Gesellige Talente

die geselligen Talente,

[315] welche wesentlich zum Genusse der Geselligkeit beitragen.

In erster Linie unter ihnen steht der Tanz.[315]

Wir erwähnten schon bei Gelegenheit des Balles, daß Eltern ihre Kinder in dieser hübschen und für das gesellige Leben notwendigen Kunst (bei der es sich natürlich nur um die in der Gesellschaft üblichen Tänze handelt) unterrichten lassen sollten: einmal vielleicht, wenn die Kinder noch klein sind, mit zehn, elf Jahren, später nach der Konfirmation, – aber nicht kurz vor dieser ernsten Handlung, welche möglichste Sammlung der Gedanken und Ernst der Stimmung verlangt. Freilich thut auch hier das Talent sehr viel: manche Menschen tanzen gut, ohne es gelernt zu haben, andere bleiben, trotz alles Unterrichts, schwerfällig und plump. Da hilft dann nichts, als höchstens Uebung – an der es ja der Jugend meist nicht fehlt. Von einem jungen Mann oder jungen Mädchen sagen zu hören: »ich kann nicht tanzen,« ist immer auffallend; sie setzen die Wirte in Verlegenheit, da diese dann eine andere Unterhaltung für sie zu finden haben, und für sie selbst ist es auch unbehaglich. Wer also nicht tanzen kann oder principiell nicht tanzen will, sollte keine Tanzgesellschaft besuchen.

Nach dem Tanz ist in unserer Geselligkeit die beliebteste und gepflegteste Kunst die Musik. Sind Sie musikalisch? spielen Sie? singen Sie? Diese Frage wird sehr bald an jede neue Erscheinung in der Gesellschaft gerichtet, und auch nur selten ganz verneint werden. Unsere jungen Damen zumal sind fast immer musikalisch – das heißt, treiben fast immer Musik; denn daß sie wirklich musikalisch seien, ist deshalb, leider! noch lange nicht gesagt. Sie haben seit dem sechsten, siebenten Jahr Klavierstunde gehabt, haben viel Zeit, Mühe und Geld daran gewendet, ein Bravourstück herunterzutrommeln oder ein beliebtes Liedchen singen zu können; ob es für die Zuhörer ein Genuß ist – danach fragen sie nicht! Würde aber die Wirtin, welche so dringend[316] um »noch ein Stück« oder »ein Liedchen« bittet, die Gäste fragen, und diese, was selten geschieht, aufrichtig antworten – sie würde mit Schrecken hören, daß die musikalischen unter ihnen eine Tortur erlitten, die unmusikalischen sich gelangweilt haben.

Jeder Dilettant sollte sich doch sagen, daß das Wort von dem lateinischen »delectare«, ergötzen, erfreuen, herkommt, der Dilettantismus also nur insoweit berechtigt ist, als er wirklich erfreut. Das aber kann er nur, wenn der musikalischen Leistung ein Talent zu Grunde liegt, und nur solche Kinder, die Talent für Musik besitzen, sollten Unterricht darin erhalten. Ein guter Lehrer wird dies nach kurzer Zeit beurteilen können, und stellt es sich heraus, daß dem Schüler alle musikalische Anlage fehlt, so ist es ein Mißbrauch seiner Zeit und Kraft, dieselben einem Studium zu weihen, das nie zu einem lohnenden Resultate führen kann. Welche Qualen man durch solche unmusikalischen Musikübungen den Hausbewohnern auferlegt, sollte auch dabei bedacht werden.

Entgegnet man uns, daß die Musik zur Bildung notwendig sei, daß einem Menschen, der nichts von Musik versteht, viele Genüsse entgehen, so antworten wir: gewiß, die Musik gehört mit zu den Gegenständen der ästhetischen Bildung, laßt eure Kinder also in Musik unterrichten; aber, wenn sie kein Talent zur Ausübung derselben haben, so sei dieser Unterricht ein ähnlicher wie der in Litteratur, bei der auch der Anspruch nicht erhoben wird, daß jeder, der sich damit beschäftigt, selbst schriftstellere oder dichte. Jede Fortbildungsschule sollte einen Kursus Musikgeschichte in sich aufnehmen; und wie bei der Litteraturgeschichte die verschiedenen Dichterschulen durchgenommen und charakterisiert werden, wie man Proben aus den Werken der Dichter vorliest, so sollten auch die verschiedenen Richtungen in der[317] Musik klargelegt und die Hauptvertreter derselben in ihren Werken durch Spiel und Gesang vorgeführt werden. Vereinigten sich nur einige Mütter, um ihren Töchtern auf diese Weise eine wirklich musikalische Bildung geben zu lassen, die ihnen dauernd Freude an der Musik gewährte (während die jungen Damen jetzt ihr Klavierspiel meist nach der Verheiratung aufgeben), so würde sich dieser Unterricht bald als notwendiger Teil der Erziehung einbürgern, das Musikverständnis – und damit die gute Musik – würde damit gefördert und die bis zur öffentlichen Kalamität angewachsene unberufene Ausübung der Musik würde mit der Zeit schwinden.

Die wahren Jünger dieser hohen Kunst aber mögen auch ferner unsere Geselligkeit erheitern; nur bitten wir sie, dann nicht, wie manche es lieben, sich erst eine Viertelstunde lang nötigen zu lassen, um dann, wenn sie einmal am Klavier sitzen, kein Ende finden zu können. Will und kann man etwas vortragen, so thue man es gleich nach der ersten Aufforderung in freundlicher und bescheidener Weise und wähle keine zu lange Pièce, um die Aufmerksamkeit der Gäste nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Andererseits ist es von diesen sehr rücksichtslos, wenn sie, nachdem sie dem Anschein nach sich lange nach dem Genuß gesehnt, nun er ihnen gewährt wird, untereinander flüstern; selbst wenn man gar nichts von dem Vortrag versteht, oder die Leistung höchst kläglich ist, verlangt die Höflichkeit doch, daß man sich gänzlich still verhält.

