Beleuchtung der Quellen der gewöhnlichen Materia medica.

[10] Nächst der Kenntniss des Heil-Objects, der Kenntniss, was an den Krankheiten, das ist, an jedem unsre Hülfe suchenden Krankheitsfalle zu heilen sey, kann es für den ausübenden Arzt keine nöthigere Kenntniss geben, als die der Heilwerkzeuge, nämlich zu wissen, was jede der Arzneien ganz gewiss heilen könne.

Diess zu erforschen und den Weg ausfindig zu machen, auf welchem man sicher zum Ziele dieser Kenntniss gelangen könne, darum hat man sich nun 2300 Jahre gemühet. Aber vergeblich. Man ist durch alle Anstrengungen um keinen Schritt näher gekommen.

Wenn in dieser so langen Zeit die Millionen damit beschäftigter Aerzte auch nur den Weg zu der Kenntniss, wie gedachtes Ziel (die Ausfindung der Heilbestimmungen jeder Arznei) zu erreichen sey, gefunden hätten, so wäre schon gar viel, fast schon alles gewonnen gewesen; dann hätte man auf diesem Wege fortgehen können, und der Eifer und die Anstrengung der Bessern unter ihnen müsste bald ein ansehnliches Gebiet von Wissthum in Besitz genommen[11] haben, so dass das noch zu erforschende Uebrige dann auch bald in unsre Gewalt gekommen wäre.

Aber, siehe, noch nie berührte ihr Fuss den Weg, der gewiss und sicher zu diesem Ziele führte. Alle desshalb betretenen Pfade waren, wie ein Jahrhundert dem andern sagen musste, Irrwege. Wir wollen sie etwas durchgehen.


Die erste Quelle der bisherigen Materia medica ist platte Vermuthung und Fiction, welche die allgemein-therapeutischen Tugenden der Arzneien angeben wollte.

Genau wie es vor 17 Jahrhunderten im Dioskorides lautete: diess und das ist auflösend, zertheilend, Harn, Schweiss, Monatzeit treibend, Schmerz, Krampf stillend, Leib eröffnend u.s.w. – eben so lautet es noch in den neuesten Arzneimittellehren; dieselben Angaben von allgemeinen Tugenden der einzelnen Arzneimittel, die nicht zutreffen, dieselben allgemeinen Behauptungen, die sich am Krankenbette nicht bewähren. Die Erfahrung sagt, dass eine solche Arznei höchst selten im menschlichen Körper verrichtet, was diese Bücher von ihrer allgemein-therapeutischen Tugend behaupten, und dass, wenn sie je dergleichen thun, diess nur ein entweder aus andern Ursachen herrührender, oder doch nur palliativer, überhingehender Effect (erste Wirkung) ist, wovon das Gegentheil hinterdrein desto gewisser nachzufolgen pflegt, zum grössern Schaden des Kranken.

Wenn nun das für Harn, das für Schweiss, das für Monatzeit treibend Gepriesene – würde es allein gebraucht – unter vielen Krankheitsfällen [12] einmal, bei besondern Umständen, einen solchen Erfolg gehabt zu haben geschienen hätte, könnte es wohl dieses gewöhnlichen Falles wegen (absolut) dergleichen wirkend, ausgegeben, das ist, mit dem bestimmten Ruhme eines Schweiss treibenden, Monatzeit treibenden, Harn treibenden Mittels belegt werden? So müsste man auch den, der sich nur in seltnen Fällen als einen ehrlichen Mann zu zeigen scheint, geradezu mit dem kostbaren Namen eines ehrlichen Mannes beehren, und den, der nur in seltnen Fällen nicht lügt, mit dem Ehrennamen eines Wahrhaften, eines Mannes von Worte!

Sollen so sehr die menschlichen Begriffe verdreht und umgekehrt werden?

Aber diese seltnen Fälle beweisen auch nicht einmal seltnen gewissen Erfolg. Denn in vielen hundert Fällen ward eine solche Substanz kaum einmal allein und einzeln gebraucht, sondern fast stets nur mit andern Arzneien in Verbindung.

Wie wenige Aerzte hat es wohl von jeher gegeben, die einem kranken Menschen eine einzige, eine einzelne, bloss einfache Arznei eingegeben und ihre alleinige Wirkung abgewartet hätten, unter gänzlicher Vermeidung jeden Nebengebrauchs irgend eines andern arzneilich wirkenden Dinges? Es ist ja nichts, als Gemisch mehrer Medicamente, was die gewöhnlichen Aerzte verordnen! Und wenn sie ja einmal eine einfache Substanz, z.B. in Pulver, geben, so muss doch immer der und jener Kräuterthee (andersartige Arznei) diess und jenes anders-arzneiliche Klystir, oder ein Umschlag, oder eine Bähung von andern Kräutern daneben gebraucht werden. Anders thun sie's nicht. Diese Erbsünde hängt jedem gemeinen Praktiker[13] so pechartig an, dass er sich nie davon losmachen kann. Es fehlt ihm hinten und vorne, und er könnte weder ruhen, noch rasten, wenn nicht noch diess und jenes und noch mancherlei Anderes daneben von ihm verordnet würde.

Und dafür haben sie dann mancherlei Ausreden.

Sie geben vor, jenes (was sie aber seiner eigenthümlichen, reinen Kraft nach nicht kennen) sey doch das Hauptmittel in ihrem gemischten Recepte, und alle Wirkung müsse ihm beigelegt werden; die andern Substanzen wären von ihnen bloss so beizu angebracht worden, theils um ihrem Hauptmittel zu helfen, theils es zu verbessern, es hie und dahin im Körper zu leiten, und was sie sonst noch den (ihrer reinen Wirkung nach unbekannten) sogenannten Nebenmitteln für Instructionen auf den Weg mitgeben, gleich als wären es Wesen mit Verstand, gutgeartetem Willen und sittlicher Folgsamkeit begabt, so dass sie im Innern des kranken Körpers gerade das verrichten müssten, was der Herr Doctor ihnen befohlen, und kein Härchen mehr!

Hören aber diese Nebenmittel etwa nach Euerm Geheisse auf, mit ihrer besondern, ungekannten, arzneilichen Kraft dazwischen und dagegen zu wirken und nach den ewigen Gesetzen ihrer inwohnenden Natur Effecte zu erregen, die nicht geahnet, nicht vermuthet (bloss durch reine Versuche ausgemittelt und zu unsrer Kenntniss gebracht) werden können?

Ist es nicht thöricht, den Erfolg einer Potenz beizumessen, während andersartige Kräfte zugleich[14] mit im Spiele waren, die oft hauptsächlich, obschon gemeinsam, den Effect bereiten halfen?

Nicht thörichter würde es seyn, wenn uns Jemand überreden wollte, er habe ein gutes Ernährungsmittel im Kochsalze aufgefunden; einem halb Verhungerten habe er es verordnet, welcher davon sogleich wie durch Wunder erquickt, gesättigt, gestärkt worden wäre; das Loth Kochsalz sey als Basis und Hauptmittel dieses Ernährungs-Receptes von ihm verordnet worden, welches er lege artis in quantum satis siedendem Wasser, als dem Excipiens und Vehiculum, habe auflösen, dann als Corrigens ein gut Stück Butter und hierauf als Adjuvans ein Pfund fein geschnittenes Roggenbrod hinzufügen lassen. Diese Mixtur (Suppe) habe der Hungrige auf einmal, wohl umgerührt, einnehmen müssen, wodurch dann die volle Sättigung erfolgt sey; alles Letztere sey nur Nebensache in der Formel gewesen, das Loth Kochsalz aber das Hauptmittel; dieses sey als Basis des ganzen Receptes von ihm verordnet worden, und, siehe! es habe sich in seinen Händen und pünktlich nach dieser Vorschrift bereitet, stets vom heilsamsten Erfolge erwiesen.

Wenn hienach in der Küchen-Materia medica zum Artikel Sal culinare, die Tugenden saturans, analepticum, restaurans, reficiens, nutriens hinzugedruckt würden, so wäre es gewiss nicht elender oder kindischer, als wenn der Arzt in seinem Recepte willkürlich irgend eine Substanz als Basis des zum Harntreiben bestimmten Mittels obenan setzt, dann noch zwei, drei, vier andre kräftige (ungekannte) Arzneisubstanzen (meinetwegen in der weisen Absicht, als corrigens, dirigens, adjuvans excipiens zu dienen) hinzufügt, und den Kranken[15] beim Einnehmen der Mischung, unter stetem Herumgehen in der kalten Kammer, reichlich warme Rheinwein-Molken, wohl mit Zucker versüsst, dazwischen trinken lässt, und er dann den erstaunenswürdigen Success der von ihm verschriebenen Basis: »der Kranke habe mehr Urin gelassen, als zu gewöhnlichen Zeiten« – triumphirend bekannt macht. In seinen Augen sind die zugesetzten Dinge und das Regimen beim Gebrauche nur unbeträchtliche Nebendinge, und unschuldig am Erfolge, um nur der Substanz, die er im Recepte als Hauptmittel obenan gesetzt, für die er sich vorzüglich, er weiss selbst nicht warum, interessirt, und welcher er vorzüglich gern zu Ehren helfen möchte, den Erfolg allein zuschreiben zu können. Da geht es dann ganz natürlich zu, wenn durch solche willkürliche und geflissentliche Zutheilung von Lobsprüchen an eine Arznei, die man besonders in Affection genommen, und der man besonders etwas bestimmt Heilkräftiges nachzurühmen, sich nun einmal durchaus vorgesetzt hat, die unverdienten und erschlichenen Lobsprüche: diureticum, emmenagogum, resolvens, sudoriferum, expectorans, antispasmodicum in die gutwillige Materia medica einfliessen, worin sie dann als Wahrheiten figuriren, zur Täuschung der Nachahmer.

Also auf Rechnung dieser zusammengebrauchten Arzneien müsste dieser seltne Erfolg geschrieben werden! Wie wenig Antheil ungewissen Ruhms eines Harn, Schweiss oder Monatzeit treibenden, oder diess und jenes erregenden oder stillenden Mittels käme da auf jene einzelne Arznei!

Unwahrheiten folglich sind die dem Dioskorides und seiner Descendenz nachgelogenen allgemein-therapeutischen Tugenden, die den grössten[16] Raum in den Arzneimittellehren selbst unsrer Tage einnehmen, dass dieses oder jenes Mittel Harn, Schweiss u.s.w. treibend, durch den Stuhl abführend, Brustauswurf befördernd, Blut und Säfte reinigend u.s.w. sey.1

Die Angaben, dass diese oder jene Arznei auflösend, zertheilend, Sensibilität, Irritabilität oder Reproduction potenzirend oder depotenzirend sey, schweben ebenfalls nur auf aus der Luft gegriffenen hypothetischen Voraussetzungen. Schon dass dergleichen überhaupt in Krankheiten unmittelbar zu bewerkstelligen nöthig sey, war eine fingirte, hypothetische Annahme, die keinen nachweisbaren Grund und kein reelles Object vorzeigen kann. Wie sollten nun solche an sich schon nichtige Tugenden den einzelnen Arzneien vernünftiger Weise ohne Beweis zugeschrieben[17] werden dürfen, auch abgesehen davon, dass diese Arzneien fast nie einzeln, sondern fast immer nur im Gemische mit andern verordnet wurden? Da wird jede solche Behauptung zur handgreiflichen Lüge.

