Von der Lebensart im Allgemeinen.

[20] Man muß die Lebensart nicht mit der bloßen Höflichkeit verwechseln.

Die Höflichkeit ist nichts als ein bloß physisches Ceremoniell, nach dessen Vorschriften man grüßt, lächelt, sich verbeugt, und dieß Alles aus Pflicht, beinahe aus Nothwendigkeit, ungefähr so wie ein Zappelmann, an dessen Faden man zieht. Es ist daher auch möglich, alle Gesetze der Höflichkeit pünctlich zu beobachten und dennoch hier oder dort gegen die Regeln der Lebensart zu verstoßen, denn bei dieser kommt es oft nicht sowohl darauf an, was man thut, als vielmehr darauf, wie man es thut.

Die Kenntniß der Lebensart ist dagegen eine Aufgabe für das ganze Leben, und wenn die Lebensart auch der Höflichkeit insofern verwandt ist, als ein Mensch, der wirkliche Lebensart besitzt, nie und gegen Niemand unhöflich sein wird, so steht sie doch weit über derselben; denn ein Mensch von Lebensart kennt die Welt mit ihren[20] Anforderungen und ihrer Reizbarkeit; er kennt die Abstufungen und Nüancirungen der Höflichkeit, die er gegen diese oder jene Person zu beobachten hat; der Mann von wahrer Lebensart – und nur von solcher kann stets die Rede sein, wenn wir überhaupt von Lebensart sprechen, – ist nicht nur einfach, bescheiden, verschwiegen, gefällig und rechtschaffen, sondern er ist auch liebenswürdig, denn von der Lebensart ist der Wunsch und das Bestreben, zu gefallen, unzertrennlich.

Die Lebensart besitzt weder den Rigorismus eines Cato, noch die Pedanterie eines Cleontes; sie ist nicht menschenfeindlich gesinnt, sondern es schwebt im Gegentheil beständig ein freundliches Lächeln um ihre Lippen. Sie ist stets bereit, Gefälligkeiten zu erweisen und Verpflichtungen aufzuerlegen, und die Welt ist für sie ein weites Feld, auf dem sie Freunde erntet. Es gelingt ihr Alles, denn das Bestreben ist allgemein, ihr durch Gegengefälligkeiten zu vergelten. Sie hat niemals irgend Jemand etwas in den Weg gelegt, hat keine Meinung gekränkt, kein Vorurtheil verletzt, und es sind ihr daher alle Herzen geöffnet. Da man ihre Verschwiegenheit kennt, verbirgt man sich nicht vor ihr; man flüstert bei ihrer Annäherung nicht leise untereinander, man fürchtet sie nicht, denn man liebt sie. Niemals stört die Lebensart ein tête-à-tête; sie setzt sich nicht der Gefahr aus, mit den Ueberlästigen verwechselt zu werden; sie flüstert nie in die Ohren; sie klopft nie grob auf die Schulter, noch drückt sie jemals die Hände so derb, als wollte sie dieselben zerquetschen. Ihre Freundschaftsversicherungen sind aufrichtig, ohne deßhalb lärmend zu sein. Ihre Galanterie gegen die Damen ist keine knechtische Unterwürfigkeit. Sie ist stets würdevoll und rechtlich und fürchtet weder den Neid, noch die Verleumdung.

Die Lebensart besudelt ihren Mund nie durch die Lüge. Sie ist freimüthig, aber sie mißbraucht die Freimüthigkeit nicht. Sie ist eben so wenig ein Heuchler mit zwei Larven und zwei Gesichtern; was sie Morgens verspricht,[21] hält sie Abends; ihr Wort ist so gut, wie eine Schrift, und Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind ihre geringsten guten Eigenschaften. Sie beobachtet viel, spricht aber wenig und stets mit Einfachheit und ohne gesuchte Ausdrücke. Sie treibt keinen Mißbrauch mit lateinischen oder griechischen Citaten und spricht weder von ihren Reisen, noch von ihren Arbeiten oder Plänen. Nie drängt sie ihr eigenes Ich in den Vordergrund oder stellt sich gewissermaßen selbst zur Schau.

Die Lebensart läßt nie den eigenen Geist leuchten, sondern strebt vielmehr danach, den Anderer glänzen zu lassen. Sie kleidet sich einfach, denn alles Uebertriebene grenzt an das Lächerliche und ihre Bescheidenheit verbietet ihr, sich durch den Anzug bemerkbar zu machen. Sie läßt sich nicht wie ein junger Tollkopf zum Enthusiasmus hinreißen, bleibt aber auch eben so wenig kalt, wie ein Gleichgültiger. Sie versteht es, mit Aufmerksamkeit zuzuhören, wenn Andere sprechen, und wenn sie selbst spricht, ist sie in Allem, was sie sagt, so deutlich und verständlich, daß man ihr selbst dann noch zuhört, wenn sie bereits aufgehört hat zu sprechen.

Ohne eben Spieler zu sein, kennt die Lebensart so ziemlich alle Gesellschaftsspiele und macht mit dem Greise eine Partie Whist oder Boston, während sie ebenso mit dem jungen Manne eine Partie Billard spielt. Sie ist unterrichtet und kennt die Meisterwerke der Künste, wie die der Dichtkunst. Sie kritisirt auf eine feine, nie verletzende Weise die Tageserscheinungen, während sie ihr Lob ebenso verständig als zurückhaltend zu spenden weiß. Sie führt zuweilen die Feder, doch nur zur Beförderung menschenfreundlicher Zwecke; sie schreibt auch zuweilen kleine Artikel für Zeitschriften, sowie dann und wann eine Novelle, die ein Muster der Moral und voll Geist sein muß, und die den Zweck hat, Irrende auf den rechten Weg zurückzuführen.

Der Mann von Lebensart kann zuweilen ein Opfer derselben werden; denn wenn er auch alle schlechten[22] Sachen flieht, so vertheidigt er doch die gerechten, besonders aber die Ehre der Frauen, und weiß dem groben Menschen, wenn es sein muß, eine Lehre in der Höflichkeit zu geben.

Die Lebensart verspottet kein körperliches Gebrechen, spricht nicht der Kreuz und der Quere über Politik, raucht nicht wie ein Grenadier und weiß sich selbst Achtung zu gewinnen, indem sie allen Andern die gebührende Achtung erweis't.

Das ist so ungefähr die Schilderung eines Mannes von Lebensart, den wir allen Denen als Muster aufstellen können, welche der Welt durch ihr Benehmen und ihre Lebensart zu gefallen wünschen.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 20-23.
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