4) Der Heuchler.

[71] Die Heuchelei ist ein fortwährender Betrug, der weniger darin besteht, seine Fehler und Laster zu verbergen, als mit guten Eigenschaften und Tugenden zu prunken, die man nicht besitzt. Es ist ganz natürlich, seine Fehler zu verbergen und die Offenherzigkeit oder die Freimüthigkeit dürfen nicht so weit gehen, aus dem Gesellschaftssaale einen Beichtstuhl zu machen. Ja, noch mehr, ein Mensch, der seine Fehler verbirgt, beweis't eben dadurch, daß er sie erkennt, und diese Erkenntniß ist der erste Schritt zu ihrer Ablegung.

Aber der, welcher in dem Umgange mit der Welt Tugenden erheuchelt, die er nicht besitzt, ist ein gefährlicher Betrüger, welcher sich aus eigennützigen Absichten bemüht, seine Nebenmenschen zu täuschen und zu hintergehen.

Man erkennt den Heuchler leicht an seinen Augen, die er beinahe immer zu Boden richtet, weil er den forschenden Blick des Rechtschaffenen nicht zu ertragen vermöchte. Dabei zeigt er ein bescheidenes Wesen, das er im Fall des Bedürfnisses bis zur Demüthigkeit zu steigern versteht, um den egoistischen Stolz zu verbergen, von dem er verzehrt wird. Seine Worte sind sanft und eben so honigsüß, als falsch; seine Bewegungen sind schüchtern, sein Gang ist ernst und abgemessen und nur selten lockt ein[71] Scherz oder ein Witz das Lächeln auf seine zusammengekniffenen Lippen.

Der Heuchler ist ein um so gefährlicherer Mensch, da er sich überall einzuschleichen und jedes Gewand anzulegen weiß, stets im Dunkeln handelt und es größtentheils, wenn man ihn erkennt, nicht mehr Zeit ist, sich vor ihm in Acht zu nehmen.

Der Heuchler wird indeß früher oder später jederzeit entlarvt und fällt dann gewöhnlich als Opfer seiner eigenen Betrügereien.

Die Rolle eines Heuchlers ist die nichtswürdigste, die man in der Welt spielen kann.

Wenn die Heuchelei mit darin besteht, Tugenden zu zeigen, die man nicht wirklich besitzt, so ist doch der Heuchler oft daran zu erkennen, daß eben seine Unkenntniß dieser Tugenden ihn zu einer Uebertreibung derselben verleitet.

Niemand urtheilt strenger über die Vorschriften und Grundsätze der Rechtschaffenheit, als ein Schelm, der sich den Schein eines ehrlichen Mannes geben will.

Es giebt allerhand Heuchler; die strafbarsten sind die, welche Gott zum Schilde ihres heuchlerischen Treibens machen.

Man fliehe alle Heuchler, welcher Gattung sie auch angehören mögen; denn sonst wird man jedenfalls ihr Opfer.

Einem Heuchler wird weder von Gott, noch von den Menschen seine Falschheit verziehen.

Man kann an die Reue eines Mörders glauben, doch nie darf man der eines Heuchlers trauen.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 71-72.
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