Fünftes Kapitel.
[220] Gutzkow. – Agnes Schebest. – Dreyschock. – Eine Laroche-Anekdote. – Wilhelmine Schröder-Devrient. – Die »Braut von Messina« als Oper.

Noch eine interessante Persönlichkeit sollte ich in diesem Jahre kennen lernen. Karl Gutzkow hatte sich den Schauspielern wohl zunächst durch seinen »Richard Savage« bekannt gemacht. Mit großem Interesse hatte ich bereits seinen Roman »Wally« gelesen und war begierig auf die persönliche Bekanntschaft. Er war gekommen, dem Schauspielerpersonal den »Richard Savage«, der in kurzem auf unserer Bühne zur Darstellung kommen sollte, vorzulesen. Die äußere Erscheinung des jungen, damals in den Zwanzigern stehenden Mannes war anziehend und entsprach wohl dem Bilde, das ich mir von ihm gemacht hatte: lichtblaue Augen und blondes Haar, eine seine, etwas gebeugte Gestalt, die Züge des Gesichts edel geformt. Die Art und Weise, mit welcher er sein Stück vortrug, war markig und geistreich; besonders gut gelang ihm die seine Nuancierung des sarkastisch-humoristischen Charakters des Steele.

Das Stück wurde am 18. September 1839 zum erstenmal auf Weimars Bühne mit großem Beifall aufgeführt[220] und erlebte in kurzer Zeit vier Wiederholungen. Im Frühjahr darauf gab man auch Gutzkows »Werner, oder Herz und Welt«, das ebenfalls Beifall fand.

Das Jahr beschloß ein Gastspiel der gefeierten Sängerin Agnes Schebest, währenddessen auch der Klaviervirtuos Alexander Dreyschock zwei Konzerte gab.

Erstere hatte ich im Jahre 1832 in Dresden kennen gelernt, wo sie teilweise das Fach der Schröder-Devrient vertreten mußte, die sich zu jener Zeit in London befand.

Die Schebest war von Wien nach Dresden gekommen und dort für den Chor und kleine Partien engagiert worden. Die Natur hatte sie mit einer wohlklingenden Mezzo-Sopranstimme, dramatischem Talent und einer schönen Persönlichkeit ausgestattet. Die Abwesenheit der Schröder-Devrient führte bezüglich des Repertoires Verlegenheiten herbei, und die Direktion scheute sich nicht, das arme junge Mädchen zur hohen Sopranistin stempeln zu lassen. Natürlich mußte jedem Sachverständigen einleuchten, daß mit der Zeit bei solchem Verfahren ihre klangvolle Stimme leiden würde, und dies wurde mir bei ihrem Gastspiel in Weimar bestätigt. Das obere Register hatte einen schneidenden Ton angenommen, und die Mitteltöne entbehrten des früheren sonoren Klangs. Dazu kam noch ein fortwährendes Tremulieren, das sie mir für Kunst ausgeben wollte, die sie sich mit vielem Fleiß in Paris angeeignet; in Wahrheit aber konnte sie nicht mehr anders; ihre Stimmbänder hatten durch die übermäßige Anstrengung die Spannkraft verloren. Im übrigen war sie eine tüchtige Sängerin geworden, was sie in den drei Rollen, die sie uns vorführte – Sextus, Fidelio und Alice in »Robert der Teufel« – bewies. Ihre poetische Auffassung der verschiedenen Rollen bekundete in hohem Maße ihren dramatischen Beruf, weshalb auch das Publikum ihre Leistungen mit großem Beifall aufnahm.[221]

