Kurorte.

[367] Hier ist die Zurückhaltung und Vorsicht, welche wir auf Reisen und im Gasthof überhaupt zu beobachten haben,[367] ganz besonders zu empfehlen. Der Aufenthalt an einem solchen Orte ist meist von längerer Dauer, die Menschen verfolgen, wenigstens dem Schein nach, denselben Zweck, man trifft sich beim Brunnentrinken, auf der Promenade, an der Wirtstafel fortwährend, – so ist eine Annäherung der Gäste sehr leicht, oft kaum zu vermeiden. Da haben denn diese, und besonders Damen, sich zu hüten, daß sie nicht in Verkehr mit Personen geraten, die bei näherer Bekanntschaft sich als ihres Umgangs unwert erweisen. Denn an keinem Ort wohl ist das Publikum ein so gemischtes, wie an einem Badeort. Hat der Ton im ganzen sich auch durch die Abschaffung des Hazardspiels verbessert, so bieten diese Städte doch immer noch einen Sammelplatz für Glücksritter, Abenteurer und Abenteurerinnen aller Art, die sich in Kleidung und Manieren oft so wenig von den Mitgliedern der besten Gesellschaft unterscheiden, daß es bei oberflächlicher Bekanntschaft sehr leicht ist, sich zu täuschen. Mag man also mit dem aufmerksamen Nachbar beim Mittagstisch oder der liebenswürdigen Dame, die stets gleichzeitig mit uns ihren Brunnen trinkt, immerhin ein paar Worte wechseln, auch die Namen austauschen; aber ehe man sich auf Verabredungen zu Spaziergängen, zu Partien einläßt, erkundige man sich näher nach den Betreffenden, und fallen diese Erkundigungen nicht günstig aus, so ziehe man sich mit Vorsicht, ohne Eklat zurück.

Muß man junge Mädchen nach einem Kurort schicken, so wird man sie entweder der Obhut von Bekannten, die dorthin reisen, anvertrauen, oder einer dort wohnenden Familie. Mit diesen können sie dann die Vergnügungen des Orts genießen, müssen aber hinsichtlich der Bälle noch mehr Vorsicht beobachten, als dies bei anderen öffentlichen Tanzgesellschaften schon ratsam ist. Natürlich werden sie mit keinem Herrn tanzen, der ihnen nicht vorgestellt ist,[368] sich von keinem Erfrischungen reichen oder in den Pausen umherführen lassen, den sie nicht näher kennen. Auch wähle die junge Dame ihre Toilette zwar elegant, aber einfacher, als dies zu Hause nötig wäre; obgleich für den Ball bestimmt, trage sie kein Kleid mit ausgeschnittener Taille und kurzen Aermeln, sondern ein halbhohes mit den jetzt beliebten, bis an die Ellbogen reichenden Aermeln. – Man behauptet, daß Mütter ihre Töchter zuweilen ins Bad schicken, um sich dort – nicht Gesundheit – sondern einen Gatten zu suchen. Hielten wir aber die Ballverlobungen und Ballheiraten überhaupt schon für mißlich, so haben wir zu den aus einer Badebekanntschaft und den Bällen im Kursaale hervorgehenden erst recht kein Vertrauen!

Es ist eine glänzende, blendende, aber eine täuschende Welt, die Welt der Kurorte. Der Schein ist Herrscher an diesen Stätten eines bunten Völkerverkehrs; mehr als anderswo trifft es hier zu, daß Kleider Leute machen, und die Oberflächlichkeit feiert hier ihre schönsten Triumphe. Mit ihr Hand in Hand geht dann die médisance (der französische Ausdruck ist hier am Platz: Klatschsucht würde für jene »seinen« Leute zu ordinär sein!) – man hat ja nichts zu thun, man langweilt sich, also beobachtet man einander, kritisiert einander, verleumdet einander. Wenn die schöne Welt sich auf der Promenade erlustigt, die einen an kleinen Tischen ihren Kaffee trinkend, die anderen bei den Klängen der Musik auf- und abwandelnd, dann erscheint dem objektiven Zuschauer das Ganze oft wie ein großes moralisches Spießrutenlaufen, bei dem jeder Vorübergehende von dem Sitzenden – aber auch vice versa – einen Hieb erhält. Und dazwischen die Kranken auf Krücken einherwankend, in Fahrstühlen geschoben, oder bleich und elend in das Getriebe hineinschauend; und über dem allem der blaue Sommerhimmel, und ringsum die herrlichen Umgebungen,[369] die prächtigen Bäume, die Blumenbeete: es ist ein buntes, schillerndes Bild in prächtigem Rahmen. Ein Bild unserer Civilisation: mannigfaltig, farbenreich, neben Prunk und Glanz das herzzerreißendste Elend; aber der Glanz wie das Elend sind oft nur nachgemacht, nur Schein. Der gebildete Mensch jedoch wird auch hier seinen Platz finden, auch hier seinen Weg ruhig und unbeirrt zu gehen wissen.

Fußnoten

1 Siehe S. 47.


Quelle:
Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft. Stuttgart 1886.
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