Der motorisierte Teufel

[158] An den Nerven unserer Mitmenschen sind wir alle Sünder geworden. Das größte Schuldkonto aber belastet den Motor. Vom Autobus angefangen, der breithüftig und drohend die letzten winkeligen Gassen, in denen noch die Gemütlichkeit wohnte, niederzureißen droht, bis zum Motorradfahrer, der, keck und frech wie ein Lausbub, krachend, pustend und stinkend den Verkehr unsicher macht, bedroht der motorisierte Teufel unsere Kultur wie noch nie. Das ist ein ewiges Tuten, Knarren und Wirbeln, das uns völlig hypnotisiert und, ohne daß wir's wissen, verändert. Wir hören langsam auf, Mensch zu sein, passen uns der Maschine an. Beileibe nicht sie sich uns. Wir sind noch ihr Herr, bald aber werden wir ihr nebensächlicher Bestandteil werden, wenn wir uns nicht beizeiten energisch zur Wehr setzen. Der Kampf gegen diese Zudringlichkeit gehört auch zu unseren Anstandspflichten. Wir müssen den Lärm wieder verstummen machen, die Wildlinge aller Art zurückdrängen, die alten Stätten schonen, auf denen es noch Ruhe und Andacht gibt, und zur Handarbeit zurückkehren, soweit es die Wirtschaft verträgt. Weniger Zivilisation, mehr Kultur!


Tempo! (S. 159)
Tempo! (S. 159)

Selbst muß man sich als Mensch behaupten, nicht als motorisiertes Gebilde, dem Seele und Geist verlorengegangen sind. Sport ist ein wunderbarer Ausgleich für den durch die Maschine verdrängten eigenen Einsatz der Kraft. Aber er darf nicht Selbstzweck werden, so daß der Mensch sich in ihm verliert. Er soll Mittel zum Zweck sein, Diener am Werk. Er soll ein starkes, edles, mutiges Menschengeschlecht heranziehen,nicht etwa nur beseelte Maschinen, er soll zur Harmonie zwischen Körper und Geist verhelfen, nicht zur einseitigen Muskelherrschaft. Wenn wir nur einen stärkeren Bizeps erreichen, ist nichts gewonnen. Der erste Mensch, der über mehr Geist verfügt, bringt uns dann doch irgendwie zur Strecke. Man hat einst das rein Geistige zu sehr überschätzt, so daß wir den Kontakt mit der Erde verloren haben. Jetzt dagegen neigen wir dazu, es zu gering zu schätzen, und glauben, wir könnten die Kultur rein an den Errungenschaften der Zivilisation, der Maschine, der Hygiene aufbauen. Das ist ein Irrtum, den wir seinerzeit als »Amerikanismus« selbst abgelehnt haben; heute müssen wir uns vor ihm in acht nehmen. Ewiger Wirbel ist noch lange nicht Intensität des Lebens, er kann auch einen Totentanz bedeuten. Hetztempo ist nicht Arbeitsgewinn, man muß auch manchmal Zeit verlieren können. Die Völker, die behaupten, Zeit sei Geld, haben vielleicht deshalb nur Geld geerntet anstatt Kultur. Zur Sammlung, zur Einkehr in sich selbst muß auch Zeit da sein. Jedes Genie, jedes Talent braucht, um zu reisen, Stille, sogar eine gewisse Einsamkeit. Die allzu große Menge von Eindrücken, Geräuschen, Reden und Zerstreuungen zerreißt den Menschen, macht ihn zerfahren, nervös, unstet, bis er, vom Übermaß abgestumpft, die Schwungkraft völlig verliert. Wir müssen, wie für unseren Körper, auch für unsere Seele Zeit haben.

Der Läufer von Marathon siegte nicht dank seiner Kraft, denn als er das Ziel erreicht hatte, starb er. Der Schwung seiner Seele trug ihn über seine Kräfte hin aus. So ist es mit der Kultur. Zum Sieg, zum guten Ende trägt sie nicht die körperliche Kraft, sondern die unerschöpfliche Energie der bewußten Seele. Kultur ist also eine innere Angelegenheit, die edle Haltung vor dem Leben, die Hochform des Anstandes.[161]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 158-159,161-162.
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