Der zweite Gast, Alexander Dreyschock, überraschte und entzückte den größten Teil des Publikums durch die Neuheit seines Spiels und seiner Kompositionen. Als etwas noch nie Dagewesenes wurden seine Variationen für die linke Hand betrachtet; dieses Wunder: für die linke Hand allein, auf Wunsch des Komponisten mit großen Lettern als Aushängeschild auf das Programm gesetzt! Solche Ankündigungen waren beim Weimarschen Hoftheater nicht üblich; das große Publikum sperrte ob dieses Wunders Maul und Nase auf; andere lächelten freilich über dieses Kunststückchen und dachten mit Wehmut an Hummels unübertreffliches Spiel, der uns leider am 17. Oktober 1837 durch den Tod entrissen worden war. Der Jubel war aber unermeßlich, den das Kunststück bei dem großen Haufen hervorbrachte, und stürmisches da capo erfolgte. Diese kleinen Koketterien abgerechnet, war Dreyschock ein liebenswürdiger junger Mann und Meister seines Instruments.

Wie leicht übrigens ein Publikum durch Ungewöhnliches irre werden kann, davon möge nachstehende Anekdote zeugen. In dem schauerlichen Melodrama »Die Waise und der Mörder« spielte Laroche den Reimbeau, ich den Marcial. Der Reimbeau gehörte eben nicht zu Laroches Lieblingsrollen; daher kam es denn, daß er der Worte nicht ganz mächtig war und öfters sein Ohr lauschend nach dem Souffleur richtete, besonders in einer Szene mit Marcial, wo beide einander beobachten und auszuholen suchen. Mitten im Dialog sah er mich plötzlich prüfend an und flüsterte mir leise zu: »Na, so sprich doch!« Ich erwiderte mit gleich prüfendem Blick: »Nein, du hast zu sprechen.« Dann schlug er die Augen nieder zum Souffleurkasten und sagte hauchend: »So soufflieren Sie doch! Sie....!« Er wußte seinem Mienenspiel einen so besonderen Ausdruck zu geben, daß ich mir alle Mühe gab, nicht zurückzubleiben. Dieses stumme Spiel, welches das[222] Publikum mit aufmerksamer Stille begleitete, mochte wohl eine Minute gedauert haben. Das Resultat bei unserem Abgang war ein stürmischer Applaus. Was eigentlich dem Publikum zugekommen wäre, übernahmen wir hinter der Szene und brachen in ein höllisches Gelächter aus, wobei Laroche sagte: »Na siehst du, Junge! Was willst du mehr?«

Im Jahre 1840 erfreute uns Wilhelmine Schröder-Devrient in Weimar mit einem Gastspiel. Einundzwanzig Jahre waren damals vergangen, seit diese große Künstlerin am 13. Oktober 1819 in Schillers »Phädra« als Aricia im Hofburgtheater in Wien zum ersten Male aufgetreten war. Im Jahre 1821 vertauschte sie das Schauspiel mit der Oper, nachdem ihre schöne Sopranstimme durch einen tüchtigen deutschen Singmeister, Joseph Mozatti, der aus altitalienischer Schule hervorgegangen, gebildet worden war, und debütierte als Pamina in der »Zauberflöte«. Kaum zehn Jahre später hatte sich Wilhelmine einen ruhmgekrönten Namen erworben, dessen Ruf in den dreißiger Jahren die deutschen Grenzen überschritt.

Bei uns trat sie jetzt zuerst als Romeo in »Montecchi und Capuletti« auf. Man hatte das Abonnement zu all ihren Vorstellungen aufheben müssen, so groß war der Zudrang des einheimischen wie auswärtigen Publikums. Wochenlang vorher war kein fester Platz mehr zu haben. Mit Bewunderung und innigster Freude sah ich, welche erstaunlichen Fortschritte die Frau in einem Zeitraum von neun Jahren – so lange hatte ich sie auf der Bühne nicht gesehen – als Künstlerin gemacht hatte. Ihr Rezitativ, – die größte Schwierigkeit, die ein dramatischer Sänger überwinden muß, – stand nun auf der höchsten Stufe der Vollendung, und ich habe nie, weder von den berühmtesten italienischen noch deutschen Sängerinnen, solche musikalisch-charakteristische Deklamation gehört. Mit der Sicherheit eines kräftigen Jünglings, der[223] seines Wertes sich bewußt ist, betrat sie als Romeo die Bühne. Weder ihr Wuchs, noch ihre Bewegungen verrieten das Weib, wenn das nicht ihr liebliches Gesicht und ihre Stimme getan hätten. Ihr Kostüm bestand aus einem Überwurf von rotem Samt mit Fütterung und Umschlag von weißem Atlas, einem violett-samtenen Kollett, weißseidenen Trikots und weißen Atlasschuhen. Auf dem blonden Lockenhaupt trug sie ein kleines schwarzes Barett mit einer wallenden weißen Feder. Durch diese Tracht kündigte sie sich als Gesandten des Friedens, nicht des Kriegs an, wie andere Darstellerinnen dieser Rolle, die in voller Rüstung erschienen.