Was hat man je von Arzneien im Innern des menschlichen Körpers auflösen, zertheilen gesehen? Durch welche Thatsache hat man sich von einer, lebendige Theile im Organism auflösenden Kraft solcher Arzneien überzeugt? Warum führt man die unumstösslichen Beweise solcher von einer dergleichen Substanz offenbar ausgeübten Kraft nicht an? Oder, da es unmöglich ist, solche mechanische und chemische Wirkungen einer Arznei auf lebendige Theile im Innern des nie erforschten, nie zu erforschenden Organisms wahrzunehmen, warum schämt man sich wenigstens nicht, solche Erdichtungen für Wahrheit und für Dogmen auszugeben und Arzneien solche Wirkungen mit frecher Stirne anzulügen, da Irrthum bei der wichtigsten und bedenklichsten aller irdischen Verrichtungen, bei Menschenheilungen, von den traurigsten Folgen seyn muss, Lüge aber hier das grösste Verbrechen, Hochverrath an der Menschheit ist?

Und wo giebt es etwas im verborgnen, lebenden Innern aufzulösen oder zu zertheilen, was der durch die richtige Arznei zur Gesundheit geleitete menschliche Organism nicht selbst, wo nöthig, aufzulösen vermöchte?

Ist denn auch das, was die Meinung wähnt, von aussen im Innern auflösen zu müssen, auch wirklich vorhanden? Hat nicht unser Sömmering bewiesen, dass die angeschwollenen, seit undenklichen Zeiten für verstopft gehaltenen Drüsen im Gegentheile in ihren Gefässen allzu sehr erweitert befunden werden? Ist es nicht an gesunden Bauerkerlen erwiesen worden, dass in ihren Gedärmen durch geflissentliche Versuche mit vielen Kämpfischen Klystiren gerade dieselben[18] scheusslichen Abgänge künstlich erzwungen und ausgeleert werden können, die Kämpf für schon im Leibe fast aller langwierig Kranken, als Verstopfungen, Infarcten und Versessenheiten vorhanden, hypothetisch annahm, ob er gleich erst durch seine vielgemischten Kräuterbrühen in oft mehren hundert Klystiren die Gedärme kunstmässig dahin gebracht hatte, dergleichen widernatürlich zu erzeugen und dann aller Welt zum Abscheu an den Tag zu bringen; und siehe, leider! die übrigen Aerzte wurden damals fast sämmtlich seine Anhänger und sahen nun im Geiste bei fast allen Kranken nichts als Verstopfungen der feinsten Gefässe des Unterleibes, Infarcten und Versessenheiten, nahmen die unsinnig gemischten Kräuterbrühen Kämpfs für ächt zertheilend und auflösend an, und klystirten die armen Kranken, auf lauter Hypothese hin, mit grosser Strenge und Beharrlichkeit fort und fort, auch wohl fast zu Tode, dass es eine Sünde und Schande war.

Nun selbst die fingirten Fälle einmal als wahr angenommen, dass es im kranken menschlichen Körper etwas aufzulösen oder zu zertheilen geben könnte, wer hat, wenn der Kranke geneset, diese Auflösung oder Zertheilung unmittelbar von den Arzneien im Innern bewirken gesehen, so dass die sonst alle Verrichtungen im Organism beherrschende Lebenskraft hier einmal eine unthätige Zuschauerin geblieben wäre, und die Arznei eigenmächtig in das angeblich Verstopfte und Verhärtete hätte hinein arbeiten lassen, wie ein Gerber in die Häute?

Vom Gebrauche des Kalomels ward, nach einer Krankengeschichte (Hufel. Journ. 1815. Dec. S. 121.), ein chronisches Erbrechen nach den Mahlzeiten gehoben; das soll nun durchaus eine Verhärtung des Magens und Magenmundes gewesen seyn, das behauptet der Verfasser mit der grössten Keckheit, ohne die[19] mindesten Beweise beizubringen, bloss um auf diese Weise dem Kalomel eine so unbedingte Auflösungskraft zuzueignen und sich die Ehre anzumassen, ein Uebel, was so selten, als unheilbar ist, geheilt zu haben. Eben so dichtete ein Andrer (Hufeland's Journal 1813. S. 63.) aus Magendrücken, Magenkrämpfen (?), Aufstossen und Erbrechen seinem Kranken organische Fehler des Magens, Skirrhositäten, Geschwülste und Verhärtungen an, und wähnt, da durch langwieriges Trinken des Queckentrankes (und doch wohl dabei angeordneter besserer Lebensordnung und Diät?) sich jene Beschwerden verloren, dadurch bewiesen zu haben, dass die Quecke fähig sey, (keck und ohne Beweis vorausgesetzte) Skirrhositäten des Magens aufzulösen. Allein, Magendrücken, Aufstossen und Erbrechen nach der Mahlzeit, wenn es auch von altem Datum ist, sind gar nicht seltne, bei gehörig gebesserter Lebensordnung oft leicht heilbare Uebel, welche für sich noch gar keinen Beweis von Verhärtung und Skirrhus des Magens oder Magenmundes geben; hiezu gehört die Gegenwart weit beschwerlicherer Symptome, als Drücken, Aufstossen und blosses Erbrechen sind.

Das ist aber eben die hochlöbliche Art, einer Arznei zu der unverdienten Ehre eines auflösenden, zertheilenden u.s.w. Heilmittels zu verhelfen, nämlich durch blindes Vermuthen und dreistes Voraussetzen irgend eines nie vorhanden gewesenen, nie gesehenen, ni beweisslichen innern gewaltigen Fehlers.


Die zweite Quelle für die in der Materia medica angegebnen Tugenden der Arzneien sollte angeblich[20] einen sichrern Grund haben, nämlich die sinnlichen Eigenschaften derselben, woraus man ihre Wirkungen erschliessen wollte; man wird aber sehen, wie trübe auch diese Quelle ist.

Hier erlasse ich dem gewöhnlichen Arzneiwesen die Demüthigung, sie an die Thorheit jener ältern Aerzte zu erinnern, welche nach der Signatur, das ist, nach Farbe und Form, der rohen Arzneidroguen auf ihre Heilkräfte schlossen, die hodenartige Orchiswurzel zur Herstellung der Mannskraft, die Stertmorchel zur Befestigung wankender Erectionen, die gelbe Kurkumey heilsam in der Gelbsucht, und die beim Quetschen einen rothen Saft von sich gebenden, gelben Blumen des Hypericum perforatum für Sanct Johannis Blut, dienlich in Blutungen und Wunden u.s.w. ausgaben; ich erlasse sie den jetzigen Aerzten, obgleich noch Spuren genug von diesem Unsinne selbst in den neuesten Arzneimittellehren mit fortgeführt werden.

Ich will nur etwas von den nicht viel weniger thörichten Bemühungen, selbst der Neuern, erwähnen, durch Geruch und Geschmack die Kräfte der Arzneien errathen zu wollen.

Sie wollten es den Arzneien anschmecken und anriechen, welche Wirkungen sie auf den menschlichen Körper ausüben könnten, und auch hierzu ersannen sie sich allgemein-therapeutische Ausdrücke.

Die bitter schmeckenden Gewächse sollten und mussten, so decretirten sie, eine und dieselbe Wirkung haben, bloss weil sie bitter schmeckten.

Aber, wie höchst verschieden sind nicht schon die bittern Geschmacke unter sich selbst! Soll diese grosse Verschiedenheit nicht auf verschiedene Wirkung hindeuten?

Doch, wie kommt der bittre Geschmack überhaupt zu der Ehre, die ihm die Arzneimittellehre[21] und die praktischen Aerzte zutheilen, ein Beweis der sogenannten magenstärkenden und tonischen Kräfte der Arzneien und ein Beweis gleichförmiger und identischer Wirkungen derselben zu seyn, so dass alle Amara nach dieser willkührlichen Satzung nichts als diese Arzneiwirkung besitzen sollen?

Haben auch einige derselben dazu die eigenthümliche Wirkung, Uebelkeit, Ekel, Magendrücken und Aufstossen bei Gesunden zu erregen und desshalb homöopathisch ein Uebelfinden ähnlicher Art zu heilen; so hat doch jedes dieser Gewächse noch besondre, ganz andre, bisher unbeachtete Arzneikräfte, die oft weit wichtiger, als jene, sind, wodurch sie unter einander ungemein abweichen. Die bitter schmeckenden Dinge also ohne Unterschied, eins statt des andern, als gleichwirkend zu verordnen, oder sie gar unbedenklich unter einander in Ein Recept zu mischen und sie so überhaupt unter dem Namen Amara (Extracta amara) als unbezweifelt identische Arzneien von bloss stärkender, Magen verbessernder Wirkung auszugeben, verräth den seichtesten, gröbsten Schlendrian!

Und wenn nach diesen dictatorischen Aussprüchen der Materia medica und Therapie die Bitterkeit allein hinreichend seyn soll, alles, was bitter schmeckt (Amara!), für absolut und einzig stärkend und Verdauung verbessernd auszugeben, dann müssen auch Coloquinten, Meerzwiebel, Lerchenschwamm, die dickrindige, so sehr verschrieene Augustura, das Kunigundenkraut, die Saponaria, die Myrica Gale, die Lupina, der Giftlattig, die Blausäure und das Bohon-Upas-Gift als Amara das gleiche Recht haben, unter die tonischen, Magen stärkenden Arzneien gezählt zu werden.[22]

Man sieht hieraus leicht, wie vernunftlos willkührlich die Satzungen der Materia medica gewöhnlichen Schlages sind, wie sehr sie sich der reinen Unwahrheit nähern! Und, Unwahrheiten zum Grunde der Krankheitsbehandlungen zu legen – – welches Verbrechen!

Die Chinarinde fand man bittern und zusammenziehenden Geschmacks. Diess war ihnen genug zur Beurtheilung ihrer innern Kräfte. Nun mussten sofort alle bitter und zusammenziehend schmeckende Substanzen und Rinden gleiche Arzneikräfte mit der Chinarinde haben. – So vorurtheilig und voreilig schloss man in den Arzneimittellehren aus dem blossen Geschmacke auf die Wirkung im menschlichen Körper! Und doch bleibt es ewig Lüge, dass Weidenrinde oder ein Gemisch aus Aloe und Galläpfeln dieselben Arzneikräfte als Chinarinde habe. Wie viele solche Chinae factitiae sind nicht schon als Ersatzmittel der wahren Chinarinde von hochbetitelten Aerzten öffentlich angerühmt, fabricirt, verkauft und von den Aerzten recht treuherzig den Kranken statt jener eingegeben worden!

So ward Leben und Wohlseyn der Menschen vom Gutdünken einiger Wirrköpfe abhängig gemacht, und was sie in ihrem Hirn zusammensudelten, das hiess man Materia medica.

Auf gleiche Weise wurden auch einige Menge unglaublich verschiedener Gerüche sämmtlich in eine Brühe geworfen und mit dem gemeinsamen Namen Aromatica belegt, um ihnen solchergestalt bequemlich einerlei Arzneiwirkung andichten zu können. Sie wurden, geradezu und unbedenklich, überein für Kräfte erhebend (excitirend) und Nerven stärkend, zertheilend u.s.w. ausgegeben.

Also das unvollkommenste, das täuschendste aller Sinnenwerkzeuge des cultivirten Menschen, der [23] Geruch2, der so wenig Begriffe von sinnlicher Verschiedenheit durch Worte ausdrücken lässt – dieser soll zur Beurtheilung der dynamischen Arzneikräfte im menschlichen Körper hinreichen, da doch alle unsre Sinne zusammengenommen, wenn sie eine Arzneisubstanz nach ihrem Aeussern auch noch so sorgfältig prüfen, keine, auch nicht die geringste Auskunft über dieses wichtigste aller Geheimnisse der in den Naturkörpern inwohnenden geistigen Kraft, das Befinden des Menschen zu verändern, das ist, über ihre wahre Arznei- und Heilkraft geben können, die in jedem wirksamen Mittel so abweichend verschieden von der eines jeden andern vorhanden ist, und sich bloss beim Einnehmen und beim unmittelbaren Einwirken auf die Lebensthätigkeit des Organisms offenbaren kann!

