Verlobung

[83] Um die wichtigsten Familienereignisse in geschlossener Folge zu behandeln, sei Verlobung, Brautstand und Hochzeit an dieser Stelle vor den Anforderungen der Geselligkeit im allgemeinen besprochen. Lange waren die Sachverständigen des Anstands nicht darüber einig, was vorzuziehen sei... nämlich, ob ein junger Herr zuerst mit der Auserwählten reden und dann bei den Eltern anfragen soll, oder ob die umgekehrte Reihenfolge dem guten Ton entspricht – aber neuerdings hat sich das gesellschaftliche Weltbild gründlich geändert; die heutige Jugend geht wohl zumeist von sich aus an die Präliminarien und zieht die Eltern erst zu Rat, wenn man »unter sich einig ist.«

Bei dem freien Verkehr, den gemeinsamer Sport, gemeinsame Ausflüge, gemeinsames Studium oder Büro-Kameradschaft bedingen, ist das natürlich und entspricht dem Charakter einer neuen Zeit. Das Taktgefühl und die gute Gesinnung, mit der die jungen Leute einander begegnen, geben den Ausschlag.

Ehe man sich verlobt, sollen die äußeren Verhältnisse vollkommen klar gelegt sein, Eltern und das junge Paar überzeugt sein, daß die finanziellen Vorbedingungen zur Gründung eines Hausstandes gegeben sind. Das ist nicht »materiell«, das ist vernünftig gedacht. Wahrheit sonder[83] Rückhalt und ohne Verschleierung kann bei Verlobungen nicht eindrücklich genug empfohlen werden, damit nicht allzubald kleine und große Enttäuschungen kommen. Wahrheit am rechten Ort erzeugt Glück und ist keine Illusionszerstörerin, wie kurzsichtige Menschen behaupten. Auch über den gesundheitlichen Zustand sollten sich Verlobte genau aber taktvoll orientieren, eine Forderung, die sich in Zeiten physiologischer Aufklärung leicht und ohne Reibung erfüllen läßt. Man behauptet nicht zu viel mit der Ansicht, daß alles wirklich Gute nur auf dem Boden der Wahrheit wächst.

Ist man in allen, zur Frage kommenden Punkten einig, wird die Verlobung proklamiert [im deutschen Süden als Vermählungsanzeige kurz vor der Hochzeit] und die Gesundheit des Brautpaares im Familienkreis mit Champagner gefeiert.

In wohlhabenden Kreisen geschieht es häufig, daß der Verlobte seiner Braut neben dem glatten Goldreif einen kostbaren Ring schenkt; als eigentlicher Verlobungsring gilt aber überall der einfache, gleichmäßig breite Goldreif. Der Bräutigam besorgt die Verlobungsringe und beide Verlobte tragen sie während der Brautzeit am Ringfinger der linken Hand.

Die Verlobungsanzeigen oder Vermählungsanzeigen – wie sie in Süddeutschland ausschließlich veröffentlicht sind – werden von den Eltern der Braut bestellt. Sobald sie an Bekannte und Freunde versandt sind, findet der Empfang der Gratulanten statt.[84]

Will man nach alter Sitte die Verlobung feiern, so wird die Empfangszeit [meist zwei aufeinander folgende Sonntage] auf besonderen Karten bekannt gegeben und von allen dem Hause nicht ganz Nahestehenden als Besuchszeit gewählt. Nur Verwandte und gute Freunde sind nicht an die gegebene Zeit gebunden.

Wohnt der Verlobte im Hause seiner Eltern, so findet auch dort zuweilen ein Gratulantenempfang statt mit eigener Einladung.

Blumen und Geschenke für das Brautpaar sendet man in die Wohnung der Braut; junge Damen schenken meist Blumen und selbstgefertigte Gegenstände.

Für den Empfangstag wählen Brautpaar und Brauteltern Gesellschaftskleidung.

Die Gratulanten erscheinen in eleganter Straßenkleidung, nur die Freundinnen der Braut, die sich als Helferinnen betätigen, tragen helle oder weiße Gesellschaftskleider. Diese jungen Damen schreiben die Namen aller Besucher auf, damit später niemand vergessen wird, wenn das Brautpaar seinen Dank abstatten will. Eine bis zwei Wochen nach dem letzten Empfangstage erhält jeder Gratulant, der persönlich oder schriftlich seine Glückwünsche zur Verlobung aussprach, Blumen oder Geschenke spendete, eine Dankkarte.

Der Name der Braut steht in der Verlobungsanzeige, der Dankkarte und Hochzeitseinladung zuerst; ihm folgt der Name des Verlobten.

Wenn die Verhältnisse eine Trennung des Brautpaares[85] während der Verlobungszeit mit sich bringen, vermeidet besonders die Braut den Besuch größerer Gesellschaften ohne ihren Verlobten. Man nimmt an, daß die Besorgung der Ausstattung und der Briefwechsel mit dem Bräutigam einer »glücklichen« Braut größere Vergnügungen entbehrlich machen.

Der Verlobte wahrt die gleiche Zurückhaltung, soweit geschäftliche und gesellige Verpflichtungen es ihm gestatten.

Eine Einladung am Wohnort beider Verlobten ist immer nur an das Brautpaar gemeinsam zu richten und auch nur gemeinsam von beiden anzunehmen oder abzulehnen. Das Erscheinen des Verlobten ohne die Braut oder der Braut ohne den Bräutigam wäre unpassend, wenn es sich um eine größere Festlichkeit handelt.

Die weltkluge Dame, die ich bereits zitierte, schrieb ihrer Nichte über die Verlobung: »Menschen mit gutem Ton hängen ihre Gefühle nicht an die Öffentlichkeit, wenn sie auch ihr herzliches Einvernehmen durchblicken lassen. Ist eine Verlobung aus rein seelischen Gründen geschlossen, so ist sie ideal. Doch selbst dort, wo praktische Motive mitsprechen, bleibt sie die Grundlage der Zivilisation, die unsere ganze menschliche Zukunft trägt.«[86]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 83-87.
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