Die Krone ihrer Darstellung war der letzte Akt, wo sich Glanzpunkt an Glanzpunkt reihte. Ich habe außer ihr keine Sängerin gesehen, die das Seelenleben Romeos an der Leiche Julias so zur Anschauung zu bringen wußte, von keiner außer ihr den weinenden Schmerz in den beiden kleinen Andantes: »Nimm auch die Meinen« und: »Wach, o erwache!« ausführen hören, ohne daß der Klang des Tons nur im geringsten beeinträchtigt worden wäre. Nachdem sie das Fläschchen geleert, trat sie von den Stufen des Sarkophags herab und ging während des Paukenwirbels, der so lange ausgedehnt werden mußte, bis sie das gegenüberliegende Denkmal erreicht hatte, auf welches sie sich stützte, langsamen Schrittes über die Bühne. Die Haltung des Körpers war erschlafft, der Kopf gesenkt, sie richtete ihn aber bei dem Aufseufzen Julias rasch empor, und bei den Worten »Welcher Seufzer?« sah man ihren Augen und Zügen an, daß sie den Laut für einen überirdischen hielt. Bei dem Namen »Romeo« blickte sie freudestrahlenden Auges empor, und mit zitternder Stimme sang sie »Gott, ihre Stimme!« und als der Ruf Julias zum zweiten Male erscholl, malte sich in ihren Zügen ein seliges Entzücken, und mit ausgebreiteten Augen rief sie: »Sie ruft mich, Giulietta rufet mich!« Wer aber vermag das Entsetzen[224] zu schildern, das sich in ihren Zügen aussprach und in dem zitternden Körper fortpflanzte, als sie Julia lebend vor sich sah? Ihren Augen nicht trauend, stürzte sie wankend auf Julia zu, umfaßte sie, um sich zu überzeugen, daß es kein Traum sei, und als sie von Julia erfuhr, daß diese nur zum Schein im Tode lag, war der Ausruf: »Ha, was sagst du?« markerschütternd. Das darauffolgende Rezitativ sang sie mit fliegender Eile, nur die Worte »Ich Unglücksel'ger!« sprach sie in gebrochenem Tone. Die ersten acht Takte des Andante sang sie mit tränenweicher Stimme; erst bei den Worten »Laß mich aus Herz dich drücken« wurde ihre Stimme schwächer, und durch momentanes Zucken ihrer Züge und des Körpers deutete sie die Wirkung des Giftes an. Bei der Stelle: »Ein einzig Wort von dir« raffte sie sich nochmals empor, und mit steigender Angst Julia fest umklammernd, sang sie mit Kraft, als ob das Leben noch einmal den Tod besiege: »Ach, Holde, gedenke mein,« bis sie beim letzten Takt dieses kleinen Duos erschöpft zusammenbrach.

Ihre Darstellung eines an Gift Sterbenden war in physischer Hinsicht ein Meisterstück der Kunst. Sie kam der Natur ganz nahe, ohne die Schönheit zu verletzen. Ich habe sie viermal in dieser Rolle gesehen. Die Grundlage der Charakteristik blieb immer dieselbe, aber wie mannigfaltig schmückte sie den ganzen Bau aus! Darum konnte man sie mit Recht den dramatischen Genies beizählen, die zumeist der Augenblick beherrscht.