Oder sollen Maiblumen, Krausemünze, Angelike, Arnica, Sassafras, Serpentarie, Weiss-Sandel, Coriander, Chamille, Liebstöckel und Sumpf-Porst etwa desshalb gleiche Arzneiwirkungen haben, weil es der Nase der Herren Arzneimittellehrer beliebt, sie sämmtlich bloss aromatisch riechend zu finden?

Sollte wohl ein solches Durcheinanderwerfen höchst verschiedner und eben durch ihre Wirkungsverschiedenheit so höchst wichtiger Arzneisubstanzen in eine Brühe etwas Besseres, als voreilige Keckheit, und gewissenlose, unwissende Selbstgenügsamkeit in der Materia medica ausgesprochen haben?

Kein, auch noch so niedres Handwerk hat sich einer so leichtfertigen Erdichtung des Zweckes und der Wirkungen seiner Materialien und Werkzeuge schuldig gemacht. Man probirte doch immer erst[24] das anzuwendende Mittel auf kleineren Theilen des zu bearbeitenden Gegenstandes, um die Veränderungen wahrzunehmen, die es darauf hervorzubringen fähig wäre, ehe man es zu der kostbaren Arbeit im Grossen verbrauchte, wo der Schaden von einem Missgriffe von Belange gewesen seyn würde. Der Baumwollbleicher versuchte doch erst die, alle Gewächssubstanz zerstörende, oxygenisirte Kochsalzsäure auf einigen Baumwollzeugen, und vermied es so, die sämmtlichen Waarenvorräthe damit in Gefahr zu setzen. Der Schuhmacher hatte sich vorher schon von der Eigenschaft des Hanfgarns überzeugt, ob es haltbarer in der Faser sey, ob es durch ein Anschwellen in der Nässe die Stichlöcher im Leder besser ausfülle und der Fäulniss kräftiger zu widerstehen vermöge, als der Flachs, ehe er diesem das Hanfgarn zum Nähen aller Schuhe vorzog; und das war doch nur ein Schuster-Handwerk!

In der stolzen Arzneikunst gewöhnlichen Schlages aber wird das heilwerkzeugliche Material, werden die Arzneien bloss nach trüglichem, oberflächlichem Scheine, nach vorgefassten Meinungen der Arzneimittellehrer und ihren desultorischen Aburtheilungen, also auf die Gefahr von Täuschung, Irrung und Unwahrheit hin, frischweg zu dem wichtigsten Werke, was ein Mensch an seinem Menschenbruder verrichten kann, zu einer Verrichtung, worauf Leben und Tod, ja das Wohl und Weh oft ganzer Familien und ihrer Nachkommen beruht, das ist, zur Behandlung der Menschenkrankheiten verbraucht und zwar – um auch hier nicht gewahr zu werden, was jedes Einzelne thue – unter einander gemischt in Recepten, unbekümmert der unabsehbaren Folgen!

So viel über die ungegründeten Angaben allgemein-therapeutischer Tugenden der einzelnen Arzneien in der Materia medica, die von blinder Vermuthung,[25] Vorurtheil, wunderlichem Einfall und kecker Fiction zu Dogmen erhoben wurden; so viel über diese zweite trübe Quelle der sogenannten Arzneimittellehre bisheriger Art!


Noch hat sich die Chemie angemasst, eine Quelle zur Erkennung der allgemein-therapeutischen Kräfte in den Arzneien zu eröffnen. Wie trübe aber auch diese dritte Quelle der Materia medica gewöhnlichen Schlages sey, wollen wir gleich sehen.

Schon vor einem Jahrhunderte unter Geoffroy, noch mehr aber, seit die Medicin zur Kunst ward, suchte man zur Aufhellung der Arzneimittellehre in ihr, was man auf andern Wegen nicht hatte finden können.

Ich sage gar nichts von den bloss theoretischen Verirrungen, wo den Arzneikörpern, nach Baume, Steffens und Burdach, die bekannten Gas-Substrate und gewisse chemische Bestandtheile, angeblich die einzigen arzneilichen in ihnen, willkührlich erst zugeschrieben, zugleich aber auch für diese hypothetisch fingirten Grundtheile nach Gutdünken gewisse Arzneikräfte, eben so willkührlich angenommen wurden, dass es eine Lust war, wie leicht und bald diese Herren mit Erschaffung der medicinischen Kräfte der einzelnen Arzneisubstanzen aus Nichts fertig werden konnten. Da man keine Natur, keine Versuche am lebenden menschlichen Organism, keine Beobachtungen, keine Erfahrungen dazu brauchte, sondern bloss Phantasie, rührige Finger und Dreistigkeit, so war freilich das Machwerk schnell zu Stande.

Nein, von den ernstlichen Hoffnungen und redlichen Bemühungen der Neuern rede ich, vorzüglich[26] durch Phyto- und Zoochemie hinter die wahren, reinen Wirkungen der Arzneien im menschlichen Körper zu kommen, woran es, wie man wohl fühlte, der hergebrachten Arzneimittellehre immer noch fehle.

Wahr ist es, die Chemie, jene oft erstaunenswürdige Wunder vor unsern Augen hervorbringende Kunst zur Erkenntnissquelle der Materia medica zu machen, hatte weit mehr Anschein für sich, als alle jene alten und neuen Tändeleien und literarischen Salti mortali, deren wir eben gedacht haben, und diese Hoffnung bethörte dann auch wirklich Viele, doch nur diejenigen am meisten, welche entweder die Chemie nicht verstanden (und unendlich mehr in ihr suchten, als sie geben konnte und als in ihr lag), oder die Heilkunst und ihre Bedürfnisse nicht, oder beide nicht.

Die Zoochemie kann aus Thiersubstanzen bloss solche todte Theile aussondern, die ein verschiednes chemisches Verhalten gegen chemische Reagenzen zeigen. Aber nicht diese, durch Zoochemie abgesonderten Thier-Bestandtheile sind es, auf welche die Arzneien bei Umstimmung des menschlichen Befindens und bei Heilung der Krankheiten des lebenden Organisms weder in der Geschiedenheit, wie der Scheidekünstler sie uns vorzählt, noch unmittelbar wirken. Die aus dem Muskelfleische chemisch geschiedenen Theile: Thierfaserstoff, koagulable Lymphe, Gallerte, Thiersäure und die übrigen Salze und Erden, sind himmelweit von dem verschieden, was der lebende, mit Reizbarkeit begabte Muskel in seiner organischen Vollkommenheit im gesunden und kranken Menschen war; die aus ihm losgetrennten Theile haben gar nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit dem lebenden Muskel. Was soll aus diesen getrennten, todten Theilen auf die Beschaffenheit des[27] lebenden Organisms, oder auf das, was die einzelnen Arzneien an Befindens-Veränderungen in ihnen, im Lebenden hätten hervorbringen können, geschlossen werden? Oder wird etwa aus dem wenigen Natrum und Phosphorsalze im Magensafte die Verdauung (jene wundernswürdige Veränderung der verschiedenartigsten Speisen zum Behufe des Ergänzungs-Bedarfs des lebenden Menschen für seine so abweichenden thierischen Organe und Säfte) begreiflich, oder wird nur der materielle, geschweige der dynamische Grund einer Krankhaften Verdauung und Ernährung aus dem, was die Chemie im Magensafte findet, erklärlich, so dass man ein sicheres Heilverfahren drauf gründen könnte? Nichts weniger, als diess!

Und so ist auch an den durch Phyto-Chemie abgesonderten chemischen Bestandtheilen der Pflanzen, auch der arzneikräftigsten Pflanzen, nichts zu riechen, nichts zu schmecken, was jene so verschiedene Wirkungen, die jede einzelne dieser Arzneien besonders auf Umänderung des menschlichen Befindens in Gesundheit und Krankheit erfahrungsmässig äussern kann, auszusprechen und an den Tag zu legen vermöchte.

Das davon destillirte Wasser oder Oel, oder das aus der Pflanze geschiedne Harz ist auch gar nicht der wirkende Grundstoff derselben selbst; dieser wohnte nur, unsichtbar, in diesen jetzt ausgezognen Theilen, dem Harze, dem Oele, dem destillirten Wasser, und ist unsern Sinnen an sich gar nicht erkennbar; nur dann fallen seine Wirkungen in unsre Sinne und werden laut und offenbar, wenn das destillirte Wasser, das Oel, das Harz, oder vorzüglich die Pflanze selbst vom lebenden Menschen eingenommen wird, und sie auf den geistig-thierischen[28] empfindlichen Organism auf geistige Art dynamisch einwirken.

Und was sollen vollends die andern chemisch aus den Pflanzen gezognen Theile Arzneiliches bedeuten, der Pflanzenfaserstoff, die Erden, die Salze, das Gummichte, der Eiweissstoff u.s.w., die in nicht grosser Abweichung in allen, auch den verschiedenst arzneikräftigen Gewächsen fast gleichförmig angetroffen werden? Wird etwa durch den wenigen zuckersauern Kalk, den die Chemie aus der Rhabarberwurzel zieht, geoffenbart, dass diese Arznei bei Gesunden einen so krankhaft abgeänderten Schlaf, eine so sonderbare Körperhitze ohne Durst erzeugt, und bei ähnlichen Krankheitszuständen heilsam ist?

Was können alle diese, auch noch so sorgfältig chemisch geschiedenen Theile über die Kraft jeder einzelnen Pflanze, den lebenden menschlichen Körper auf die eigenthümlichste, mannichfaltigste Weise in seinem Befinden virtuell zu verändern, für Auskunft geben?

Der Scheidekünstler Gren, der von der Heilkunst nichts verstand, will in seiner Pharmakologie, voll der keckesten Aussprüche, die Aerzte bereden: »dass nur die Kenntniss der vorwaltenden Grundtheile der Arzneimittel, die die Chemie kennen lehre, die Wirksamkeit der Mittel bestimme.«

Kennen? Ei! was lehrt denn die Chemie an den todten, nicht redenden Arzneibestandtheilen kennen? Antwort: bloss ihre chemische Bedeutung lehrt sie; sie lehrt, dass sie sich so und so zu den chemischen Reagenzen verhalten, und daher Gummi, Harz, Eiweissstoff, Schleim, Erden und Salze dieses oder jenes Namens genannt werden; – sehr gleichgültige Dinge für den Arzt. Diese Benennungen offenbaren nichts von dem, was die Pflanze oder[29] das Mineral, jedes nach der Eigenthümlichkeit seiner unsichtbaren, innern, virtuellen Natur besonders und abweichend, für Veränderungen im Befinden des lebenden Menschen hervorzubringen vermag; und dennoch beruht einzig bloss hierauf alles Heilen! Nur was beim arzneilichen Gebrauche am Menschen von dem wirkenden Geiste jeder einzelnen Arzneisubstanz offenbar wird, belehrt den Arzt über die Wirkungssphäre der Arznei in Hinsicht der damit zu erreichenden Heilzwecke; der Name der aus jeder chemisch abgesonderten Theile, die in den meisten Pflanzen fast dieselben sind, belehrt ihn hierüber nicht.

