2. In Bezug auf die zweite Wahrnehmung.

[420] Da, wie wir oben erkannt haben, es unter den Menschen weder Engel noch Teufel gibt; da sogar die Halb-engel auf der einen und die Halbteufel auf der andern Seite zu den außerordentlichen Seltenheiten der Natur gehören, und bei weiten die meisten Menschen ein sonderbares Gemisch von Weisheit und Thorheit, von Tugend und Laster sind: so empfehlen sich folgende daraus abfließende Lebensregeln ganz von selbst.

Erstlich: Sei in Beziehung auf die Menschen mäßig in deinen Erwartungen und mäßig in deinen Besorgnissen; und hüte dich in Ansehung beider vor allem, was überspannt und übertrieben ist. Um Gottes willen erträume dir keine Schäferwelt; keine Idyllenmenschen mit zuvorkommender Engelgüte! Du würdest das Urbild dieses Traumgesichtes nirgend finden, würdest bald mit Schrecken daraus erwachen, und je höher deine Erwartungen gespannt gewesen wären, desto schmerzhafter würde dir die Entdeckung des Irrthums sein. Führt dein gutes Schicksal dich zu guten, herzlichen, edlen Menschen, freue dich deines Glücks, schätze und liebe sie, wie sie es verdienen; aber hüte dich, sie nun gleich für höchst vollkommene und übergütige Wesen zu halten.[421] Denke vielmehr: auch sie sind Menschen, wie ich; auch sie werden daher, bei allem ihren Guten, doch zuverlässig auch ihre Fehler und Mängel haben, wie ich. Nach und nach werde ich auch mit diesen zuverlässig bekannt werden; aber das soll mich nicht befremden, und das soll mich nicht abhalten, sie auch künftig eben so herzlich zu lieben und zu schätzen, als jetzt. Lieben sie doch mich, der ich meine Fehler und Mängel gleichfalls habe! Und wie sollte ich so unbillig sein einen Grad von Vollkommenheit an Andern zu fodern, den ich selbst nicht aufweisen kann! Führt hingegen ein widriges Geschick dich mit Menschen in Verbindung, welche wirtlich schlechter sind, oder schlichter zu sein scheinen, als du: denke nicht gleich, wie die jungen Feuerköpfe zu thun pflegen, daß die Hölle sich geöffnet, einen Theil ihrer Bewohner ausgespien habe, und daß du verurtheilt seist, von ihnen gemartert zu werden! Denke vielmehr: diese Menschen haben, wie ich sehe, etwas andere Fehler, als ich; vermuthlich haben sie auch andere Tugenden, als ich: wer vermags zu sagen, auf welcher Seite das Uebergewicht des Guten sei? Daß ich jetzt nur erst ihre Fehler und Untugenden, aber noch nicht all ihr Gutes sehe, das mag vielleicht von den Blendungen meiner Eigenliebe, das mag vielleicht daher rühren, daß ihre Fehler und Untugenden sich auf mich beziehen, ihr Gutes aber nicht. Sie sind doch Menschen, wie ich nicht läugnen kann; gewiß haben sie also, bei allem[422] Bösen, was ich an ihnen zu bemerken glaube, auch ihre gute Seite. Ich will nicht müde werden, diese zu suchen; und habe ich sie gefunden, so will ich meine Aufmerksamkeit ohne Unterlaß mehr auf diese, als auf ihre fehlerhafte Seite heften. Dann werden sie mir von Tage zu Tage erträglicher werden; dann werde ich sie am Ende wol gar noch lieben lernen; und auch sie, wenn sie sehen, daß ich ihnen Gerechtigkeit widerfahren lasse, und daß ich aus allen Kräften dahin strebe, mich ihnen gefällig zu machen, werden mich wol auch noch lieb gewinnen.

Bei einer solchen gemäßigten und billigen Denkungsart wirst du, wohin die Vorsehung dich auch führen wird, überall Menschen finden, mit denen du nicht allein ruhig und friedlich, sondern auch vergnügt und freundschaftlich wirst leben können. Man verlange nur nicht mehr in ihnen zu besitzen, als man in seiner eigenen Person bezahlen kann: und man wird überall seinen Mann finden. Es ist ein eben so bekanntes, als wahres Wort: wer keinen Freund hat, der verdient auch keinen zu haben.


