. Dort wachsen Knaben und Mädchen zusammen auf, teilen das Spiel, wie oft auch die Arbeit, verkehren kameradschaftlich miteinander. Wie oft trifft man in einem Garten eine Gesellschaft halbwüchsiger junger Leute beiderlei Geschlechts von fünfzehn bis achtzehn Jahren ohne beaufsichtigende Duenna beim Lawn-Tennis, ohne daß irgend eine Mama daran dächte, daß dieser ungenierte Verkehr gefährlich für ihr Töchterchen sein könnte! Und er ist es auch nicht. Sie alle kennen sich ja seit Jahren, sie haben sich gelegentlich gezankt und wieder ausgesöhnt, sie wissen: der ist ein netter Junge, der thut einem alles zu Gefallen, – jene ein »famoses« Mädchen with no nonsens about her; aber vor allem wissen sie: der oder die ist geschickt im Ballschlagen, im Croquet, und das ist ihnen vorerst die Hauptsache! O, diese gesegneten Spiele im Freien! Möchten wir sie doch bei uns einführen, vielleicht würde dann auch ein freierer, natürlicherer Geist in manchen unserer geselligen Einrichtungen sich entwickeln.

Ja, die wahre Sittlichkeit ist das Produkt der Freiheit. Die Aengstlichkeit, mit der man unsere jungen Mädchen behütet, ist ein Mißtrauensvotum gegen beide Geschlechter. Wie empört würde eine englische Miß sein, wenn man sie hindern wollte, mit ihrem Bräutigam allein spazieren zu gehen, oder eine kleine Reise zu machen. Wie verletzt würde ein junger Mann sich fühlen, wenn er, bei einem Besuch die Eltern nicht zu Hause treffend, nicht von der[306] Tochter empfangen würde! Bei den großen Entfernungen in London kann man junge Mädchen, die oft ohne ihre Eltern zu Tanzvergnügungen eingeladen werden, nicht immer durch einen Dienstboten abholen lassen; es versteht sich ganz von selbst, daß einer der jungen Herren sie nach Hause bringt, – und honni soit qui mal y pense! Ebenso selbstverständlich ist es, daß die also geleitete Dame den jungen Mann, wenn er sie in ihrem home abliefert, auffordert, sie dort zu besuchen; wer aber eine solche Aufforderung als eine besondere Gunst auffassen oder gar Eroberungsgelüste dahinter wittern wollte, würde sich nur lächerlich machen.

Bei uns wird eine Höflichkeit, die ein junger Mann einer jungen Dame erweist, gleich als »Hofmachen« ausgelegt. Wenn er auf einem Balle zwei oder dreimal mit ihr tanzt, hat er »ernste Absichten«, und macht er danach einen Besuch in ihrem Hause – wo er schon früher verkehrt hat – so »bringt er sie ins Gerede«. – »Sprechen Sie mit meinen Eltern!« flüsterte eine junge Dame verschämt, als ein junger Herr in einem Konzert, wo sie keinen Platz gefunden, ihr den seinen bot. Das ist eine Persiflage, – aber eine verdiente. Man betont bei uns die Geschlechtsbeziehungen viel zu sehr; das menschliche, freundschaftliche Verhältnis leidet darunter.

Wir möchten also unsere jungen Leute in natürlicherer, freierer Weise miteinander verkehren sehen. Als Knaben und Mädchen sollten sie sich öfter beim Spiel, auf Spaziergängen, in harmloser Geselligkeit treffen, später in der reinen Atmosphäre, auf dem natürlichen Boden des Hauses sich kennen lernen. Da sieht der junge Mann, wie das Mädchen im Hauskleide sich ausnimmt, wie sie sich in ihren häuslichen Beschäftigungen bewegt, wie sie mit den Eltern, den Geschwistern verkehrt; sie ihrerseits hört von ihm andere,[307] ernstere Gespräche, als die Phrasen, welche die Pausen im Tanzen auszufüllen pflegen, hat Gelegenheit zu beurteilen, ob er ein guter Sohn, ein guter Bruder ist, Gelegenheit, seinen Geschmack, seine Neigungen, seinen Charakter kennen zu lernen. Sie erscheinen sich dann gegenseitig, wie sie sind, mit ihren Licht- und Schattenseiten; sie sehen in einander keine Engel, keine Helden, sondern Menschen, lernen sich schätzen, lieben. Ist das nicht eine viel sicherere Grundlage für eine Verbindung, für das Glück des Lebens, als die flüchtige Bekanntschaft von zwei, drei Bällen und Gesellschaften?...


Wir haben von großen und kleinen Gesellschaften, von den Formen des geselligen Verkehrs, von der Bewirtung und der Kunst des Essens gesprochen; aber alle diese Dinge sind schließlich doch nebensächlich: das Hauptelement, der belebende Atemzug der Geselligkeit ist immer doch


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 304-308.
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