Dass z.B. das weisse Kalomel aus sechs bis acht Theilen Quecksilber mit einem Theile muriatischer Säure, durch Sublimation vereinigt, besteht, und mit Kalkwasser gerieben schwarz wird, das kann die Chemie lehren; aber ob diess Präparat im Menschen jenen Speichelfluss mit specifischem Gestanke hervorbringe, das weiss die Chemie, als Chemie, nicht, das kann keine Chemie lehren. Diess dynamische Verhältniss des versüssten Quecksilbers zum menschlichen Körper lehrt bloss die ärztliche Anwendung und Erfahrung beim Einnehmen dieses Präparats, wenn es dynamisch und virtuell auf den lebenden Organism einwirkt, und so kann bloss Versuch und Erfahrung bei Einwirkung der Arzneisubstanzen auf das Leben des Menschen ihre dynamischen Verhältnisse zu ihm, das ist, ihre Arzneikräfte bestimmen, aber keine Chemie, die in ihren Arbeiten bloss unorganische Substanzen auf einander wirken lässt.

Die Chemie kann wohl den unwissenswürdigen Aufschluss geben, dass Belladonnablätter mit dem Braunkohl und unzähligen andern Gewächsen ziemlich gleiche Bestandtheile: Eiweissstoff, Kleber, Extractivstoff, grünes Harz, Gewächs-Säure, Kali, Kalk-Kieselerde[30] u.s.w. enthalte; wenn aber nach Gren diese Kenntniss der vorwaltenden Bestandtheile, so weit sie die Chemie durch ihre Reagenzen, das ist, chemisch kennt, die medicinische Wirksamkeit der Mittel bestimmte, so müsste man sich hienach an einer Schüssel Belladonnagemüsse eben so vortheilhaft und unnachtheilig satt essen können, als an einem Gerichte Braunkohl. Will der Chemist das? Und doch kann eine, die Arzneikräfte der Naturkörper nach den abzusondernden chemischen Bestandtheilen zu bestimmen sich anmassende Chemie nicht umhin, wo sie gleiche Bestandtheile durch ihre Reagenzen findet, auch gleiche arzneiliche Wirksamkeit anzunehmen, folglich Braunkohl und Belladonna entweder für gleich unschuldige Gemüsse, oder für gleich giftige Gewächse zu erklären, woraus die Lächerlichkeit ihrer Anmassung und ihre Incompetenz, über die Arzneikräfte der Naturkörper urtheilen zu können, sonnenklar hervorleuchtet.

Merken die Grenianer denn gar nicht, dass die Chemie nur chemische Aufschlüsse über die Anwesenheit dieser oder jener materiellen Bestandtheile in irgend einem Naturkörper ertheilen kann, folglich diese nichts als chemische Körper für die Chemie sind? Ihre chemischen Verhältnisse gegen Reagenzen kann die chemische Analyse angeben, diess einzig ist ihr Wirkungskreis, aber was jede einzelne Arznei, mit dem lebenden Körper in Berührung gebracht, für dynamische Veränderungen in seinem Befinden hervorbringe, das kann sie uns weder im Auflösungs- noch im Digerirkolben, noch in der Retorte und eben so wenig in der Vorlage zeigen.

Ueberhaupt kann jede Wissenschaft nur von Gegenständen ihres Fachs urtheilen und Auskunft geben; Aufschlüsse aber über Gegenstände andrer Wissenschaften von ihr zu erwarten, ist Thorheit.[31]

Der Hydrostatik kommt es zu, die specifische Schwere des feinen Silbers gegen die des feinen Goldes genau zu bestimmen; sie masst sich aber nicht an, das verschiedne Werthverhältniss des einen gegen das andre im Handel zu bestimmen. Ob Gold zwölf, dreizehn oder vierzehn Mal mehr Werth, bei gleichem Gewichte, gegen Silber in Europa oder in China habe, kann die Hydrostatik nicht entscheiden, nur die Seltenheit und das Bedürfniss des einen oder des andern im Handel setzt diess Verhältniss fest.

Auf gleiche Weise; so unentbehrlich auch dem ächten Landwirth die Kenntniss der genauen Gestalt der Gewächse und ihre Unterscheidung nach ihren äussern Theilen, die Botanik, ist, so erfährt er durch die Botanik doch nie, ob ein genanntes Gewächs dem Schaafe oder dem Schweine als Nahrung dienlich oder unangemessen sey, und eben so wenig, welcher Samen oder welche Wurzel dem Pferde mehr Stärke, oder dem Rinde mehr Talg gebe; weder Tournefort's, noch Haller's, noch Linné's, noch Jussieu's botanisches System lehren ihn diess; bloss reine, sorgfältige, vergleichende Versuche und Erfahrungen an den verschidenen Thieren selbst angestellt, können ihm hierüber Auskunft geben.

Jede Wissenschaft kann nur Gegenstände erörtern, die ihres Wirkungskreises sind.

Was findet die Chemie im gegrabnen Magnetsteine und dem künstlichen Magnetstahle? Im Magnetsteine findet sie bloss einen reichen Eisenstein, mit Kieselerde, zum Theil auch mit Braunstein innig verbunden, und im Magnetstahle nichts, als reines Eisen. Selbst in der feinsten chemischen Analyse des einen oder des andern entdeckt kein chemisches[32] Reagenz auch nur eine Spur der gewaltigen Magnetkraft.

Wohl aber eine andre Wissenschaft, die Physik, zeigt in ihren Versuchen die Gegenwart dieser wunderbaren Kraft im Magnetsteine und dem Magnetstahle, so wie ihre physische Beziehung und ihr Verhältniss zur Aussenwelt, ihre Anziehkraft zu Eisen (Nickel, Kobalt), die Richtung des einen Endes der Magnetnadel nach der Nordgegend, ihre Abweichung vom Nordpole in den verschiedenen Jahrzehnten und in den verschiedenen Weltgegenden theils nach Westen, theils nach Osten, so wie ihre verschiedene Neigung nach den verschiedenen Graden der Breite.

Die Physik weiss also noch etwas Anderes vom Magnete zu sagen und von seinen Kräften zu entdecken, als die Chemie, nämlich seine Magnetkraft in physischer Beziehung zu lehren.

Aber durch beide, durch Chemie und Physik, ist die Kenntniss des Wissenswürdigen vom Magnete nicht etwa erschöpft; keine dieser beiden Wissenschaften kann etwas Weiteres in ihm entdecken, als was ihres Wirkungskreises ist. Weder der Umfang der chemischen, noch der der physischen Kenntnisse von ihm können uns lehren, was die magnetische Kraft für mächtige, für besondre und charakteristische Einwirkung bei seiner Berührung auf das menschliche Befinden äussert, und welche unersetzliche Heilkraft in den ihm geeigneten Krankheiten er besitzt; diess weiss die Chemie so wenig als die Physik; sie müssen beide es den Versuchen und Erfahrungen des Arztes überlassen.

Da nun keine Wissenschaft sich das blos durch eine andre Wissenschaft zu Erörternde anmassen kann, ohne lächerlich zu werden, so hoffe ich, dass man nach und nach wohl so vernünftig werden wird, einzusehen, dass die Chemie blos den Wirkungskreis[33] habe, die chemischen Bestandtheile der Körper von einander zu scheiden, so wie sie zusammen zu vereinigen (und auf diese Art der Pharmacie technischen Nutzen zu leisten); ich hoffe, man wird anfangen, einzusehen, dass die Arzneien für die Chemie nicht als Arzneien (d.i. Menschen-Befinden dynamisch verändernde Potenzen) existiren, sondern bloss inwiefern sie chemische Substanzen sind (d.i. inwiefern ihre Bestandtheile in chemischem Lichte anzusehen sind), dass die Chemie folglich über die Arzneikörper blos chemische Aufschlüsse zu geben im Stande sey, aber nicht, welche geistig dynamischen Veränderungen sie im Befinden des Menschen hervorbringen können, nicht, welche Arznei- und Heilkräfte jede besondre Arznei-Drogue besitzt und im lebenden Organism auszuüben vermag.


Aus der vierten unreinen Quelle endlich flossen die klinischen und speciell-therapeutischen Nutzangaben (ab usu in morbis) in die gewöhnlichen Arzneimittellehren.

Diese allgemeinste unter allen Quellen für die Materia medica, aus der man die Kenntniss der Heilkräfte der Arzneien zu schöpfen suchte, war die medicinische sogenannte Praxis, nämlich der Gebrauch derselben in Krankheiten selbst, wobei man zu erfahren wähnte, in welchen Krankheiten diese, in welchen jene Arznei helfe.

Diese Quelle hat man vom Beginn der Arzneikunst an verfolgt, und sie zwar von Zeit zu Zeit verlassen, um eine bessere Fundgrube für diese Kenntniss anzuschürfen, sie aber doch immer wieder aufgesucht,[34] da sie die natürlichste Veranstaltung schien, den Behuf der Arzneien, und wozu sie eigentlich nützten, zu erlernen.

Wir wollen auf einen Augenblick annehmen, diess wäre der wahre Weg, ihre Heilkräfte zu entdecken; so hätte man doch glauben sollen, man würde zu diesen Versuchen am Krankenbette blos einzelne, einfache Arzneisubstanzen genommen haben, weil mehre, zusammengemischt eingegeben, nie lehren können, welcher unter ihnen der Erfolg zuzuschreiben sey. Man findet aber in den Geschichtbüchern der Medicin wenig oder keine Fälle, wo man den ganz natürlichen Gedanken, eine einzige Arzneisubstanz auf einmal in einer Krankheit anzuwenden, um gewiss zu werden, ob sie in dieser Krankheit vollkommne Genesung bringe, auch wirklich ausgeführt hätte.

Es blieb daher fast immer nur dabei, dass man unter einander gemischte Arzneien in Krankheiten brauchte, und dadurch nicht und niemals erfuhr, wenn die Cur glückte, welchem Ingredienz des Gemisches der günstige Erfolg gewiss und mit Zuverlässigkeit zuzurechnen sey; man lernte, mit einem Worte, nichts daraus. Half hingegen das Arzneigemisch nichts, oder schadete es, wie gewöhnlich, so lernte man eben so wenig aus diesem Erfolge, welcher einzelnen Arznei unter diesen allen der üble Ausgang beizumessen sey.

Ich weiss nicht, sollte es Gelehrsamkeit-Affectation seyn, dass man die Arzneien immer zusammengemischt in sogenannten Recepten verordnete, oder war es Aengstlichkeit, dass man wähnte, eine einzelne Arznei sey zu unmächtig und möchte nicht zureichen, die Krankheit zu heben; genug, seit den ältesten Zeiten beging man diese Thorheit, mehre Dinge zusammen zu verordnen, und schon gleich nach [35] Hippocrates nahm man Arzneigemische statt einfacher Arzneien zur Cur der Krankheiten. Es giebt unter den vielen, dem Hippocrates fälschlich beigelegten, zu seinen Werken gerechneten Schriften, wovon die meisten bald nach seinem Tode unter seinem Namen geschrieben wurden, vorzüglich von seinen beiden Söhnen, Draco und Thessalus, so wie fernerhin von den Söhnen dieser beiden, dem Hippocrates III. und IV., nächst den von den Alexandrinern Artemidorus Capiton und seinem Verwandten Dioscorides unter Hippocrates Namen fabricirten Werken, kein einziges praktisches Buch, dessen Verordnungen in Krankheiten nicht aus mehren Arzneistoffen beständen, gerade wie die nachmaligen, die neuern und die neuesten Recepte.