Zweitens: Lerne – denn es ist zu deiner Glückseligkeit unentbehrlich – auch die Thoren, die Narren und die lasterhaften Menschen insofern ertragen, daß du, wenn es sein muß, mit ihnen[423] umgehen und Geschäfte mit ihnen betreiben könnest, ohne dabei von ihren Thorheiten, Narrheiten und Lastern, in sofern sie nicht zur Sache gehören, dem Ansehn nach, Kenntniß zu nehmen. Das heißt nicht, daß du Leute dieses Gelichters zu deinen Vertrauten und Freunden, im eigentlichen Sinne des Wortes, machen sollst; es heißt auch nicht, daß du ihnen da, wo es mit Schicklichkeit geschehen kann, nicht klüglich auszuweichen und dich in möglicher Entfernung von ihnen halten dürfest; nein! es heißt bloß, daß du, bei dem eifrigsten eigenen Bestreben, so weise und gut, als möglich, zu werden, diejenigen, welche den entgegengesetzten Weg einschlagen, im Stillen bemitleiden, öffentlich aber dulden sollst, ohne ihnen durch bezeigten Unwillen den Krieg zu erklären. Die Gründe, worauf diese Klugheitsregel beruht, sind folgende: 1. weil die Schaar der Thoren, der Narren und Lasterhaften zu groß und mächtig ist, als daß ein einziges besseres Einzelwesen (Individuum) es mit ihnen ausnehmen könnte; 2. weil die Glieder dieser mächtigen Schaar sich durch alle Stände zu sehr verbreitet haben, als daß es für Einen, der nicht in die Einöde zu entfliehen Lust hat, thunlich wäre, ihnen überall – sei's in Gesellschaft, sei's in Geschäften – beständig auszuweichen und sich fern von ihnen zu halten; 3. weil der Weise es sich zum Grundsatze macht, alles, was nicht von seiner Wahl[424] abhängt, und das er also auch nicht ändern kann, so zu nehmen, wie es ist, und den möglich größten Vortheil für sich und die menschliche Gesellschaft daraus zu ziehen; und 4. weil auch dieser Ausschuß der menschlichen Gesellschaft doch noch immer das hohe, obgleich verzerrte und halbverwischte Bild der Menschheit an sich trägt, also auch noch immer eine oder die andere menschliche Kraft, Fertigkeit, Brauchbarkeit und Tugend besitzen muß, welche geschätzt und benutzt zu werden verdient. So wie in der ganzen Körperwelt nichts durchaus Schädliches oder durchaus Unnützes gefunden wird, sondern vielmehr jedes Ding und Wesen, vom Elefanten bis zum kleinsten Kerbthierchen (Insekt), von der Ceder bis zum verächtlichsten Unkraute hinab, für den, der die Eigenschaften desselben auszuspähen versteht, seinen guten Nutzen haben kann: so gibt es sicher auch in der ganzen Geisterwelt kein so verderbtes, verworfenes und unnützes Geschöpf, dem nicht noch eine oder die andere gute Eigenschaft beiwohnen sollte, die der Weise, der sie ausfindig zu machen weiß, benutzen könnte. Die Kunst ist nur, die gute und brauchbare Seite der Menschen auszuforschen. Daß jeder solche wirklich habe, ist gewiß; daß sie also auch gefunden werden könne, hat keinen Zweifel; und daß es sich der Mühe wol verlohne, sie aufzusuchen, kann ich aus vielfältigen Erfahrungen dich versichern. Oft sind die Dienste, die ein für albern, dumm oder böse gehaltener[425] Mensch unter gewissen Umständen uns leisten kann, beträchtlicher und schätzbarer, als alles, was wir unter den nämlichen Umständen von klügern und geschätztern Leuten hätten erhalten können. Hieraus folgt denn


Drittens: Daß uns keines Menschen Wohlwollen gleichgültig sein müsse; daß wir vielmehr, weit entfernt irgend Jemandes Zuneigung zu verschmähen oder muthwillig zu verscherzen, uns vielmehr, so weit es ohne Niederträchtigkeit geschehen kann, bestreben müssen, auch die des geringsten und unbedeutendsten, ja wenn's möglich ist, selbst die der bösen Menschen zu erwerben und zu erhalten. Die Gründe dieser Regel liegen schon in dem Obigen; und zur Erläuterung derselben kann die bekannte Fabel von der Maus und von dem Löwen dienen. Ich brauche nur noch Folgendes hinzuzufügen: wenn es gleich in einzelnen Fällen noch zweifelhaft ist, ob Dieser oder Jener, den du dir verbindest, dir jemahls werde dienen können: so ist es doch in keinem Falle zweifelhaft, sondern vielmehr völlig gewiß, daß Jeder, auch der Armseligste, auch der Verworfenste, den du dir zum Feinde machst, dir über kurz oder lang werde schaden können. Und du mußt wissen, mein Kind, daß bei den allermeisten Menschen[426] die Rachbegierde viel stärker und länger wirkt, als der Trieb zur Dankbarkeit. Manche Wohlthat und manche Gefälligkeit, die du Andern erweisest, wird unerwiedert vergessen, vielleicht mit Undankbarkeit belohnt werden; jede Beleidigung hingegen, deren du dich vorsätzlich oder unvorsätzlich schuldig machst, wird über kurz oder lang, auf eine oder die andere Weise, aller Wahrscheinlichkeit nach, dir doppelt und dreifach wieder vergolten werden. Nimm auch dis so lange auf mein Wort für Wahrheit an, bis eigene Erfahrung und Menschenkenntniß dich davon überzeugen werden.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 420-427.
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