Auf dem Land und in den Bergen

[107] Wandert man von der Hauptstadt in die Berge der Umgebung, so steht wohl da und dort eine Tafel mit folgender Inschrift:


»Lieber Wandrer, merk dir das:

Geh auf dem Weg und nicht im Gras,

Damit man leicht und ohne Müh'

Dich unterscheiden kann vom Vieh!«


Dazu habe ich nicht viel zu sagen, als höchstens noch: Hab auch Respekt vor dem althergebrachten Lebensstil und den Anstandsbegriffen der Bauern. Was am Meeresstrand und in städtischen Bädern selbstverständlich ist, gilt noch lange nicht auf dem Lande. Man wird also besser darauf verzichten, sei es auch noch so verlockend, im Badetrikot oder in sehr kurz geschürzter Kleidung oder im Pyjama Furore machen zu wollen. Sitten und Gebräuche müssen respektiert werden. Wir müssen sie, auch wenn sie uns befremden, zur Kenntnis nehmen. Den überlegenen, manchmal allzu lauten Ton des Städters lassen wir daheim, dem Bauer imponiert das nicht, er macht sich höchstens darüber lustig. Und unsere Unrast müssen wir auch daheim lassen. Wer sich einbildet, er müsse etwas Tempo in die Geschichte bringen, der irrt sich. Tausendjährige Erfahrung hat dem Landmann den Dienst an der Muttererde beigebracht, und nur die ruhige, stete Art des Arbeitens macht es überhaupt möglich, vom Hahnenschrei bis in die sinkende Nacht durchzuhalten. Es gibt keinen Rekord, wer etwa in der[107] Stunde mehr Garben bindet, sondern es geht darum, die ganze Ernte zur rechten Zeit heimzubringen und darüber hinaus noch Kraft zu behalten, um Menschen und Vieh zu versorgen. »Zeit lassen!« begrüßen sich in manchen Tälern Tirols die Bauern, und wahrhaftig ist der Gruß nicht die kleinste der Wahrheiten.

Austausch geistiger Güter ist jedermann nützlich. Bringt man aber dem Bauern Neues und Unbekanntes, so kann man nicht vorsichtig und zurückhaltend genug sein. Der Bauer hängt an seinen Lebensgewohnheiten, seinen Anschauungen und Umgangsformen. Man soll ihn nicht unter dem Vorwand, ihn aufzuklären oder ihm den Fortschritt der Zeit zu bringen, mit sich selbst in Konflikte verwickeln oder ihm Werte zerstören, an deren Stelle wir keine besseren setzen können.

Geht der Bauer in die Berge, so geht er still und ohne unnötigen Lärm. Was kann man nicht alles erleben, wenn man fast unhörbar durch den Wald schreitet! Wenn sein Getier sich ungestört fühlt und nicht die Flucht ergreift vor einem grölenden Haufen »Mensch«. Nur eins paßt in die Bergwelt und gehört zu ihr wie das Läuten der Kuhglocken, der Jodler der Hirten und Sennen. Wenn dieser melodische Ruf von einer Alm herüberklingt – und von einer andern her die Antwort schallt, so ergänzt sich damit die Harmonie der Natur, und nichts daran stört uns, weil sich nur ein Ton in das Orchester gefügt, der darin gefehlt hat.


Natur (S. 109)
Natur (S. 109)

Und noch eins hab' ich mir erzählen lassen von einem Offizier, der's im Krieg erlebt hat. An einem späten Sommerabend bezog er auf einer Bergwiese mit seiner Mannschaft ein Zeltlager in der Höhe von etwa 2500 Meter. In der untergehenden Sonne leuchtete die phantastisch zerzackte Kette des Brentastockes in brennendem Rot herüber. Und während die Mannschaft die Zelte aufschlug, kam noch ein Bataillon Infanterie zur Höhe gestiegen, um hier ebenfalls zu nächtigen.