Dass aber aus der Anwendung gemischter Recepte gar nicht zu lernen sey, was jede einzelne Arzneisubstanz in Krankheiten vermöge, folglich keine Materia medica drauf gebauet werden könne, fingen erst die neuern Aerzte an einzusehen, und es beeiferten sich nun Mehre, damit sie in Erfahrung brächten, in welcher Krankheit diese und jene Arznei helfen könne, einfach zu verschreiben, machten auch in Schriften Curen bekannt, die durch ein einfaches, einzelnes Mittel bewirkt worden seyn sollten.

Aber die Ausführung dieses an sich vernünftig scheinenden Gedankens, wie war sie beschaffen? Wir wollen sehen.

Ich will zu dieser Absicht blos was davon in den drei Bänden des Hufelandischen Journals von 1813, 1814 und 1815 steht, durchgehen und zeigen, dass man die Kraft diese und jene Krankheiten zu heilen, einzelnen Arzneien blos zugeschrieben, ohne sie doch einfach und allein3 darin angewendet zu haben.[36] Also eine neue Täuschung statt der alten mit offenbar vielgemischten Recepten.[37]

Dass Wasserfenchel eine Vereiterung der Lunge geheilt habe, soll aus einer Krankheitsgeschichte (Hufel. Journal 1813, August) bewiesen werden, aus welcher aber (S. 110) hervorgeht, dass Huflattig, Senega und Isländermoos zugleich gebraucht ward. Mit welchem Rechte kann da der Anpreiser seines Verfahrens (was doch so gemischt war) zu Ende sagen: »Nach meiner Ueberzeugung hat der Mann seine wiedererhaltne Gesundheit diesem Mittel allein zu verdanken« –?

Solche Art von Ueberzeugungen gaben eben die unreine Quelle der Nutzanpreisungen der einfachen Arzneistoffe in der Materia medica!

So soll auch (ebend. 1813. Febr.) eine, verschiednen Quecksilberzubereitungen nicht weichende, veraltete Syphilis (im Grunde war's Quecksilberkrankheit!) binnen vier Wochen mit Ammonium geheilt worden seyn, wobei nichts, gar nichts Anderes gebraucht ward – als Kampher und Opium! Das ist also nichts?

Eine Fallsucht ward (ebend. 1813, März) blos durch Baldrian in 14 Monaten geheilt, wobei nichts Anderes gebraucht ward – als zugleich Oleum tartari per deliquium, die Tinctura Colocynthidis und Bäder von Kalmus, Münze und andere gewürzhafte Substanzen (S. 52. 53.). Das ist also nichts?

In einem andern Falle von Epilepsie (ebend. S. 57). ward zur Heilung auch nur Baldrian angewendet, doch auch noch anderthalb Unzen Pomeranzenblätter. Das ist also nichts?

(Ebend. 1814. Jan.) Bloss von vielem kalten Wasser Trinken soll Wahnsinn mit Nymphomanie[38] geheilt worden seyn. Es ward aber recht weislich Baldrianaufguss mit Tinctura Chinae Whyttii (S. 12) dabei gebraucht, damit die Wirkung des kalten Wassers ja recht bis zur Unkenntlichkeit getrübt würde; und so auch eine andre Kranke, welche diese starken Nebenmittel weniger oft (S. 16) dabei genommen habe.

Da will Tymon (ebend. 1814, Aug. S. 38.) im Aderlassen bis zur Ohnmacht das specifische Heilmittel der Hundswuth erprobt haben. Aber, siehe, er liess dabei alle zwei Stunden 300 Tropfen Laudanum in Klystiren geben und alle drei Stunden ein Quentchen Quecksilbersalbe einreiben. Heisst das, Aderlassen als alleiniges wahres Heilmittel der Wasserscheu erweisen?

Eben so war's (ebend. 1814, April), wo ein Aderlass mit einer ganzen Stunde Ohnmacht drauf, einem Wasserscheuen einzig und specifisch geholfen haben sollte; es wurden aber (S. 102) blos noch starke Gaben Mohnsaft, Jamespulver und Calomel bis zum Speichelflusse dabei angewandt. Ist das nichts?

Wenn der Fall (ebend. 1815. Jul. S. 8-16) die Heilkraft eines bis zur Ohnmacht getriebenen Aderlasses in schon ausgebrochener Wasserscheu, wie der Verfasser wünscht, beweisen sollte, so durften nicht spanische Fliegen aufgelegt und eingestreut, und noch weniger alle zwei Stunden Quecksilbersalbe eingerieben und grosse Gaben Calomel mit Mohnsaft bis zum heftigen Speichelflusse dabei gebraucht worden seyn. Lächerlich ist es, wenn uns der Verfasser zu bereden sucht (S. 20): »dass es des Calomels kaum bedurft hätte.«

Diese Kunst, für ein Lieblingsmittel den Ruhm einer Heilung zu erschleichen, während die andern[39] dabei angewendeten, nicht weniger starken Mittel sich ihn wenigstens zu gleichen Theilen zueignen können, ist unter den gewöhnlichen Aerzten eingeführte Sitte; der geneigte Leser wird gebeten, ein Auge zuzudrücken, und dem Verfasser zu erlauben, alles daneben Angewandte für nichts wirkend auszugeben.

Einen Tetanus (ebend. 1814. Sept. S. 119) soll blos Begiessung mit kaltem Wasser geheilt haben. Opium ward zwar dabei gebraucht, »weil aber der Kranke selbst dem Begiessen allein die Besserung zugeschrieben habe, so sey blos dem Begiessen die Heilung beizumessen.« Das heisse ich eine reine Quelle für die Arzneitugend-Lehre!

So soll auch (ebend. 1815, Sept. S. 128) die Heilkraft des Kali in der häutigen Bräune dargethan werden4; aber es wurden dabei noch andere sehr kräftige Substanzen gebraucht, nämlich beim Anfange des (vermutheten?) Uebels half zweien Kindern Weinsteinsalz mit dem Aufgusse der Senegawurzel. Soll nun, was beiden Substanzen zukommt, nur auf Rechnung der einen, des Laugensalzes geschrieben werden? Nach welcher unerhörten Logik?

Eben so soll Graphit (ebend. 1815. Nov. S. 40.) eine Menge alter fistulöser Geschwüre geheilt haben, und doch war ätzender Sublimat in der Mischung! Die Ausrede in der Note, dass Sublimat schon vorher vergeblich dagegen gebraucht worden, hilft hier nichts, er ward nicht allein[40] gebraucht, sondern in Verbindung mit Mohnsaft, einer Menge Holztränken und der lieben China factitia, – ward also durch die adstringirenden Theile dieser Nebenarzneien grösstentheils oder ganz zerstört, wie andere Metallsalze dadurch zerstört und zersetzt werden, und konnte also seine Hülfskraft unter diesem Gemische nicht zeigen. Und noch weniger gilt die Beschönigung des mercurialischen Zusatzes zum Graphit in derselben Note: »dass der Sublimat hier nur als Adjuvans dienen sollte.« Wenn diess gälte, so müssten die Arzneien auf Befehl des ordinirenden Arztes, nicht was ihre Natur mit sich brächte, nein! blos was der Arzt ihnen zu thun beföhle oder erlaubte (nicht mehr und nicht weniger), ausrichten. Kann man Willkühr und Anmassung weiter treiben? Welcher gesunde Menschenverstand kann den nach ewigen Gesetzen wirkenden Arzneien eine solche sklavische Folgsamkeit zumuthen? Wollte der Verfasser sehen, ob der Graphit allein helfen könne, und auch seine Leser davon überzeugen, so musste er ihn allein geben; setzte er aber zum Graphite Sublimat, so musste dieser wirken, was Sublimat wirken kann und seiner Natur nach muss, nicht was dem verordnenden Arzte beliebt, dass er thun oder nicht thun soll. Da haben wir wieder eine Cur, aus der nichts zu lernen ist. Graphit wird vorgespiegelt, allein geholfen zu haben, und doch war die ungeheure Arzneipotenz, Sublimat, dabei gebraucht worden.

Wo möglich noch ungegründeter ist die Heilung einer floriden Lungensucht durch Kohlenpulver. Da ward das Lindenkohlenpulver nie allein gebraucht, sondern stets Purpurfingerhut dabei. Also der rothe Fingerhut in der Mischung wirkt wohl nichts? Gar nichts? Ein so ungeheueres Medicament! Ist diess Selbst Verblendung,[41] oder will man uns etwas weiss machen und uns zum Besten haben?

Angelikwurzel soll (ebend. 1815. April. S. 19. 20.) eine Wassersucht, eigentlich einen unbekannten Krankheitsfall mit Gesckwulst-Symptomen (die quid pro quo ausgebende Pathologie rafft alles auch nur entfernt Aehnliche dieser Art unter dem Einen Namen »Wassersucht« zusammen) geheilt haben. O nein! es ward der Angeliktinctur noch Mohnsafttinctur und Aether, zuletzt auch Calmus noch zugesetzt. Kann ein verständiger Mensch nun den Erfolg allein auf Rechnung der Angeliktinctur setzen?

Niemand wird dem Driburger Mineralwasser grosse Arzneikräfte absprechen; aber wenn die Heilungen, welche in Hufel. Journ. 1815. April. S. 75. 80. 82. angeführt werden, demselben allein zugeschrieben werden, so muss man diess, da so viele starke Arzneien dabei gebraucht wurden, für täuschende Behauptung erklären, und eben so wenig kann die angebliche Heilung eines Magenkrampfs und öftern Erbrechens durch diess Wasser (S. 85 bis 93.), so wenig als die der Hypochondrie und Hysterie (S. 94 bis 97.) etwas für die Heilkraft des Driburger Wassers beweisen, theils wegen der Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit dieser Krankheitsnamen, theils aber, und vorzüglich, wegen der immerdar zugleich angewendeten Arzneien anderer Art. Eben so wenig, sage ich, können sie für das Mineralwasser beweisen, als wenn man einem einzelnen Manne nachrühmen wollte, dass er allein einen grossen Felsen gehoben habe, ohne die übrigen vielen, zugleich thätigen Mitarbeiter und die beihülflichen Maschinen mit in Anschlag zu bringen. Was sie alle zusammen in Vereinigung thaten, wäre sehr lächerlich, einem einzigen derselben zuzuschreiben.

Diess sind einige wenige Pröbchen von den vielen,[42] die ich aus den Schriften der neuern Aerzte anführen könnte, Pröbchen von angeblich einfacher Behandlung der Krankheiten, deren jede man mit einem einzelnen Mittel – um doch endlich einmal dessen wahren Nutzen auszufinden – geheilt zu haben vorgab, neben denen man aber immer noch eine und die andere Arznei, die oft noch kräftiger, als jene war, beizu brauchte. Obgleich der Arzt dabei auch noch so hoch betheuert: »jene einzelne Arznei«, der er den Ruhm der Heilung gern zueignen möchte, »habe es seiner Ueberzeugung nach allein gethan«, »der Kranke selbst habe den guten Erfolg blos diesem Mittel allein zugeschrieben«, »ihr traue er die Heilung allein zu«, »die Nebenarznei habe er nur als Adjuvans gebraucht«, oder »sie sey vorher schon einmal ohne Nutzen angewendet worden«; so helfen doch alle diese Ausflüchte nichts, um einen vernünftigen Mann, wenn noch andere, oder auch nur ein einziges Nebenmittel bei der Cur gebraucht worden, zu überreden, die Heilung sey einzig demjenigen zuzuschreiben, dem der Arzt aus Vorliebe gern die Ehre der Heilung zuwenden möchte. Es bleibt ewig unwahr, dass diesem die Heilung allein zukomme, und die Materia medica, die nun diesem Mittel, auf die Versicherung eines dergleichen unreinen Beobachters, eine solche Heilkraft beilegt, verbreitet blos Lüge, deren traurige Folgen für die Menschheit unabsehbar sind.