Ihre zweite Rolle war die Norma, die man in plastischer Hinsicht vollendet nennen durfte. Von allen Darstellerinnen dieser Rolle hat aber auch keine den Gefühlswechsel von Rachedurst zur innigsten Liebe so zur Anschauung gebracht wie sie. In ihrer Seelenmalerei überstrahlte sie überhaupt alle ihre Zeitgenossen. Auch als Sängerin hatte sie in der Zeit, daß ich sie nicht gehört, große Fortschritte gemacht;[225] ihre Koloraturen waren korrekt geworden. Darin besonders sah man, daß sie mit großem Vorteil die besten italienischen Sängerinnen gehört und von ihnen gelernt hatte. Obgleich sie den Triller nur in mäßiger Geschwindigkeit ausführen konnte, war es doch ein reiner Tonwechsel, der zwei Töne gleichmäßig angebend verband. Als deklamatorische Sängerin stand Wilhelmine schon in der Mitte der zwanziger Jahre über vielen ihrer deutschen und italienischen Genossinnen, jetzt hatte ihr unermüdlicher Fleiß sich auch eine Volubilität des Kehlkopfs angeeignet, die hinreichte, eine Partie wie die Norma in gesanglicher Hinsicht künstlerisch auszuführen.

Unser trefflicher Friedrich Preller, dessen Kartons zu seiner »Odyssee« jetzt das Museum in Weimar zieren, sagte mir nach ihrer Darstellung der Norma, daß sie die Bühne in den schönsten Antikensaal umwandle, denn nie hätte er eine vollendetere Plastik und Mimik gesehen. Als Sängerin wurde sie in »Norma« von Jenny Lind übertroffen, als Darstellerin wurde sie nie erreicht.

Ihre dritte Rolle war die Lady Macbeth in Chelards gleichnamiger Oper. Soweit es der Text möglich machte, suchte Wilhelmine ihre große Mutter nachzuahmen, die in der Shakespeareschen Lady Macbeth unerreichbar dastand. Für mich hatte es etwas Humoristisches, heute den Shakespeareschen Macbeth darzustellen und kurze Zeit darauf den Chelardschen in halsbrechenden Passagen und Trillern dem Publikum vorzusingen. Es war damals förmlich eine Seuche geworden, den klassischen Meisterwerken unserer größten Dichter Noten beizufügen. Indem ich das niederschreibe, erinnere ich mich eines Dilettanten, eines Grafen G., der mit unserem damaligen Intendanten von Spiegel befreundet und auf den tollen Gedanken geraten war, Schillers »Braut von Messina« zu komponieren, ohne ein Wörtchen vom ursprünglichen Text zu streichen. Da ich als Regisseur meine[226] Meinung darüber sagen sollte, so wurde mir die vierbändige Partitur von dem Orchesterdiener ins Haus gefahren, denn tragen konnte der arme Mensch sie nicht, da jeder Akt gegen tausend Seiten umfaßte. Schon die Ouvertüre kündigte mir an, was man zu erwarten habe. Der Auftritt Isabellas wurde mit Pauken und Trompeten angekündigt. »Dich begrüß' ich mit Ehrfurcht,« sang der gesamte Chor mit abwechselnden Solis. Teils war ich empört über die Frechheit, teils amüsierte ich mich ungemein über den naiven Mann. Bis zum Eintritt der fürstlichen Mutter widmete ich diesem Kuriosum meine Aufmerksamkeit, aber von da ab flüsterte mein guter Genius mir zu: Bis hierher und nicht weiter!

