§. [102] 38.

II. Oder die neue unähnliche Krankheit ist stärker. Hier wird die, woran der Kranke bisher litt, als die schwächere, von der stärkern hinzutretenden Krankheit so lange aufgeschoben und suspendirt, bis die neue wieder verflossen oder geheilt ist, dann kommt die alte ungeheilt wieder hervor. Zwei mit einer Art Fallsucht behaftete Kinder blieben nach Ansteckung mit dem Grindkopfe (tinea) von epileptischen Anfällen frei; sobald aber der Kopfausschlag wieder verging, war die Fallsucht eben so wieder da, wie zuvor, nach Tulpius17 Beobachtung. Die Krätze, wie Schöpf18 sah, verschwand,[102] als der Scharbock eintrat, kam aber nach Heilung des Scharbocks wieder zum Vorscheine. So stand die geschwürige Lungensucht still, wie der Kranke von einem heftigen Typhus ergriffen ward, ging aber nach dessen Verlaufe wieder ihren Gang fort19. – Tritt eine Manie zur Lungensucht, so wird diese mit allen ihren Symptomen von ersterer hinweggenommen; vergeht aber der Wahnsinn, so kehrt die Lungensucht gleich zurück und tödtet20. – Wenn die Masern und Menschenpocken zugleich herrschen und beide dasselbe Kind angesteckt haben, so werden gewöhnlich die ausgebrochenen Masern von den etwas später hervorbrechenden Men schenpocken in ihrem Verlaufe aufgehalten, den sie nicht eher wieder fortsetzen, bis die Kindblattern abgeheilt sind; doch wurden nicht selten auch die nach der Einimpfung ausgebrochenen Menschenpocken von den indess hervorkommenden Masern vier Tage lang suspendirt, wie Manget21 bemerkte, nach deren Abschuppung die Pocken dann ihren Lauf bis zu Ende fortsetzen. Auch wenn der Impfstich von Menschenpocken schon sechs Tage gehaftet hatte, und die Masern nun ausbrachen, stand die Impf-Entzündung still, und die Pocken brachen nicht eher aus, bis die Masern ihren siebentägigen[103] Verlauf vollendet hatten22. Den vierten oder fünften Tag nach eingeimpften Menschenpocken brachen bei einer Maser-Epidemie bei Vielen Masern aus, und verhinderten den Pockenausbruch, bis sie selbst vollkommen verlaufen waren, dann kamen erst die Pocken und verliefen gut23. Das wahre, glatte, rothlaufartige, Sydenhamische24 Scharlachfieber mit Bräune ward am vierten Tage durch den Ausbruch der Kuhpocke gehemmt, welche völlig bis zu Ende verlief, nach deren Endigung dann erst das Scharlachfieber sich wieder einstellte; so ward aber auch, da beide von gleicher Stärke zu seyn scheinen, die Kuhpocke am achten Tage von dem ausbrechenden wahren, glatten, Sydenhamischen Scharlachfieber suspendirt, und der rothe Hof jener verschwand, bis das Scharlachfieber vorüber war, worauf die Kuhpocke sogleich ihren Weg bis zu Ende fortsetzte25. Die Masern suspendirten die Kuhpocke: am achten Tage, da die Kuhpocken ihrer Vollkommenheit nahe waren, brachen die Masern aus, die Kuhpocken standen[104] nun still, und erst da die Masern sich abschuppten, gingen die Kuhpocken wieder ihren Gang bis zur Vollendung, so dass sie den sechszehnten Tag aussahen, wie sonst am zehnten, wie Kortum beobachtete26.

Auch bei schon ausgebrochenen Masern schlug die Kuhpockenimpfung noch an, machte aber ihren Verlauf erst, da die Masern vorbei waren, wie ebenfalls Kortum bezeugt27.

Ich selbst sah einen Bauerwezel (angina parotidea, Mumps, Ziegenpeter, Tölpel) sogleich verschwinden, als die Schutzpockenimpfung gehaftet hatte und sich ihrer Vollkommenheit näherte; erst nach völligem Verlaufe der Kuhpocke und der Verschwindung ihres rothen Hofs trat diese fieberhafte Ohr- und Unterkiefer-Drüsengeschwulst von eignem Miasm (der Bauerwezel) wieder hervor und durchging ihre siebentägige Verlaufzeit.

Und so suspendiren sich alle einander unähnliche Krankheiten, die stärkere die schwächere (wo sie sich nicht, wie bei acuten selten geschieht, compliciren), heilen einander aber nie.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst. Dresden, Leipzig 51833, S. 102-105.
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