Ich will nicht leugnen, dass die Heilungen, wovon ich eben Proben anführte, sich der Einfachheit näherten. Sie kamen allerdings der Behandlung der Krankheit mit einem einzigen, einzelnen Mittel (ohne welches Verfahren man nie gewahr werden kann, ob die Arzneisubstanz das wahre Werkzeug der Heilung gewesen ist) näher, viel näher, als die jener allgewöhnlichen Schlendrianisten, welche[43] eine Ehre darin suchen, mehre zusammengesetzte Arzneiformeln neben einander ihren Kranken einzugeben, auch wohl täglich ein oder etliche neue Recepte dazu zu verschreiben.

Aber nur näher dem Einzelgebrauche gekommen zu seyn, heisst dennoch das ganze wahre Ziel wirklich und völlig verfehlt haben. Sonst könnte man auch Jemandem Glück wünschen, dessen Nummer in der Lotterie nur um eine einzige Ziffer, nur um eine Einheit von derjenigen Nummer verschieden gewesen, die das grosse Loos gewann; oder einen Jäger rühmen, der das Wild bei einem Haare getroffen hätte; oder einen gescheiterten Schiffsregierer, der dem Schiffbruche beinahe entgangen wäre, hätte nur ein Daumenbreit Entfernung von der Klippe nicht gefehlt.

Welchen Glauben mögen nun wohl die Angaben der Tugenden der Arzneien ab usu in morbis in der gewöhnlichen Materia medica verdienen? Was soll man zu ihren Lobpreisungen der Arzneien in diesem oder jenem Uebel sagen, da die Materia medica sie nur aus solchen Beobachtungen, oft auch nur aus den Ueberschriften der Beobachtungen der Aerzte zog, welche fast nie mit einem einzelnen Arzneistoffe heilten, sondern fast immer mit mehr oder weniger andern Mitteln gemischt, wodurch es, welcher von ihnen der Erfolg zuzuschreiben sey, eben so ungewiss blieb, als hätten sie nach dem Schlendriane einen grossen Mischmasch von Arzneien verordnet. Was soll man zu diesen, in der Materia medica den einfachen Arzneien mit Zuversicht beigelegten Heilwirkungen sagen, da die Arzneien fast nie einfach probirt worden sind? Nichts, als: dass unter Tausend solcher Angaben und Lobpreisungen kaum eine einzige Glauben verdient, weder eine allgemein-therapeutische,[44] noch eine klinische oder speciell-therapeutische Angabe. Es ist daher nicht zu leugnen:

Jedes Prädicat für eine Arzneisubstanz, die nie ohne Beigebrauch anderer, also nicht rein, folglich so gut als gar nicht geprüft worden war, ist Täuschung und Lüge.


»Wie aber, wenn alle Aerzte von jetzt anfingen, ein neues Leben zu führen, und in jedem Krankheitsfalle nur eine einzelne, ganz einfache Arznei verordneten? Würden wir da nicht zu der Kenntniss gelangen, was jede Arznei heilen könne.«

Dazu wird es nie kommen, so lange ein Hufeland lebt, welcher die Angaben der gemeinen Materia medica, auch aus den trübsten Quellen gezogen, für Wahrheit hält und recht ernstlich dem Gebrauche der Vielgemische von Arzneien in Krankheiten das Wort redet, in der guten Meinung: »Eine Arznei könne den mehren Indicationen in einer Krankheit nicht genügen; es müssten ihrer mehre zur Befriedigung der mehren Indicationen zugleich verordnet werden.«

Diese eben so schädliche, als gut gemeinte Behauptung stützt sich auf zwei ganz irrige Voraussetzungen, die eine, wodurch angenommen wird, »dass die ungegründeten Angaben der Tugenden der einfachen Arzneistoffe in den praktischen Büchern und der aus ihnen compilirten Materia medica gegründet wären und also die in dem Krankheitsfalle verlangten Indicationen wirklich decken könnten« (welches, wie wir gezeigt haben, und noch zeigen werden, unwahr ist) – die andere, »dass[45] man desshalb mehre Arzneien zur Befriedigung der mehren Indicationen in einer Krankheit zusammen verordnen müsse, weil eine einzelne Arznei nicht viel mehr, als einer einzelnen, aber nicht mehren und vielen Indicationen leisten könne.«

Was weiss aber die gemeine Materia medica, die nur aus ärztlichen unreinen Beobachtungen vom Erfolge des Gebrauchs mehrer Arzneien in einer Krankheit anführt, was den Aerzten beliebt hatte, einem einzelnen Ingredienze des Gemisches für Kräfte eigenmächtig zuzuschreiben, was weiss sie von dem grossen Reichthume der Wirkungen eines einfachen Arzneistoffs, sie, die nie die Kräfte einer einfachen Arznei einer reinen Prüfung, das ist, an gesunden, nicht mit Krankheitssymptomen beladenen Menschen unterwarf? Soll das, was die Materia medica aus den, in pathologisch benannten, fast nie genau beschriebenen, Krankheiten gemischt verordnenden Schriftstellern von den Kräften der Arzneien Falsches oder Halbwahres zusammengebettelt hatte, etwa der Umfang des ganzen Reichthums von Wirkungen seyn, die der Allmächtige seinen Heilwerkzeugen anerschaffen konnte? Nein! unentdeckte (doch mit Gewissheit zu entdeckende) Wunder seiner Weisheit und Güte hat er in die Heilwerkzeuge gelegt, dass sie Wohl und Hülfe seinen geliebten Menschenkindern bringen könnten in unendlich reicherer Masse, als die fehlsichtige Materia medica alter Schule auch nur ahnet.


So gewiss aber auch immer eine einzelne Arzneisubstanz auf einmal zur vernünftigen und zweckmässigen Behandlung eines Krankheitsfalles genüget,[46] so bin ich doch weit entfernt, die Arzt-Welt zu bereden, desshalb einfach, das ist, ein einzelnes Arzneimittel in jeder Krankheit zu verordnen, um zu erfahren, welche Arznei in dieser, und welche in jener Krankheit helfen könne, so dass daraus eine (Materia medica) Lehre der Tugenden der Arzneien ab usu in morbis entstände.

Fern sey es von mir, dergleichen anzurathen – ungeachtet diese Idee den gewöhnlichen Aerzten die erfolgreichste zu diesem Zwecke dünken konnte und gedünkt hat.

Nein! nun und nimmermehr kann die Lehre von den Arzneikräften die mindeste brauchbare Wahrheit aus den Krankheitsheilversuchen, selbst mit einzelnen Arzneien, in Absicht ihres usus in morbis schöpfen.

Diess wäre eine eben so unlautere Quelle, als alle genannten übrigen, bisher gangbaren; nie könnte eine nutzbare Wahrheit in Absicht des Heilzweckes jeder einzelnen Arznei daraus hervorgehen.

Man höre mich!

Ein solches Probiren der Arzneien gegen Krankheiten wäre nur zwiefach möglich. Entweder es müsste eine einzelne Arznei durch alle Krankheiten durchprobirt werden, um zu erfahren, in welcher von ihnen der Arzneistoff wirklich heilsam sey; oder es müssten gegen eine bestimmte Krankheit alle Arzneien durchprobirt werden, um zu erfahren, von welchem Mittel sie am gewissesten und vollkommensten geheilt werden könne.

Zuerst, von dieser letztern Unternehmung; so wird sich ergeben, was man auch von der erstern zu halten habe.

Durch ein millionfaches Probiren aller erdenklichen einfachen Substanzen in der Hausmittelpraxis gegen eine fest bestimmte, sich gleichbleibende Krankheit könnte allerdings, obgleich nur[47] casu fortuito, ein wahres, gewiss helfendes, specifisches Heilmittel von der grossen Zahl der, an derselben Krankheit leidenden Menschen und ihren Freunden ausgefunden werden.

Wer weiss jedoch, wie viel Jahrhunderte die Bewohner tiefer Thäler an ihren Kröpfen leiden mussten, ehe der Zufall, nach vergeblichem Durchprobiren vieler Tausende von Arzneien und Hausmitteln, den wunderlichen Einfall in den Kopf eines Menschen führte, dass der geröstete Badeschwamm das besthelfende dafür sey; wenigstens gedenkt erst im dreizehnten Jahrhunderte Arnald von Villanova seiner Kröpfe heilenden Kraft.

Man weiss wie viele Jahre lang nach ihrem ersten Emporkommen die Venusseuche von den schulgerechten damaligen Aerzten durch Hungercur, Abführungs- und andre nichtige, gegen den Araber-Aufsatz eingeführte Mittel vergeblich und unglücklich bekämpft ward, indess den vielen tausend Hülfe suchenden Kranken, unter vielen Vorschlägen der sie behandelnden Empiriker doch nach langem Ausprobiren einer unzähligen Menge Dinge gegen dieses schreckliche Uebel noch endlich das Quecksilber in die Hände fiel und sich als Specificum gegen diese Krankheit, trotz alles heftigen theoretischen Widerspruchs der arabistisch schulgerechten Aerzte, bewährte.

Das in den Sumpfgegenden des südlichen America's von jeher einheimische Wechselfieber, welches mit unserm Sumpf-Wechselfieber sehr übereinstimmt, hatte die daran leidenden Peruaner schon längst darauf geführt, unter den vielleicht unzähligen dagegen ausprobirten Arzneisubstanzen die Rinde des Chinabaums als die heilsamste dagegen zu erkennen, als sie erst im Jahre 1638 den Europäern in dieser Eigenschaft von ihnen bekannt gemacht ward.[48]

Und lange musste man die Uebel von Stoss, Fall, Quetschung und Verheben (Verbrechen, Verstauchen) ertragen, ehe der Zufall die Wohlverleih und ihre specifische Heilkraft darin, dem in harter Arbeit beschädigten gemeinen Volke bekannt machte; wenigstens war im sechszehnten Jahrhunderte Franz Joel der erste, der diese ihre Tugend erwähnt, bis im achtzehnten Jahrhunderte nach ihrer allgemeineren Anerkennung sie von J.M. Fehr und J.D. Gohl umständlicher bekannt gemacht ward.

So wurden durch tausend und abermal tausend blinde Proben, mit vielerlei Substanzen vielleicht von Millionen Menschen angestellt, endlich die passenden, die specifischen Hülfsmittel gegen die genannten Uebel durch Zufall gefunden. Nicht der Anwendung des Verstandes und reifer Kenntnisse, die der Allweise seinen Menschen zur Bedingung, sich von den, ihre Gesundheit beeinträchtigenden, unabwendbaren Uebeln in der Natur und ihren Verhältnissen – von den zahllosen Krankheiten – zu befreien, gemacht hatte, bedurfte die träge Menschheit zur Auffindung der Heilmittel gegen die genannten wenigen Uebel; es bedurfte keiner ächt heilkundigen Kenntnisse dazu. Bloses Durchprobiren aller erdenklichen, ihnen in den Kopf oder in die Hände fallenden Mittel war, freilich erst vielleicht nach Jahrhunderten, hinreichend, ihnen das Helfende zuletzt durch Zufall zu entdecken, was dann immerdar half, wie ein specifisches Mittel.