Im Jahre 1842 gastierte Wilhelmine Schröder-Devrient abermals in Weimar. Bei ihrem Auftreten im »Fidelio« jubelte ihr alles entgegen. Zwölf Jahre waren verflossen, seit ich sie in dieser Partie gesehen, und obwohl ich den Silberklang ihrer hohen Töne etwas vermißte, hatte sie doch als Darstellerin Riesenfortschritte gemacht. Was früher in charakteristischer Hinsicht in der Entwicklungsperiode stand, war jetzt bis ins feinste Detail vollendet. Wie ganz anders bewegte sie sich als verkleidetes Weib im Gegensatz zu Romeo, wo alle Bewegungen männlicher Natur waren! Neu war für mich die Musterung der Gefangenen, wo sie hofft, ihren Gatten unter diesen zu finden, und nach der Enttäuschung sich verzweiflungsvoll an einen Baum lehnt. Unübertrefflich sprach sie nach Florestans Rede: »O meine Leonore, was hast du um mich gelitten!« die Worte: »Nichts! nichts! Ich habe nichts gelitten!« in denen Jubel und Entzückung unter Tränen sich paarten. Noch beben sie in meiner Seele fort.

Neu war uns ihre Rebekka in »Templer und Jüdin«. Obwohl ihr diese Partie sehr unbequem lag, da sie sich zumeist in den oberen Registern bewegt, so war sie doch eine treffliche dramatische Leistung von ihr. Die Rolle gehörte,[227] wie sie mir selber sagte, nicht zu ihren Lieblingspartien, und ich war eigentlich die Ursache, daß sie dieselbe wählte, weil ich dem Verlangen nicht widerstehen konnte, mit ihr den Bois Guilbert zu spielen. Auf der Probe besprachen wir mehreres über unser Zusammenspiel. Unter anderm schlug ich ihr vor, sie im ersten Finale nicht abzuführen, sondern zu tragen. Sie war damit einverstanden und nahm sogleich eine Probe dieses Manövers vor. Mit der rechten Hand erfaßte sie meine linke Schulter, auf welche sie sich fest stützte, und so machte sie es mir leicht, sie mit meinem linken Arm hoch emporzuheben, so daß ihr Haupt das meinige überragte. Dabei nahm sie natürlich die Gebärden einer Verzweifelnden und nach Hilfe Rufenden an.

Als ich sie in der Kulisse vorsichtig niederließ, sagte sie: »Die Sache kann sich gut machen, aber wenn wir bei der Vorstellung hinpurzeln, so bin ich die erste, die dich furchtbar auslacht, wenn ich mir nicht den Schädel eingeschlagen habe.« Ganz geharnischt trat ich abends bei der Stelle ihr entgegen, und während ich die Worte: »Habe ich endlich dich gefunden,« sang, flüsterte sie mir mit ängstlicher Miene zu: »Du bist ja geharnischt – mit Schild und Schwert! Wie komme ich denn da hinauf?« – »Den Schild werfe ich weg, das Schwert ist meine Balancierstange,« flüsterte ich ihr bei meiner nächsten Pause zu. Sie rang verzweifelnd mit mir. Ich schleuderte sie an meine linke Seite, in dem Moment faßte sie meinen Ringkragen, der ihr als Halt diente, und wie der Blitz saß sie auf meinem Arm. Das Publikum brach bei dem Kunststückchen in lauten Jubel aus, Wilhelmine schrie aber auf: »Au! Die verdammten blechernen Armschienen! Sie drücken mich ja wund!« Ohne zu fallen, gelangten wir wohlbehalten hinter die Kulissen. »Höre, Schwager,« sagte sie hier, »du hast noch gehörige Kraft in deinem fünfundvierzigsten Jahre, denn ich bin eben keine Sylphide.« – »Doch, doch, mein[228] liebes Minchen! Mein Arm hat nur eine Sylphide zu tragen gehabt.« Bei so vielem Trefflichen, was sie auch in dieser Rolle gab, war es besonders ein Moment, der mich entzückte; ich meine die kleine musikalische Phrase: »Was will die arme Jüdin mehr?« In diese wenigen Worte wußte sie alle Empfindung eines verschmähten liebenden Herzens zu legen. Jeder Zuhörer empfand den tiefen inneren Schmerz.

