Überwundene Etikette

[37] Anstand, der in der äußeren Form erstarrt ist, Höflichkeit, die nicht im Inneren wurzelt, sondern im Äußerlichen, das ist die Etikette. Ein Ding, das mit der Zeit unter Umständen den Menschen seiner Menschlichkeit berauben kann. Der sonstige Anstand dagegen bringt den Menschen zur Menschlichkeit zurück, zur Rücksichtnahme, zum Wohlwollen mit dem Nächsten. Die spanische und die französische Geschichte liefern Beiträge zum Kapitel Etikette. Einer der spanischen Könige wäre um ein Haar an Kohlenoxydgas gestorben, weil der Grande nicht da war, dem es oblag, Fenster und Türen zu öffnen. Es war ein Glück, daß ein Fremder, ein Verächter der Etikette, als erster das Zimmer betrat, die Scheiben einschlug und so den König rettete, ohne das verbotene Fenster zu öffnen.

Der Königin Maria Antoinette geschah es einmal, daß sie beim Lever halbnackt, frierend und zähneklappernd warten mußte, weil die Fürstin, die die Ehre hatte, ihr das Taghemd überziehen zu dürfen, in der letzten Minute irgendwie aufgehalten worden war. Die arme Königin kreuzte die Arme über ihrer bloßen Brust und ließ ihrem Unmut freien Lauf: »Es ist unausstehlich. Wie lästig!«

Was mußten aber erst die armen spanischen Königinnen empfinden, wenn ihre schwere Stunde gekommen war und sie ihr Kind vor dem versammelten Hof zur Welt bringen sollten! Den französischen Königinnen ging es übrigens um kein Haar besser, und die Geschichte weiß davon zu erzählen, daß ein kleiner Rauchfangkehrer, der beim Kaminputzen zufällig im Prunkschlafgemach der Königin landete, seelenruhig die Geburt[37] des kleinen Dauphins abwartete, ehe er seine Arbeit fortsetzte. Es gab so viel Menschen in dem kleinen Raum, daß anfangs niemand seine Gegenwart in dem dunklen Kamin entdeckte.

Die Verstiegenheit der Etikette ging an manchen Höfen so weit, daß sie an Unverschämtheit grenzte. Es muß auf einen gebildeten Menschen äußerst peinlich wirken, wenn er liest, wie man das jungverheiratete Königspaar zu Bette geleitete. Der »zivilisierte« Europäer hatte damals kaum mehr das Recht, über andere Völker die Nase zu rümpfen. Man wird es nicht viel schlimmer finden, daß der gebildete Chinese es für höflich hält, nach der Mahlzeit zu rülpsen – als Huldigung für den Hausherrn. Und daß der Hausherr, will er höflich sein, den Gast zu begleiten hat, dahin, wohin dieser sich allein zurückziehen möchte.

Kehren wir lieber nach Europa zurück. Haben wir auch die Etikette in ihren starrsten Formen glücklich abgelegt, so gibt es doch Reste davon, die in unser »soziales« Zeitalter nicht recht passen wollen.

Ist die Anstandsform wirklich aus dem »Anstand« geboren, dann geht sie ohne Unterschied alle an. Die Etikette dagegen bildet nur den Maßstab für die Vornehmheit der oberen Zehntausend, die Überfluß an Zeit, an Geld und andern materiellen Möglichkeiten haben. Die Zeit dieses klassenmäßigen Anstandes ist vorüber, weil heute vom einfachsten Arbeiter bis zum größten Genie alle zum Aufbau einer neuen Kultur berufen werden und einer wie der andere auf dem Platz, wohin ihn Gott gestellt hat, nötig ist.

Lassen wir also veraltete Begriffe von Höflichkeit oder gar »Feinheit« ruhig fallen, die in das Bild eines tüchtig schaffenden Menschen nicht mehr recht passen. Man ist nicht mehr vornehm, wenn man an einem Werktag zwischen halb zwölf[38] und zwölf einen offiziellen Besuch macht, man fällt höchstens lästig. Alle Hausfrauen – Luxusdamen ausgenommen – haben zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun und empfinden, während sie hastig die Küchenschürze ablegen, nur das eine: »Wäre der Kerl nur schon draußen!«

Menschen der Arbeit belastet man nicht mit Antritts- und Dankvisiten. Eine Tasse Tee, die man einmal irgendwo getrunken hat, ist doch kein Almosen, für das man sich binnen vierundzwanzig Stunden, wie ehemals, bedanken muß. Geradezu grausam sind Kondolenzbesuche. Der Schmerz eines Menschen sollte kein Anlaß sein zu mondänen Verpflichtungen. Leidet der Betroffene wirklich unter dem Verlust, dann reißt man mit solchen Besuchen vernarbende Wunden aufs neue auf, und war der Tod eine Erlösung für alle, wozu dann diese Heuchelei? Trost spenden können und dürfen nur ganz herzensnahe Menschen, die tatsächlich helfen können und wollen, alles andere ist schal und grausam.