Da nun aber gegenseitige Unterhaltung das Hauptziel der Geselligkeit ist, so hat die Wirtin sich zu hüten, zu viel Zeit der Musik zu widmen; die einen oder anderen leiden immer darunter. Fast scheint es überflüssig, sie zu erinnern, nicht ihre eigenen, noch in den Anfängen steckenden Kinder der Gesellschaft vormusizieren zu lassen; und[318] doch, wie oft kommt auch das vor! »Sie erlauben wohl, daß Annchen Ihnen etwas vorträgt; sie muß sich durchaus daran gewöhnen, vor Fremden zu spielen;« heißt es da. Und Annchen spielt und wird laut gelobt, während man sich leise seine Empörung zuflüstert. Und diese Empörung ist gerechtfertigt, denn seine Gäste zum Erziehungsmittel zu machen und sie mit einer maltraitierten Sonate zu maltraitieren, ist allerdings empörend!

Ueberhaupt, so sehr wir den Genuß schätzen, den gute Musik in geselligen Kreisen gewähren kann, sehen wir doch nicht ein, warum diese Kunst allein für salonfähig gehalten wird. Zur Zeit der »ästhetischen Zirkel« war es gäng und gäbe, auch der Deklamation einen Platz in der Geselligkeit zu gewähren, und jetzt hat man in Paris diese Mode wieder eingeführt. Da scheint uns denn, für einmal, die Nachahmung unsererseits sehr wünschenswert. Warum soll eine junge Dame, ein junger Mann nicht ebensogut eine schöne Dichtung vortragen, wie ein Lied singen oder ein Impromptu spielen? Die Deklamation ist eine Kunst gleich der Musik. Das Talent dafür kann, wie für jene, ausgebildet werden (noch dazu mit geringeren Opfern) und würde eine große Bereicherung unserer Geselligkeit sein. Auch unseren Dichtern würde diese Mode zu gute kommen: man würde ihre Werke mehr beachten und besser kennen lernen, wenn man sie auf diese Weise in den Salon einführte, wo sie nur zu oft ungelesen hinter den Glasscheiben der Schränke ein vergessenes Dasein führen. Schließlich würde dieser Rival dazu beitragen, die zur Tyrannin gewordene Musik in ihre Grenzen zu bannen.

Gut erzählen zu können, gehört auch zu den geselligen Talenten. Natürlich darf man aber keine langen Geschichten vortragen und damit die Aufmerksamkeit monopolisieren; ein kleines Erlebnis, eine Anekdote sind besser[319] dazu geeignet. Und auch für diese muß die Gesellschaft, die Stimmung passend sein: der Anekdotenerzähler, welcher die Gelegenheit, sich zu produzieren, bei den Haaren herbeizieht, ist lächerlich und langweilig zugleich. Damen, zumal junge Damen, sollten sich in gemischter Gesellschaft hüten, viel zu erzählen, selbst wenn sie das Talent dazu besitzen; das längere Alleinsprechen macht leicht den Eindruck des Heraustretens, des Unfeinen und kann ihr schaden.

Ein Talent endlich, oder sagen wir lieber eine Kenntnis, die in manchen geselligen Kreisen sehr geschätzt wird, ist die moderner fremder Sprachen. Gott sei Dank! sind wir über die Zeit hinaus, wo in vornehmen Kreisen die französische Sprache als die allein zulässige betrachtet wurde, und der Deutsche sich seiner Muttersprache schämte; allein während diese Unsitte glücklicherweise nicht mehr existiert, und man auch das Vermischen unseres guten Deutsch mit fremden Brocken nicht mehr schön findet, hat sich eine andere Veranlassung für den Gebrauch fremder Sprachen ergeben: der so außerordentlich gestiegene Verkehr mit Ausländern. In einer größeren Gesellschaft ist es eine Seltenheit, nicht einige Engländer, Amerikaner, wohl auch Franzosen anzutreffen; und da diese Fremden bekanntlich unsere schwere Sprache weit weniger verstehen, als wir die ihre, so werden sie uns meist sehr dankbar sein, wenn wir die letztere mit ihnen reden.

Allein man soll darin nicht zu weit gehen. Es läßt sich doch erwarten, daß Ausländer, die lange Zeit in Deutschland leben, unsere Sprache erlernen, so gut wie wir die ihre erlernt haben. Thun sie das oder versuchen es doch zu thun, dann lassen wir sie geduldig radebrechen und korrigieren sie, falls sie es wünschen, mit Freundlichkeit, mehr, indem wir das falsche Wort richtig wiederholen, als durch direkten Tadel. Ihre Sprache sollten wir nur mit ihnen[320] reden, wenn sie sich in der unseren gar nicht auszudrücken verstehen. Die übermäßige Zuvorkommenheit, Fremde in ihrer Sprache anzureden, zeigt einerseits einen Mangel an Nationalgefühl, andererseits die Eitelkeit, welche mit der Kenntnis jener Sprache prunken will. Am rechten Platz und zur rechten Zeit aber angewandt, kann diese Kenntnis uns wie anderen sehr nützlich und angenehm sein.


Einen willkommenen Beitrag zum Genusse der Geselligkeit liefern endlich noch die


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886, S. 315-321.
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