Hier will ich noch einen Zug ihrer unbegrenzten Wohltätigkeit mitteilen. Ein Dorf in der Nähe Weimars, Denstedt, war zur Hälfte abgebrannt. Stabsauditeur Schwabe bat die Devrient in meiner Gegenwart um ihre Mitwirkung bei einem Konzert, das für die Hilfsbedürftigen arrangiert werden sollte, und ich unterstützte diese Bitte. »Ach was,« sagte sie, »das Publikum ist gewohnt, mich auf der Bühne und nicht im Konzert zu sehen und zu hören. Ich habe hier nur auf vier Rollen gerechnet und habe deren fünf gesungen. Nein, lieber Schwabe, ich will den Armen das Honorar, auf das ich nicht gerechnet hatte, schenken; das wird besser helfen als euer dummes Konzert.« Was hätte es ihr für Mühe gemacht, einige Schubertsche Lieder, in deren Vortrag sie unübertrefflich war, zu singen? Sie fürchtete bei dem schönen Wetter wirklich eine karge Einnahme, und deshalb holte sie die 25 Louisdor wieder aus der Tasche und übergab sie Schwabe.

Bevor ich zu ihrem bürgerlichen Leben übergehe, muß ich noch einer Rolle erwähnen, in der ich sie leider nie gesehen, die aber als eine ihrer größten Schöpfungen bezeichnet wurde; ich meine die Donna Anna im »Don Juan«.

Als sie im Jahre 1822 mit ihrer Mutter in Leipzig gastierte, kam ich eines Morgens zu Wilhelminen. Schon auf dem Vorsaal hörte ich sie das Rezitativ der Anna vor der Arie in D-dur singen. Ich blieb lauschend vor der Tür stehen, bis sie dasselbe geendet hatte, dann trat ich ein und[229] bat sie fortzufahren, aber sie kam meiner Bitte nicht nach. Dieses Rezitativ gab mir Anlaß, mich über den Charakter der Donna Anna auszusprechen. Ich erzählte ihr, was mir mein Schwager Karl Unzelmann mitgeteilt, wie seine Mutter, die berühmte Bethmann, den Charakter der Anna aufgefaßt habe. Ganz gegen die hergebrachte Form hätte sie durch Mienen und Gebärdenspiel dem Publikum zur Anschauung gebracht, daß Anna in heimlicher Liebe zu Don Juan entbrannt sei; besonders hätte sie das in der kleinen Prosaszene vor dem Quartett, worin Oktavio Don Juan öfter seinen Freund nennt, angedeutet. Schamvoll hätte sie ihre Augen niedergeschlagen und nur momentan einen Seitenblick auf den Verführer geworfen. Als sie dieser mit den Worten: »Schöne Donna, trocknen Sie Ihre Tränen,« angeredet, wäre sie elektrisch zusammengezuckt, und rasch den Kopf wendend, hätte sie mit zorn- und rachesprühenden Augen den Sprecher angesehen, als wolle sie sagen: »Frevler, noch Hohn und Spott? Zittre vor meiner Rache!« Dann hätte sie sich verächtlich von ihm abgewendet. Vor allem aber hätte sie in dem großen Rezitativ durch Plastik und Mimik ausgesprochen, daß sie das Opfer augenblicklicher Sinnlichkeit geworden und daß die Freveltat nicht nur versucht, sondern vollbracht worden sei. Bei der Erzählung des nächtlichen Abenteuers hätte sie bei den zu ihrer Idee passenden Worten die Augen bald schamvoll gesenkt, bald scheu und verlegen von Oktavio abgewendet, in die Worte: »Fort floh der Bösewicht,« einen bitteren Hohn gelegt, das Folgende in fliegender Eile, nur die Phrase: »Macht sein Verbrechen voll! Häuft seine Missetaten, raubt ihm das Leben!« mit tiefer Bedeutung in breitem Stile vorgetragen. Von da ab hätte sie die erlittene Schmach, die Liebe zu dem verführerischen Manne, die vielleicht früher in ihrem Busen geglüht, abgeworfen, und nur ein Gedanke, der der Rache, hätte ihr ganzes Wesen erfüllt. Nur im Finale[230] des ersten Akts, wo Don Juan sich mit Zerlinen beschäftigt, hätte in den Worten: »Ich sterbe!« ein tiefer Schmerz gelegen. Mit blitzenden Augen hatte Wilhelmine meiner Erzählung zugehört, zuweilen den Kopf schüttelnd, öfter eine beistimmende Bewegung machend. Endlich sprang sie auf und rief voll Feuer: »Das muß ich probieren!« Ich setzte mich ans Klavier, sie stellte sich mir gegenüber und sang. Was ich nur unvollkommen erzählt, verkörperte sie in einer so genialen Weise, daß ich erstaunt und entzückt war. Nach dem Schlusse aber schüttelte sie den Kopf und sprach: »Diese Auffassung widerstrebt dennoch meinem Innern. So sänke ja Anna zu der Stufe hinab, auf welcher Elvira steht, und ich glaube, daß weder der Dichter, noch der Komponist diese Anschauung von Annas Charakter gehabt hat.«