Es gibt noch andere widersinnige Kleinigkeiten, die wir abstellen könnten. Bei offiziellen kurzen Besuchen pflegen die Damen das Zimmer in Überkleidern zu betreten und auf die Aufforderung (die nicht immer ausgesprochen wird), die Kleider abzulegen, zu warten. Wäre es nun nicht kultivierter, ob man nun für fünf Minuten oder eine Stunde kommt, die Überkleider im Vorzimmer zurückzulassen? Wozu dieses Dokumentieren seiner Absicht, nur zehn Minuten zu bleiben, und dabei, wenn es draußen regnet, Polstermöbel mit den feuchten Mänteln zu gefährden, oder wenn es draußen kalt ist, im warmen Zimmer ein Schwitzbad zu nehmen und draußen sich zu verkühlen? Auch aus dem schriftlichen Verkehr könnte manche verstaubte Etikette ohne Schaden für die Höflichkeit verschwinden. Das »Hochwohlgeboren« ist ja außer Gebrauch gekommen,[39] noch aber gibt es viele unnötige Titel und Anreden, unterwürfige Formeln, die der heutigen Zeit widersprechen, wie beispielsweise die schöne Schlußformel: »Ich bin mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener ...«

Der Österreicher sagt heute noch gerne, wenn auch schon seltener als einst: »Küss' die Hand.« Er tut es sogar hin und wieder noch auf der Straße. Das sollte nun wirklich nur gegenüber älteren Damen geschehen, die man Grund hat zu verehren, oder einer sehr gut bekannten oder geschätzten Dame gegenüber. Niemals sollte ein Mädchen oder eine Frau diesen Gruß: »Küss' die Hand« zu einem Manne sprechen, und wäre sie in noch so untergeordneter Stellung. Achtung gegenüber dem Vorgesetzten ist nötig – aber Unterwürfigkeit nicht, die entehrt beide. Der Umstand, daß ich einen Menschen für seine Arbeit bezahle, stellt mich noch nicht menschlich über ihn, er hat mir dafür nicht die Hand zu küssen, als hätte ich ihm eine Gnade erwiesen. Bei gegenseitiger Zufriedenheit genügt es, sich gegenseitig zu danken.

Der Handkuß gehört nicht auf die Straße, in die Trambahn oder den Geschäftsladen, er paßt nur dorthin, wo Festlichkeit oder warme Intimität herrscht. Der Handkuß soll eine Geste der Achtung und der Herzlichkeit sein, frei von jeder Leidenschaft. Man »küßt« nicht die Hand, man berührt sie leicht mit den Lippen, man reißt auch die Hand nicht hoch, sondern neigt sich darüber. Der Handkuß ist eine respektvolle Grußform, die ausschließlich der Frau zukommt. Einem jungen Mädchen küßt man nicht die Hand, nur der Bräutigam darf es der Braut gegenüber. Einen groben Taktfehler begeht derjenige, der einer Dame die Hand küßt, der andern aber, die im gleichen Alter steht und mit ihm gleich gut bekannt ist, etwa nicht. Man muß entweder beiden die Hand küssen oder[40] gar keiner. Schon gar nicht rechtfertigt eine verschiedene soziale Stellung der beiden Damen ein solches Verhalten. Wohl aber darf man ohneweiters eine alte, ehrwürdige Dame mit einem Handkuß und eine jüngere mit einem Händedruck begrüßen; in einem solchen Falle wird jeder wissen, was der Handkuß bedeuten soll: Respekt vor dem Alter, nicht aber Bevorzugung der einen Persönlichkeit vor der andern. Hat sich ein Mann aber zur Gewohnheit gemacht, der Dame die Hand zu küssen, dann soll er es regelmäßig tun, sonst bringt er sie in Verlegenheit, täte er es einmal nicht: »Was hab' ich ihm heute angetan, daß er mich so brüskiert?«

Man hat oft gefragt: Soll eine Dame sich überhaupt die Hand küssen lassen oder soll sie lieber ihre Hand zurückziehen? Letzteres sollte sie, meiner Meinung nach, nicht tun, denn es sieht etwas komisch aus, wenn dem Manne die Hand vor der Nase weggezogen wird. Er macht dann nicht gerade den Eindruck eines Siegers und die Frau sieht wie eine verschämte Landpomeranze aus, die sich ziert. Zieht man den kameradschaftlichen Händedruck wirklich vor, dann ist es besser, es einmal unter vier Augen offen und nachdrücklich zu sagen.

Die Dame muß in vielem der Höflichkeit des Mannes entgegenkommen. Sie reicht dem Manne die Hand, er darf es nie als erster tun, aber sie soll bei der Vorstellung auf diese Geste nicht warten lassen, und wenn sie dabei auch die Hand nicht schütteln soll, so soll sie ein freundliches Lächeln doch nicht unterlassen.

Einige Frauen haben die Gewohnheit, kurz und hochmütig mit dem Kopf zu nicken – sie halten das für vornehm, es ist aber nichts anderes als das Zeichen der kulturlosen Emporkömmlinge.