Diese wenigen specifischen Mittel gegen diese wenigen Krankheiten sind auch das einzige, was die bändereiche, gewöhnliche Materia medica an Wahrheit aufzuweisen hat, grösstentheils, ja fast einzig in der Hausmitte praxis erfunden.[49]

»Warum konnten aber auf diese Art gegen die benannten Uebel specifische, immerdar hülfreich befundene Heilmittel ausgefunden werden und nicht auch durch ähnliches Probiren ächte Heilmittel gegen die übrigen unzähligen Krankheiten?«

Weil alle übrigen Krankheiten blos als einzelne, von einander abweichende Krankheitsfälle vorkommen, oder als nie da gewesene, nie genau so wieder erscheinende Epidemien. Gegen jene wenigen genannten Uebel aber konnten desshalb, blos mittels Durchprobirens aller erdenklichen arzneilichen Dinge an ihnen, endlich festständige, specifische Heilmittel aufgefunden werden, weil das Heilobject, die Krankheit, festständig war; – es sind sich immer gleichbleibende Uebel, theils von einem, durch alle Generationen sich gleichbleibenden Miasm erzeugt, wie die venerische Schanker-Krankheit, theils sonst von gleicher Entstehungsursache hervorgebracht, wie das Wechselfieber von Sumpfaushauchungen, der Kropf der Bewohner tiefer Thäler und ihrer Ausgänge und die Quetschungen von Fall und Stoss.

Hätten die übrigen namenlosen Krankheiten auch mittels gleich blinden Probirens aller erdenklichen Substanzen an ihnen, ihr passendes (specifisches) Heilmittel zufallsweise finden lassen sollen, so hätten sie sämmtlich eben so festständig in der Natur bleibend existiren und stets auf dieselbe Weise, in derselben Gestalt erscheinen, und so immer als sich selbst gleiche Uebel zum Vorschein kommen müssen, wie jene wenigen genannten Krankheiten.

Nur für ein festständiges Bedürfniss ist eine festständige Befriedigung denkbar.[50]

Dieses Erforderniss zur Auffindung der passenden Hülfe auf empirischem Wege, und dass die sämmtlichen Krankheiten erst selbst festständig und sich selbst gleich seyn müssen, für die man eine gewisse Hülfe verlangt, dieses Erforderniss scheint die Arztwelt aller praktischen Schulen nicht nur geahnet, sondern tief gefühlt zu haben. In gewissen, bestimmten Formen, dachten sie, müssten sie sich die sämmtlichen Krankheiten des Menschen vorhalten können, wenn sie Hoffnung haben sollten, für jede eine passende, zuversichtliche Hülfe aufzufinden, nämlich (da sie keinen andern, bessern – scientivischen – Weg zur Anpassung von Hülfsmitteln auf Krankheiten kannten) mittels Durchprobirens aller vorhandnen Arzneien an ihnen –, eine Methode, die bei den gedachten wenigen festständigen so gut gelungen war.

Dieses Unternehmen, die sämmtlichen übrigen Krankheiten einzeln in bestimmter fester Form aufstellen zu können, deuchtete ihnen Anfangs gewiss sehr thunlich und ausführbar.

Diess ins Werk zu setzen, kamen sie auf den Einfall, aus dem unübersehbaren Heere aller verschiednen Krankheitsfälle, die in einiger Rücksicht einander ähnlichen, als selbstständige Formen anzunehmen, sie, mit eignen Namen versehen, in Pathologieen aufzustellen und sich durch die steten Abweichungen derselben bei ihrem Vorkommen in der Natur nicht abhalten zu lassen, dieselben für in sich abgeschlossene Krankheitsarten zu erklären, die sie vor sich haben müssten, um für jede derselben dann ein besondres Heilmittel finden zu können, wie sie sich schmeichelten.

So zogen sie die unendlichen Krankheitsfälle in einige selbst geformte Krankheits-Gebilde zusammen,[51] ohne zu bedenken, dass sich die Natur nicht ändert, die Menschen mögen sich auch diese oder jene falsche Vorstellung von ihr machen. Auf gleiche Weise zieht das vor die Augen gehaltene polyedrische Collektiv-Glas eine Menge äusserer, sehr verschiedner Gegenstände in ein einziges täuschendes Bild zusammen; sieht man aber hinter dasselbe genau in die Natur, so erblickt man ganz andre, ungleichartige Elemente.

Es entschuldigt sie nicht, dass sie diese eigenmächtige und naturwidrige Zusammenschmiedung angeblich festständiger Krankheitsformen aus der guten Absicht begingen, um so für jede einzelne eine sichre Hülfe aufzufinden mittels Durchprobirens der mancherlei vorhandenen Arzneien an ihnen, oder durch Zufall. Sie fanden natürlich auf diese Art keine sicher heilenden Hülfsmittel für ihre künstlich abgesonderten Krankheitsbilder, denn gegen Figmente und Phantasie-Gespenster sind reelle Waffen undenkbar!


Was demnach die Materia medica für Nutzangaben und Tugenden einzelner Arzneien in diesen erschlichenen und fingirten Krankheits-Arten aufweisen will, kann selbst auf die mindeste Gewissheit nicht Anspruch machen.

Denn was hat man gegen die erkünstelten pathologischen Krankheits-Arten und Krankheitsnamen mit allen, auch den vielen neu erfundnen Arzneien in den vielen Jahrhunderten Zweckmässiges ausgerichtet? Welche zuverlässige Hülfsnormen hat man gefunden?[52] Ist es nicht damit noch gerade so beim Alten, wie vor 2300 Jahren, dass durch alle die verschiednen Arzneien an den unzähligen in der Natur vorkommenden Krankheitsfällen zwar mancherlei gewaltsam umgeändert, aber gewöhnlich nur verderbt, am wenigsten zur Genesung gebracht wird? Und war es wohl eine Möglichkeit, dass es sich, selbst in diesem ungeheuern Zeitraume, hiemit ändern, bessern konnte, da das Alte blieb, wie es war, nämlich fingirte Heil-Objekte und fingirte Tugenden der Heil-Werkzeuge, deren wahre, reine Wirkung man nicht kannte? Wie konnten aus der Anwendung dieser gegen jene achte Hülfswahrheiten entspriessen?

Man werfe nicht ein: »dass doch nicht ganz selten in der Welt manche schwere Krankheit – die der Eine mit diesem, der Andre vielleicht mit einem andern pathologischen Namen belegte – dennoch, entweder durch ein einfaches Mittel in der Hausmittelpraxis, oder von den Aerzten durch ein ihnen glücklich in die Hände gerathenes Medicament oder Recept, wie durch Wunder geheilt worden sey.«

Allerdings ist diess zuweilen geschehen; kein weltkundiger Mann wird diess leugnen. Daraus ist aber nichts anders zu entnehmen, als was wir Alle schon wissen: »dass Arzneien Krankheiten heilen ›können‹; aber es ist aus diesen casibus fortuitis nichts zu lernen; sie stehen bis jetzt einsam in der Geschichte, noch ganz ohne Nutzen für die Praxis.«

Blos dem Elenden, dem diese seltne Schickung zu Theil ward, durch dieses ungefähre Mittel schnell (und dauerhaft?) geheilt zu werden, ist Glück zu wünschen. Aus dieser seiner wundervollen Heilung ist aber nicht das mindeste gelernt worden,[53] nicht die mindeste Bereicherung hat man für die Heilkunst daraus gewinnen können.

Aber eben diese Glücksfälle von ungefähren Heilungen haben, wenn sie Aerzten begegneten, die Materia medica gerade am meisten mit falschen, verführerischen Angaben von Heilwirkungen einzelner Arzneien ab usu in morbis angefüllt.

Denn da der gewöhnliche Arzt den Krankheitsfall fast nie genau beschreibt, auch umständliche Beschreibung eines Krankheitsfalles nach allen Symptomen für nichts Brauchbares hält, wenn er ihm nicht einen pathologischen Namen (benanntes Krankheits-Trugbild) zutheilen soll, so unterlässt er dann auch nicht, seinem ihm begegneten Glücksfalle einen jener pathologischen Trugnamen beizulegen, der folglich sammt dem Recepte oder dem Einzelmittel, welchem er im gemischten Recepte die Heilung allein zuschreibt, unter dem Anscheine eines Wahrheits-Fundes, den geraden Weg in die Materia medica findet, die zu ihren Nutzangaben ohnehin nichts anderes als pathologische Krankheits-Namen brauchen kann.

Wer dann in der Folge Lust und Belieben hat, einen ihm vorkommenden Krankheitsfall für dieselbe pathologische Krankheits-Art anzusehen (die Schule lehrt ihn so! wer hindert ihn also daran?), der macht sogleich von diesem herrlichen Recepte, von diesem köstlichen Specificum Gebrauch, auf das Wort des ersten Versicherers hin, oder nach der Materia medica. Er hat aber unter demselben pathologischen Trugnamen in der That einen, im Umfange seiner Symptome gewiss sehr verschiednen Krankheitsfall vor sich, und da erfolgt dann, was erfolgen muss, es hilft nicht; es schadet, wie natürlich.

[54] Diess ist die unreine, diess die unselige Quelle aller Angaben von Heiltugenden der Arzneien ab usu in morbis in der gewöhnlichen Materia medica, die dann jeden Nachahmer auf den Fehlweg führet.

Hätten die sogenannten Beobachter – was sie fast nie thaten – diese ihre durch Ungefähr geglückten Heilungen bloss mittels genauer Zeichnung des Krankheitsfalles nach allen Symptomen und mittels Angabe des gebrauchten Mittels der Welt bekannt gemacht, so hätten sie doch Wahrheit geschrieben, und die Materia medica hätte (da sie keinen pathologischen Namen bei ihnen fand) keine Lüge daraus ziehen können. Sie hätten, sage ich, Wahrheit geschrieben, die aber doch nur den einzigen Nutzen gehabt haben würde, jeden künftigen Arzt den genauen Krankheitsfall zu lehren, ausser welchem des Mittel nicht angewandt werden dürfe, wenn es passen und helfen solle; da dann jede falsche, also unglückliche Nachahmung hätte unterbleiben müssen. Aus einer solchen bloss genauen Beschreibung würde es offenbar geworden seyn allen Nachfolgern, dass der selbe, genau derselbe Krankheitsfall sich nie wieder in der Natur ereignet, folglich nie wieder durch Wunder geheilt werden könne.

So würden alle die vielen hundert trügerischen Angaben von Heilwirkungen einzelner Arzneien in der gewöhnlichen Materia medica unterblieben seyn, deren Treue und Glauben bisher darin bestand und noch besteht, dass sie die von den Schriftstellern rein fingirten allgemein-therapeutischen Arzneitugenden getreulich nachbetete, so wie die speciell-therapeutischen Angaben derselben ab usu [55] in morbis als baare Münze aus den Glücksfällen von Heilungen aufnahm, nämlich den vom sogenannten Beobachter seinem Krankheitsfalle untergeschobenen, pathologischen Krankheitsart-Namen, der präsumtiven Einzelarznei, als heilwirkender Potenz, beigesellte, welcher der Arzt unter allen dabei gebrauchten Mitteln in den gemischten Recepten den Heilerfolg vorzüglich, ja einzig, zugetrauet und beigemessen hatte.

So trübe und unrein sind die Quellen der gemeinen Materia medica! und so nichtig ist ihr Inhalt!

Welche Heilkunst mit so sehr gemisskannten Arzneien!

Aus dem Umstande, dass bereits für jene, obschon wenigen, festständigen Krankheiten festständige Heilmittel wirklich gefunden werden konnten5, scheint offenbar zu folgen, dass auch für alle festständige Uebel überhaupt festständige (specifische) Heilmittel möglich seyn werden.