Ich widersprach, und wir hatten eine lange Auseinandersetzung über die Auffassung der Rolle. Meinen Darlegungen hörte Wilhelmine sinnend zu, dann sagte sie: »Ich werde mir die Sache überlegen und kann ich damit fertig werden, das Widersprechende damit in Einklang zu bringen, dann mache ich den Versuch.«

Daß sie später der Ansicht der Bethmann gefolgt ist, beweist mir das Urteil eines maßgebenden Kritikers.

Was ich über Wilhelminens bürgerliches Leben berichten kann, beschränkt sich auf Episoden, da unser Zusammenleben immer nur vorübergehend war.

Kaum neun Jahre alt, war sie dem damals berühmten Kinderballett der Madame Horschelt in Prag übergeben worden, aber trotz aller Leidenschaften, die sie von Kindheit an um sich herum und oft in nächster Nähe zu sehen gewöhnt war, fand ich in ihr ein reines, unbefangenes Gemüt, als sie damals, im Jahre 1822, mit ihrer Mutter und Schwester in Leipzig Gastrollen gab.

Kurz zuvor hatte sie auch in Dresden gastiert. Als sie[231] mit ihren Angehörigen eines Tages bei mir war, um einen solennen Studentenauszug mit anzusehen, zogen manche der jungen Herren und namentlich einer der im vollen Wichs einherreitenden Senioren durch hervorstechende Wohlgestalt die Aufmerksamkeit der Damen auf sich. Es wurde darüber gesprochen und Wilhelmine sagte zu mir: »Der Reiter ist wahrlich ein hübscher Mensch, wenn er nur nicht den zweieckigen Pfannkuchen auf dem Kopfe hätte. (Damit bezeichnete sie den fabelhaften, unter dem Namen Stürmer noch jetzt bekannten Hut.) Kennen Sie Karl Devrient in Dresden?« – »Noch nicht,« erwiderte ich. »Ach, das ist ein bildschöner Mann! In den könnte ich mich sterblich verlieben!« Dies schien mir bereits geschehen zu sein, denn immer lenkte sie das Gespräch auf den »interessanten, wunderschönen Mann«. Nun, im Jahre 1823 wurde sie mit ihrem Idol, wie sie ihn oft nannte, in der Jerusalemerkirche zu Berlin verbunden, um schon nach wenigen Jahren wieder von ihm geschieden zu werden. Sie hat sich bekanntlich noch zweimal verheiratet.

Im Jahre 1819, nach der Trennung von ihrem zweiten unwürdigen Gatten, der sie in Kurland verlassen hatte, schrieb sie an mich von Gotha aus:


Lieber Eduard!