Betritt ein Gast das Zimmer, so erhebt sich der anwesende[41] Mann immer von seinem Platz, es wäre denn, daß besonders hohes Alter oder ein überragender gesellschaftlicher Rang ihn davon entheben. Die Dame, das Mädchen stehen nicht auf, wenn ihnen ein Fremder vorgestellt wird. Hohe Persönlichkeiten oder Respektspersonen verlangen auch hier eine Ausnahme. Trifft ein Mädchen seinen Lehrer in einer Gesellschaft, so wird es sich selbstverständlich erheben, und wäre er noch so jung. Einmal ist das Disziplin und zum andern die Achtung, die dem Stande, nicht der Person gebührt. Wird eine Dame mit der andern bekannt gemacht, so erhebt sich die sitzende, außer sie wäre viel älter. Daß Hausfrau und Haustochter aufstehen, um einen eintretenden Gast zu begrüßen, versteht sich wohl von selbst.

Auch die Anrede »Gnädige Frau«, wie sie in Österreich noch gebräuchlich, ist manchmal ein Unfug, nur haben wir dafür noch keinen richtigen Ersatz. Im öffentlichen Leben oder in Geschäften wird die Frau im Pelzmantel immer als Dame oder gnädige Frau angesprochen oder behandelt, nicht aber die einfach gekleidete. Das Geld aber, das die Dame bezahlt, hat nicht mehr Wert als das der einfachen Frau, und die Verkäuferin hat nicht das Recht, ein Urteil zu fällen, ob die eine eine »Dame« und die andere bloß eine »gesellschaftlich Minderwertige« ist. Für den Kaufmann sollte jeder anständige Kunde schätzenswert und seine Anrede vollkommen gleich sein. Der Franzose hat es da einfacher, er sagt »Madame« zu jeder Frau, und es wäre eine Aufgabe für unsere Sprachgewaltigen, auch in der deutschen Sprache ein Wort ausfindig zu machen, das zwanglos Unterscheidungen beseitigt, die nicht mehr zeitgemäß und mitunter verletzend sind. Wie wäre es mit dem altdeutschen Wort »Fraue«? Seine Innigkeit ziemte wohl einer Königin so gut wie einer Bäurin. Es könnte auch das bei uns eingebürgerte Wort Dame sein.[42]

Noch eine verstaubte Etikette: die Pflicht der Konversation. Warum muß man reden, wenn man sich nichts zu sagen hat? Warum soll man nicht auch manchmal so wie der Araber schweigen dürfen, ohne deshalb unhöflich zu scheinen? Warum soll man sich nicht dem aufgetischten gebratenen Fisch widmen dürfen, ohne gleichzeitig zwei Nachbarinnen zu unterhalten, auf die Gefahr hin, an einer Gräte zu ersticken?

Nicht minder verstaubt ist die Etikette der Kleidung, besonders die der Herren. Wem gefällt wohl der Frack ehrlich, der Gentleman und Kellner ziert? Wie die Pinguine sehen unsere Herren der Schöpfung darin aus. Da hat sich die Frau dem starken Geschlecht wirklich überlegen gezeigt, sie hat sich aus dem Panzer des Mieders und aller sonstigen Beengungen glücklich herausgearbeitet. Wann wird sich Adam von der Zwangsvorstellung der schwarzen Festkleidung befreien? Wann wird er sich entschließen, auch schön und hell zu werden?

So ist es aber: Ein König, der es wagte, dem glänzendsten Thron der Welt zu entsagen, um einer Liebe leben zu dürfen, wird es nicht wagen, sich von Frack und steifem Kragen zu trennen, wenn er zum Tanze gehen will.

Eine sonst ernst zu nehmende ausländische Zeitung brachte einst (der Name des Autors ist mir entfallen) den Vorschlag, die Theaterdirektoren sollten Garderoben einrichten, in denen die Besucher ihr Alltagsgewand gegen eine geringe Leihgebühr mit einem bunten Domino vertauschen können. Der normale Arbeitsmensch der Großstadt empfinde es als eine schwere Belastung, daß er nach einem Tag voll Mühe nach Hause haften und sich umziehen müsse, wenn er abends ins Theater gehen will, und verzichte oft auf das Vergnügen, weil es zu mühsam zu erringen sei. Heute scheint uns der Gedanke noch komisch und lächerlich zu sein, aber was, im Ernste, wäre dagegen zu[43] sagen? Das Bild des Theatersaales könnte nur gewinnen, wenn es farbiger würde, und der Etikette könnte es nicht schaden, wenn sie auf den tagsüber tätigen Menschen mehr Rücksicht nähme als auf solche, die Muße im Überfluß haben. Vielleicht aber findet ein deutscher Künstler für schwerarbeitende Menschen eine eigene Abendkleidung, in die man leicht schlüpfen und die man in der Frühe unter dem Arm mitnehmen könnte.[44]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 37-45.
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