Der Bataillonskommandant war offenbar ein Poet. Denn er ließ die Musik antreten, und angesichts der geisterhaft schönen Abendwelt der Dolomiten erklangen bald die ersten Takte von Richard Wagners »Feuerzauber«, untermalt von dem Dröhnen der Geschütze, die einige Kilometer weiter weg ihr abendliches Duell ausfochten.

Ich war nicht dabei, aber ich glaube es dem Erzähler, wenn er mir versicherte, daß sogar seinen harten Fahrkanonieren das Wasser in die Augen stieg.

In den Bergen legt die Kameradschaft schwerere Pflichten auf als anderswo. Das versteht sich von selbst. Hier ist es der Schwächste, der weniger Leistungsfähige, der das Maß der Leistung bestimmt, und ehe er am Ende seiner Kraft ist, wird man ihn nach Möglichkeit entlasten. Auch der ganz Fremde wird zu Hilfe eilen, wenn es nötig ist, und er ist damit noch lange nicht gefällig, sondern erfüllt nur seine Kameradenpflicht.

Es gibt geschriebene und ungeschriebene Hüttengebote in den Bergen. Alle setzen den charaktervollen Menschen mit guter Kinderstube voraus. Ein solcher macht in der unbewirtschafteten Hütte Ordnung, ehe er absperrt, und vergißt nicht auf die Hüttenkasse. Er hält die Nachtruhe heilig und hamstert nicht alle Decken für sich allein, während die andern frieren müssen.


Das »Ich« (S. 113)
Das »Ich« (S. 113)

Kehren wir ins Tal zurück. Der Autobesitzer kennt ohnehin seine Fahrvorschriften. Darüber hinaus gibt es aber noch Anstandspflichten für ihn. Man muß zum Beispiel nicht unbedingt immer durch die größten Pfützen fahren, um den wehrlosen Fußgänger vom Kopf bis zum Fuß anzuspritzen, man muß auch nicht, weiß Gott wie lange, vor dem Hause hupen, um sich den Weg zur Wohnung der Fahrtgenossen zu sparen.[111]

Wie weit man das Auto dem Gast zur Verfügung stellen will, muß jedem der eigene Takt sagen. Besonders dem, der selber keines hat, macht eine kleine Spritzfahrt oft viel Vergnügen, gar wenn noch Kinder dabei sind. Natürlich aber weiß jedermann, daß das Fahren mindestens Benzin und Reisen kostet, und wird von seinem Gastgeber nicht Unbilliges erwarten. Auf der Landstraße wird man als Automobilist nicht jeden Walzbruder aufnehmen, das ist durchaus begreiflich, doch wird man verstehen, Ausnahmen zu machen. Man macht nicht nur dem andern ein Vergnügen, wenn man, besonders bei heißem oder schlechtem Wetter, gelegentlich eine Frau, ein Kind oder auch einen müden Mann eine Strecke weit mitnimmt, sondern auch sich selbst, und die Mühe des Stoppens ist doch nicht groß! Um die Rücksicht ist es überhaupt etwas Schönes. Unlängst habe ich ein rührendes Beispiel davon erlebt. Die Leute standen dichtgedrängt auf den Straßen, um den Führer zu sehen. Als er kam, gingen die Absperrmannschaften, Polizei und SA, in die Knie, um den Leuten den Blick freizugeben. Auch die rühmliche Ausnahme von einem »anständigen« Automobilisten ist mir schon begegnet. Ein Ehepaar ging mit dem Kinderwagen die steile Straße hinauf, die nicht wenig staubig war. Da – ein moderner Wagen kommt entgegen. Man versuchte zu fliehen, um nicht ganz eingestaubt zu werden, besonders auch der Kinder wegen, leider ohne die Möglichkeit zu haben. O Wunder! Ein vornehmer Herr grüßt und stoppt seinen Wagen. Er hat die Not der Fußgänger bemerkt. Auch so was kommt vor![112]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 107-109,111-113,115.
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