Es sind auch schon, seit der einzig zuverlässige, homöopathische Weg, um sie zu finden, redlich und eifrig betreten ward, die specifischen Heilmittel, für mehre der noch übrigen festständigen Krankheiten ausgefunden worden.6[56]

Die übrigen bei Menschen vorkommenden, so äusserst unter einander abweichenden Krankheitsfälle[57] aber, sie mögen nun acute oder chronische seyn, wenn man letztere nicht auf irgend eine festsständiges Ur-Uebel zurückführen kann, sind, zum Behufe der Heilung, jeder als eigenartig anzusehen und nach dem Inbegriffe ihrer auffindbaren Symptome mit einem, ähnliche Symptome in seiner reinen Wirkung auf gesunde Körper zeigenden Arzneimittel heilkräftig zu behandeln.

Diese verbesserte Heilkunst, das ist die homöopathische, schöpft nicht aus jenen unreinen Quellen der bisherigen Materia medica, geht nicht jene uralten, träumerischen Irrwege, die wir hier erzählt haben, sondern den naturgemässen Weg. Sie wendet die Arzneien nicht eher gegen das Uebelbefinden des Menschen an, als bis sie ihre reinen Wirkungen, nämlich das, was jede im Befinden des gesunden Menschen ändern kann, erst in Erfahrung gebracht hat – reine Arzneimittellehre.

Hiedurch erst wird das Vermögen derselben auf das menschliche Befinden kund; hiedurch erst offenbaret[58] sich von selbst ihre wahre Bedeutung, das eigenthümliche Wirkungsbestreben jeder einzelnen. Arznei hell und klar, ohne allen Trug, ohne alle Täuschung oder Vermuthung; in den von ihnen erfahrnen Symptomen liegen schon alle Heil-Elemente derselben offen da, liegt schon die ganze Beziehung auf alle die Krankheitsfälle, die jede passend (specifisch) heilen kann.

Die Krankheitsfälle werden nach dieser verbesserten Heil-Lehre, wie sie sich auch in ihrer unendlichen Verschiedenheit aussprechen mögen (so lange sie nicht auf irgend ein tiefer liegendes, festständiges Ur-Uebel zurückgeführt werden können) jedesmal als neu und nie vorgekommen, das ist, genau so wie sie sich zeigen, angesehen und mit allen Sinnen nach ihrer Gestalt, das ist, nach den an ihnen bemerkbaren Symptomen, Zufällen und Befindensveränderungen aufgezeichnet, um nun aus den nach ihren Wirkungen auf die ungetrübte Gesundhheit vorher ausgeforschten Arzneien diejenige als Heilmittel auszuwählen, welche die dem Krankheitsfalle ähnlichsten Symptome, Zufälle und Befindensveränderungen eigenthümlich selbst erreg, und sie dann auch, wie die Erfahrung lehrt, in sehr kleiner Gabe besser und vollkommner heilt, als jede bisherige Heilmethode.

Eine solche Lehre der reinen Wirkungen der Arzneien verspricht keine täuschende, lügenhafte Hülfe für Krankheits-Namen, erdichtet keine allgemein-therapeutischen Arznei-Tugenden, enthält aber stillschweigend die Heil-Elemente für die genau erkannten (nach allen ihren Symptomen ausgeforschten) Krankheitsfälle, und wird so dem, welcher für diese jene nach der passendsten Aehnlichkeit zu wählen[59] sich die Mühe nimmt, zur reinen unerschöpflichen Quelle Menschen errettender Hülfsleistungen.


Leipzig, im April 1817 und Köthen im Januar 1825.


Samuel Hahnemann.

Fußnoten

1 Wenn sie den Arzneien keine andern Wirkungen anzudichten wussten, so mussten es doch wenigstens ausleerende seyn. Ausleerend auf diese oder jene Art sollten und mussten sie seyn, denn ohne auszuleeren, ohne den Krankheitsstoff auszuleeren, den ihre grobmateriellen Begriffe in allen Krankheiten suchten, konnten sie sich nicht denken, dass eine Arznei heilen könne. Da nun von dem hypothetisch angenommenen Krankheitsstoffe, ihnen zufolge, die Erzeugung und die Fortdauer der Krankheiten herrühre, so sannen sie auf alle die möglichen Ausscheidungswege aus dem Körper, durch welche sie diesen fatalen Stoff durch die Arzneien wollten ausführen lassen, und die Arzneien mussten ihnen schon den Gefallen thun, das Amt des Ausklaubens und Auslesens dieser fingirten Krankheitsstoffe aus den mancherlei Gefässen und Säften, so wie des Ausfegens und Fortschaffens derselben durch Harn, Schweiss, Speichel, Brustauswurf und Stuhl zu übernehmen. Diess waren die Hauptwirkungen, die sie von den Arzneien verlangten und hofften; daher schier alle Arzneien in der Materia medica dergleichen Rollen übernehmen mussten.

2 Gerade die heftigsten Arzneien, Belladonna, Fingerhut, Brechweinstein, Arsenik u.s.w. haben fast gar keinen Geruch.

3 Es ist wahr, ein Einziger in diesen drei Bänden, Ebers, stellte mit einem blos einzelnen Mittel Versuche in verschiednen Krankheiten an (Hufel. Journal 1813, Sept. und Oct.). – Mit Arsenik ganz allein. Aber welche Versuche? Wiederum solche, aus denen die Heilkraft dieser Substanz unmöglich klar werden konnte. Denn erstens wurden die Wechselfieberfälle, in denen er den Arsenik brauchte, gar nicht genau beschrieben, theils war die Gabe darnach, dass weit mehr Schaden, als Nutzen daraus erfolgen musste. Indess sind seine offenen Geständnisse von dem damit angerichteten Schaden unendlich lobwürdiger, als die vielen angeblichen Heilgeschichten, die wir von Andern haben, wo Arsenik in den grössten Gaben nichts, als Gutes, und gar nichts Nachtheiliges gethan haben soll. Ebers versichert, die Gabe, die er angewandt habe, sey so klein gewesen, dass sie in den meisten Fällen noch nicht »einen Gran« betragen habe. Bei einer Kranken habe er in 24 Stunden zusammen »gar nur 2/9 Gran gegeben« (St. 55), und sie kam in Lebensgefahr, woraus zu ersehen sey, dass auch eine so geringe Gabe die fürchterlichsten Uebel erregen könne. Das wissen die redlich beobachtenden Aerzte schon längst; Ebers stand aber, von der Materia medica verführt, in dem Wahne, dass 2/9 Gran in 24 Stunden eine sehr kleine Gabe Arsenik sey. Eine ungeheure, eine in Krankheiten unverantwortliche Gabe ist es, spricht die reine Erfahrung! Wo hat der Arsenik jemals von sich hören lassen, dass er in Krankheiten granweise oder auch nur zehntelgranweise gebraucht seyn wolle? Vielfältige Erfahrungen mit immer kleinern und kleinern Gaben (in immer mehr und mehr verdünnter Auflösung) haben gezeigt, dass ein Tropfen, welcher ein Decilliontel eines Grans Arsenik in Auflösung enthält, eine in vielen Fällen noch allzu starke Gabe sey, selbst wo der Arsenik genau für den Krankheitsfall passt. Hätte er diess gewusst, er würde sich nicht gewundert haben, dass seine 2/9 Gran die Kranke in Lebensgefahr gestürzt haben. Also auch aus diesen, sonst offenbar sehr ehrlichen Versuchen ist nichts zu lernen, selbst das nicht, was der Arsenik nicht heilen könne, weil die ungeheuern Gaben allen guten Erfolg hinderten und unmöglich machten.

4 Der eine Fall, wo das Laugensalz allein geholfen haben sollte, war der eines Kindes auf dem Lande, was der Verfasser nicht zu sehen bekam, und nur aus der Beschreibung diese Krankheit vermuthete.

5 Freilich nur mittels blinden Durchprobirens aller nur erdenklichen Arzneien, weil es der bisherigen Medicin gänzlich an einem kunstgemässen Auffindungswege fehlte.

6 Auf solchem homöopathischen Wege, das ist, nach dem Inbegriffe der Symptome des ehemals in Europa als ansteckende Seuche von Zeit zu Zeit herrschenden, glatten Scharlachfiebers, mit rothlaufartiger Hellröthe (welches seit 1800 von dem aus der Gegend der Niederlande her in unsre Länder eingebrochenen Purpurfriesel – rothem Hund – fast gänzlich verdrängt und von, jenes nicht kennenden, Aerzten fälschlich mit dem Namen »Scharlachfieber« verwechselt worden war) fand ich das specifische Heil- und Vorbauungsmittel jenes ächten, glatten Scharlachfiebers in den kleinsten Gaben der Belladonna, welche ein sehr ähnliches Fieber, mit sehr ähnlicher, krebsrother Hautröthe eigenthümlich selbst zu erzeugen fähig ist. Eben so fand ich nach dem Symptomen-Inbegriffe, welche das erwähnte Purpurfriesel in der besondern Art seines rein entzündlichen Fiebers mit agonisirender Angst und Unruhe zeigt, dass der Napell-Sturmhut das specifische Heilmittel (zuweilen mit rohem Caffee abgewechselt) seyn musste und die Erfahrung bewies, dass es so sey. Die Symptome der häutigen Bräune finden sich in der reinen Arzneimittellehre unter den Symptomen, welche Röstschwamm und kalkerdige Schwefelleber für sich hervorbringen, in Aehnlichkeit, und, siehe, beide in Abwechselung und kleinster Gabe heilen diese fürchterliche Kinderkrankheit, wie ich zuerst fand. Keine bekannte Arznei vermag die eignen Zustände des epidemischen Keichhustens in Aehnlichkeit darzubieten, als der Sonnenthau, und diese bei aller Anstrengung der allopathischen Medicin entweder ins Chronische sich ausdehnende oder tödliche Kinderkrankheit wird sicher und gewiss, wie ich mich zuerst überzeugte, von dem kleinsten Theile eines Tropfens der decillionfachen Verdünnung des Saftes der Drosera rotundifolia in wenigen Tagen geheilt. Welcher Arzt vermochte vor mir und vor Erscheinung der reinen Arzneimittellehre die innere Feigwarzenkrankheit sammt ihren äussern Auswüchsen gründlich zu heilen? Man war damit zufrieden, bloss die Auswüchse so oft zu brennen, zu ätzen, abzuschneiden oder abzubinden, so oft sie auch wieder aus dem Innern hervorsprossten; Niemanden gelang es, sie zu heilen. Aber die Symptomen der Thuya occidentalis belehrten mich, dass sie diese Krankheit heilen müsse und, siehe, ihr sehr verdünnter Saft in sehr kleinen Gaben heilt wirklich die innere Feigwarzenkrankheit, so dass auch die äussern Auswüchse verschwinden – also gründlich. Mit einem Aufwande von unzähligen, empirisch ergriffenen Mitteln quält der Allopath die Herbstruhr-Kranken, und mit welchem erbärmlichen Erfolge! Die Symptomen des ätzenden Quecksilbersublimats aber (m.s. die r. Arzneimittellehre) sind denen der Herbstruhr so ähnlich, dass diese Arznei ihr specifisches Heilmittel seyn muss, wie mich auch schon vor vielen Jahren die Erfahrung überzeugte, dass gewöhnlich nur eine einzige Gabe von einem kleinen Theile eines Tropfens der trillionfachen Verdünnung der Auflösung eines Grans von mercurius sublimatus corrosivus zur schnellen vollkommnen Heilung derselben hinreiche.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Reine Arzneimittellehre. Bd. 3, Dresden, Leipzig 21825, S. 10-60.
Lizenz:
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