Ich bin hier und wohne bei meiner Schwester Auguste [später Frau Dr. Schlönbach]. Nach Weimar komme ich nicht! Du kennst den Grund! Und doch muß ich einen treuen Freund um mich haben, um mein gequältes, zerfleischtes Herz gegen ihn ausschütten zu können. Nicht wahr, du kommst? Grüße Christel und die Kinder.

Gotha, den 10. Mai 1849.

Deine Wilhelmine.


Ich kam den andern Tag und fand sie gefaßter, als ich erwartet. Wir verabredeten nach Tische einen Spaziergang und wählten die Promenadenwege, die um das Schloß Friedenstein führen. Sie erzählte mir ihre ganze Leidensgeschichte[232] aus dieser unglückseligen Ehe. »Nicht genug,« sagte sie, »daß er mich um mein ganzes bares Vermögen gebracht, nein, als ich in Mitau, wenn ich nicht irre, ein Konzert gab, hatte er unterdessen meine ganzen Habseligkeiten, Schmuck, Kleider usw. eingepackt und war damit in meinem eigenen Wagen entflohen. Ich hatte nichts mehr, als was ich auf dem Leibe trug, und das Honorar vom Konzert.«

Während ihrer Erzählung waren wir in die Nähe des Schlosses und der Schildwachen gekommen. Sie fuhr fort:

»Noch ehe er diese Schandtat an mir beging, sollte ich auch in anderer Hinsicht seine Gemeinheit erfahren. Er unterhielt einen Liebeshandel mit meinem Kammermädchen. Ich war stolz genug, zu tun, als ob ich es nicht bemerkte, doch seine Frechheit überschritt alle Grenzen! Der Schamlose wagte es endlich, in meiner Gegenwart die Dirne auf den Schoß zu nehmen und zu liebkosen. Sieh, Eduard, da war der letzte Faden meiner Geduld zerrissen. Wie eine Furie sprang ich auf ihn zu und faßte ihn beim Kragen; wäre ein Messer zur Hand gewesen, ich hätte ihn durchbohrt!« Alles dies führte sie plastisch-mimisch an mir aus und schüttelte mich wie einen Zwetschenbaum, so daß ich Mühe hatte, mich auf den Beinen zu erhalten. Das Vorhergehende hatte sie mir, wenn auch in großer Aufregung, doch menschlich erzählt, hier aber wurde sie wirklich zur Furie, denn ihr ganzer Körper zitterte, und die Tränen stürzten stromweis aus ihren schönen Augen.

Die Schildwache, die hinter ihrem Rücken sich befand, war während dieser Handgreiflichkeit näher gekommen, um mir im Fall der Not beizuspringen. Als der Soldat dicht hinter ihr stand, sagte ich zu ihm: »Befürchten Sie nichts! Diese Dame erzählt mir etwas lebendig eine furchtbare Räubergeschichte; mir will sie nicht ans Leben.« Wilhelmine wandte sich rasch um, und als sie den Soldaten und dessen[233] ängstlichen Blick gewahr wurde, brach sie in ein schallendes Gelächter aus. So schnell gingen ihre Gefühle von einem Extrem zum andern über.

Aber ein edles, herrliches Gemüt war sie und konnte mit Recht Schillers Worte auf sich anwenden:


Die Heuchelei veracht' ich; wie ich bin,

So sehe mich das Aug' der Welt!


Sie blieb stets wahr, jede Falschheit war ihrer Seele fremd.

Ich sah und hörte sie zum letztenmal im Jahre 1852, als sie mit ihrem Gatten nach Paris reiste und in Weimar sich einige Stunden aufhielt, uns zu besuchen und ihren Gatten uns vorzustellen. Wir fanden in ihm, einem Herrn von Bock, einen höchst seinen und liebenswürdigen Mann. Sie sang uns noch einige Schubertsche Lieder vor, die ihr Gatte trefflich begleitete. An Schmelz der Stimme hatte sie natürlich verloren, aber ihr dramatischer Vortrag war ebenso hinreißend wie in ihren jüngeren Jahren.

Ihr Schwanengesang war für mich der »Erlkönig«.

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 220-234.
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